Die Begutachtung von Rotatorenmanschettenrupturen ist nur selten eine ganz eindeutige und klare Angelegenheit, weil sie viele Mosaiksteine in der Beweisführung der gutachterlichen Stellungnahme zusammentragen muss und nicht immer ein stimmiges Bild entstehen will. Allein die Tatsache, dass Rotatorenmanschettenläsionen auch ohne Trauma in einem bestimmten, altersabhängigen Prozentsatz auftreten, lässt sie hinsichtlich der Begutachtung nicht mit Knochenbrüchen vergleichen, die nur nach einem eindeutigen Unfall auftreten oder, wenn sie eindeutig pathologische Brüche darstellen, in der Regel anerkanntermaßen vom Unfall unabhängig sind. Diese Zusammenhänge sind sowohl dem Patienten als auch den Mitarbeitern der Versicherungsträger (Gesetzliche Berufsgenossenschaften oder Unfallkassen, zukünftig Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung: DGUV) einfach darzulegen und zu vermitteln.

Wenn dagegen, wie bei Rotatorenmanschettenläsionen möglich, eine unfallunabhängige Ruptur nicht einmal Schmerzen oder gar Funktionsausfälle verursacht hat, bis zum Zeitpunkt des versicherten Ereignisses jedenfalls, werden höchste Ansprüche an die Einschätzung und Dialektik der Gutachter gestellt. Erschwerend in der Argumentation kommt die Tatsache hinzu, dass während des Behandlungsverlaufs immer wenigstens ein Arzt von Sehnenriss und Unfallfolge gegenüber dem Patienten spricht und damit dessen Kausalbedürfnis befriedigt. Wenn diese Formulierung im MRT-Befund auftaucht, wird es schwer sein, eine andere Version der Genese der Läsion überzeugend anzubieten. Der Patient seinerseits geht immer davon aus, dass Sehnenrisse Unfallfolgen sind und vermutet in jeder andersartigen Argumentation eine einseitige Interessensvertretung des Gutachters zugunsten der Berufsgenossenschaften gegen den Versicherungsnehmer.

Hier helfen nur die Rückbesinnung auf die Fragestellungen nach den gesetzlichen Vorgaben der Begutachtung (Voraussetzungen für die Anerkennung: versicherte Tätigkeit und gesicherte Schadenswirkung) und Antworten, die sich auf aktuelle Forschungsergebnisse der annehmbar gesicherten Literatur beziehen. Im Folgenden sollen die Schritte der Begutachtung der Rotatorenmanschettenläsionen mit ihren notwendigen Voraussetzungen abgearbeitet werden.

Anatomie, Tendopathie und Pathomechanik

Die Rotatorenmanschette ist eine aus den Sehnen von 4 Muskeln zusammengesetzte (M. subscapularis, M. supraspinatus, M. infraspinatus, M. teres minor) Sehnenplatte, die am Humeruskopf vom Tuberculum minus bis zum Tuberculum majus flächig ansetzt. Ihre wesentliche Funktion liegt neben der Kraftübertragung der Einzelvektoren der Muskeln in der Zentrierung des Humeruskopfs in die Pfanne bei Bewegungen des Arms im Schulterhauptgelenk. Beim Bewegen des Humeruskopfs im Glenoid gleitet sie im subakromialen Raum, dessen Bedachung von Korakoid, Lig. coracoacromiale, Akromion und z. T. von der Unterseite des Akromioklavikulargelenks gebildet wird. Dieser Raum kann durch entzündliche (Bursitis, Arthritis), degenerative (AC-Arthrose, Exophyten) und anlagebedingte Ursachen (Form des Akromions, Os acromiale) eingeengt sein und eine Engpasssymptomatik verursachen.

Abb. 1
figure 1

Intrinsische und extrinsische Schadensanlagen der unfallunabhängigen Supraspinatussehnenläsion, a Durchblutung der Supraspinatussehne, b Akromionformen (sichtbar in Tunnelaufnahme nach Neer), c extrinsisches Impingement der Sehne bei degenerativen AC-Gelenk-Prozessen. (Aus [2]). d Röntgendiagnostik: vorbestehende chronische Veränderungen, e Abklärung eines eventuellen Vorschadens: Supraspinatustunnelaufnahme nach Neer: Traktionsosteophyt

Eine chronische mechanische Irritation der Sehnen kann deren degenerative Veränderung herbeiführen (extrinsische Tendopathie). Es kann andererseits auch durch einen degenerativen Prozess an der(n) Sehne(n) selbst zur Spontanruptur und zum Funktionsverlust (Zentrierung in die Pfanne) kommen (intrinsische Tendopathie) (Abb. 1). Der Oberarmkopf steigt dann unter das Schulterdach hoch und verursacht weitere Schäden an der Manschette (Cuff-Arthropathie). Ein isolierter degenerativer Schaden der Supraspinatussehne kann sehr gut kompensiert werden, da die Sehne in erster Linie zwischen 60° und 90° Abduktion angespannt und gebraucht und bei guter Funktion des Deltamuskels ein Ausfall nicht bemerkt wird [1].

Die am häufigsten betroffene Sehne des M. supraspinatus ist von Natur aus nicht homogen, der gelenknahe Anteil hat eine geringere Zugfestigkeit [6]. Auch ist sie anisotrop, d. h. nicht in alle Richtungen gleich belastbar. Zudem ist sie ventral kräftiger als dorsal. Sie ist gegenüber degenerativen Veränderungen besonders anfällig, weil sie eine Zone der kritischen Durchblutung aufweist, die altersabhängig zu Störungen der Gewebsstruktur und Metaplasien bis hin zu lokalen Nekrosen und Rissbildungen führen kann (intrinsische Tendopathie nach [9]).

Die übrigen Sehnen sind weniger empfindlich für intrinsische und extrinsische Veränderungen, sodass sich die Diskussion ihrer Schäden etwas einfacher gestaltet. Für den Riss des M. infraspinatus wird allerdings die Zusammenhangsfrage dann gestellt werden müssen, wenn vorbestehende Läsionen der Supraspinatussehne eine begünstigende Wirkung auf eine Rissbildung haben könnten. Wenn eine Sehne zusätzlich eine Läsion erfährt, dekompensiert der komplexe Zentrierungsmechanismus oft und wird klinisch relevant (Schmerzen, Funktionsausfälle), und es entstehen behandlungs- und evtl. rentenrelevante Zustände. Auch bei der Einschätzung dieser Frage ist es wichtig, zu wissen, dass bei einer degenerativen Ruptur die Rissbildung in regelhafter Weise von kleinen Längsrissen über zunehmende Quereinrisse erfolgt. Die Form des Risses lässt nur Rückschlüsse auf das Alter der Ruptur zu, nicht auf deren Ursache [3].

Aus epidemiologischer Sicht sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die Reißfestigkeit einer Sehne nach dem 35. Lebensjahr deutlich abnimmt und dass die Prävalenz für eine degenerative Sehnenläsion in dieser Region bei älteren Menschen zwischen 15 und 100% eingeschätzt wird. Diese Veränderung ist nicht direkt mit einer klinischen Symptomatik korreliert; d. h. trotz fehlender Beschwerdesymptomatik und Funktionseinschränkung kann eine Läsion vorhanden sein.

Geeignete Verletzungsmechanismen

Unbestritten sind Spontanrupturen der Supraspinatussehne ohne äußere Verletzung aufgrund der oben genannten Veränderungen möglich. Grundsätzlich sind nur Zugbelastungen geeignet, eine Sehnenruptur unfallbedingt hervorzurufen [10], aber auch extreme Muskelkontraktionen können sie im Ausnahmefall verursachen, allerdings erst, wenn mindestens 50% der Sehnenanteile degenerativ verändert sind. Allerdings sind hierfür nur forcierte Innenrotationen gegen Widerstand (Polizeigriff), die aktive Abduktion zwischen 60 und 90° gegen Widerstand, die passive Hyperextension des Arms (Sturz mit Festhalten am Geländer) und der Sturz auf den nach hinten ausgestreckten Arm in Frage kommende Mechanismen mit Zugentwicklung.

Geeignete Mechanismen, die eine Rotatorenmanschette auf Zug belasten, sind vordere und untere Schultergelenkluxationen. Die häufigsten Läsionen finden sich nach Luxationen entsprechend der Zugwirkung an der Supra- und Infraspinatussehne. Bei Letzteren wird ein „inneres Impingement“ mit Abscherung der Sehnen an deren Ansatz am vorderen Glenoidrand diskutiert. Ab dem 40. Lebensjahr steigt die Häufigkeit einer begleitenden Sehnenverletzung nach vorderer Schulterluxation eindeutig an und sollte demzufolge auch diagnostisch abgeklärt werden.

Als weiterer möglicher Schadensmechanismus wird die Zugbelastung der Supraspinatussehne beim Sturz auf den rückwärts ausgestreckten Arm angesehen. Durch die fehlende Überdachung der Sehne im vorderen Anteil bei dieser Armstellung sind theoretisch eine Überdehnung und Rissbildung möglich. Eine Läsion kann dagegen nicht durch den Sturz auf den nach vorne ausgestreckten Arm verursacht werden, da direkte Mechanismen der Schädigung wie „Stauchung“ oder „Quetschung“ der Sehne unter dem Schulterdach nicht möglich sind, da dieses diesem Schadensmechanismus ausweicht („recoil mechanism“ [7]) und andererseits eine Zugbelastung durch die Überdachung der Sehnen nicht stattfinden kann.

Direkte Anpralltraumen (Sturz auf die Schulter, Sturz auf harte Kante, Anpralltrauma an scharfer Kante) können eine Rotatorenmanschette nicht verletzen. Sie können allerdings Hämatome und Kontusionen der Deltamuskulatur hervorrufen, die schmerzhaft sein können.

Indirekte Mechanismen können eine Einblutung in die Bursa subacromialis und eine konsekutive Bursitis hervorrufen, die eine Impingementsymptomatik verursachen kann, umso häufiger, wenn vorbestehende Läsionen an der Supraspinatussehne deren Dämpfungsfunktion vermindern.

Diagnostik

Der D-13-Bericht ist der wichtigste Baustein für die spätere Begutachtung. In ihm sollten der Unfallhergang präzise aufgenommen und auf seine Schadensmöglichkeiten überprüft werden (die erste Angabe des Patienten ist nahezu immer zielfrei). Vorbestehende Erkrankungen sollten erfragt werden. Degenerative Veränderungen werden mit einer gezielten Untersuchung des AC-Gelenks und einer Röntgenaufnahme mit Darstellung des AC-Gelenks und des subakromialen Raums gezielt gesucht oder ausgeschlossen (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

35-jähriger Bauarbeiter nach Sturz vom Gerüst (Fall 1), a Schulterluxationsfraktur mit Tuberculum-majus-Abriss links, b MRT, eindeutig traumatische Humeruskopfluxationsfraktur mit großer Hill-Sachs-Delle und Abriss des Tuberculum majus, begleitender Nachweis einer kompletten M.-supraspinatus- und -inraspinatus-Sehnen-Läsion in sagittalen MRT-Schnittbildern, c koronare Darstellung des Subakromialraums mit retrahierter und gewellter Sehne des M. supraspinatus, zusätzlich typische degenerative Erkrankung sichtbar: Traktionsosteophyt am Akromion

Die typischen akuten klinischen Zeichen sollten dokumentiert (scharfer Schmerz mit Ausstrahlung in den Oberarm, Rupturgefühl, sofortiger Funktionsverlust für die Abduktion, Stunden später noch zunehmende Schmerzsymptomatik) und eine differenzierte Schulteruntersuchung durchgeführt werden (Jobe-Test, Lift-off-Test, Abduktionstest, LAG-Zeichen, Drop-Arm-Zeichen). Der schmerzhafte Bogen ist typisch für ein Impingementsyndrom, nicht für eine akute Rotatorenmanschettenläsion! Eine Schultersteife ist in der Regel keine Folge einer solchen [3, 5]!

Eine Untersuchung der Gegenseite komplettiert die Dokumentation, im Zweifelsfall mit vergleichenden Röntgenaufnahmen. Chronische Rotatorenmanschettenschäden treten oft beidseitig auf und zeigen sich in einem Schulterhochstand, vermehrten Sklerosierungen des Tuberculum majus und der subakromialen Fläche oder in einer AC-Gelenk-Arthrose.

Eine zeitnahe MRT-Untersuchung sollte sich anschließen. Ihre Aussagefähigkeit bezüglich des Alters und der Ausprägung der Sehnenveränderungen ist sehr hoch. Sie ist die diagnostische Methode der Wahl. Äußerst wichtig ist die Kommunikation zwischen dem Auftrag gebendem Arzt und dem Radiologen. Letzterer muss die Fragestellung [Alter der Ruptur, Ausdehnung der Läsion, Muskelverfettung (T1-gewichtete Aufnahmen verlangen, degenerative Veränderungen am AC-Gelenk)] genau kennen. Eine genetische Erklärung kann man vom Radiologen nicht verlangen, da allein mit Hilfe der MRT nicht zwischen traumatischer und degenerativer Rotatorenmanschettenläsion unterschieden werden kann. Kalkeinlagerungen in den Sehnen, Sklerosierungen und Verknöcherungen an Muskelansätzen sind allerdings schwieriger zu erfassen, weshalb man auf eine Röntgenuntersuchung nicht verzichten kann.

Abb. 3
figure 3

55-jähriger Patient (Fall 2), vordere untere Schulterluxation, Pfeile auffällige Sehnenanteile in den transversalen und koronaren MRT-Bildern

Abb. 4
figure 4

Waldarbeiter (Fall 3), a a.-p. Röntgenbild der rechten Schulter mit Sklerosierungen am Ansatz der Supraspinatussehne (mögliche Verschlimmerung der Schadensanlage?), b MRT, Massenruptur der Manschette mit Retraktion der Sehne bis 2 cm sowie beginnende Muskelverfettung in T1-Gewichtung

Abb. 5
figure 5

36-jähriger Dachdecker (Fall 4), a Röntgen nach Refixation der Supraspinatussehne, b intraoperativ inkomplette gelenkseitige SSS-Läsion, Infiltration positiv

Abb. 6
figure 6

61-jährige Patientin (Fall 5), a unauffällige Röntgenuntersuchung, b MRT-Aufnahmen mit Traktionsosteophyt am Akromion mit extrinsischer Tendopathie und akromionseitiger Partialläsion der Supraspinatussehne

Fallbeispiele

Als klassisches Beispiel mit eindeutiger traumatischer Genese der funktionellen Ruptur kann der knöcherne Ausriss der Sehnen am Tuberculum majus dienen. Dies ist jedoch eine seltene Verletzung und soll daher hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Typischer ist der Fall einer Ruptur der Supra- und Infraspinatussehne nach einer vorderen, unteren Schulterluxation. Diese kann als „einfache“ Luxation oder als Luxationsfraktur in Erscheinung treten.

Fall 1 – Luxationsfraktur mit Abriss des Tuberculum majus

Der 35-jährige Patient wies eine Humeruskopfluxationsfraktur mit großer Hill-Sachs-Delle und Abriss des Tuberculum majus auf. Begleitend wurde eine komplette M.-supraspinatus- und -infraspinatus-Sehnen-Läsion im MRT in den transversalen Schnitten nachgewiesen. Die koronare Darstellung des Subakromialraums desselben Patienten zeigte die retrahierte und gewellte Sehne des M. supraspinatus ohne Muskelverfettung. Allerdings wurde zusätzlich eine typische degenerative Erkrankung, ein Traktionsosteophyt am Akromion, sichtbar (Abb. 2).

Begutachtung

Der Traktionsosteophyt ist bei der Beurteilung der Entstehung der Ruptur im vorliegenden Fall zwar erwähnenswert, aber nicht relevant, da der Unfall maßgeblich für die Entstehung der Verletzung war und man nicht davon ausgehen kann, dass die Ruptur ohne den Unfall in absehbarem Zeitabstand und in ähnlicher Ausprägung entstanden wäre. Sämtliche funktionellen Folgen sind bei zuvor symtomfreiem Zustand Unfallfolge.

Fall 2

Der 55-jährige Patient zog sich bei einem Wegeunfall bei einem Fahrradsturz eine Schulterluxation zu. Nach deren Reposition erfolgte in der zeitnahen MRT-Darstellung der eindeutige Nachweis einer frischen, kompletten und isolierten Supraspinatussehnenruptur ohne Atrophie des Muskelbauchs (Abb. 3). Es wurden keine weiteren wesentlichen Schadensanlagen oder Schäden an der betroffenen Schulter gefunden, das Erkrankungsverzeichnis der Krankenkasse war leer.

Intraoperativ wurde eine eindeutig frische Läsion der Sehne mit Dehiszenz von 1 cm vom Tuberculum majus, die ganze Sehnenbreite des M. supraspinatus betreffend, gesehen. Nach Naht derselben kam es zur vollständigen Wiederherstellung der Funktion.

Fall 3

Er erforderte eine etwas differenziertere Betrachtungsweise. Ein 57-jähriger Waldarbeiter war wegen verschiedentlich leichterer Beschwerden in der rechten Schulter in Behandlung. Zudem wurde er wegen eines HWS-Syndroms behandelt. Dokumentiert war nach der letzten Therapiemaßnahme eine Abduktion bis 90° möglich. Arbeitsfähigkeit im Beruf wurde wiederhergestellt.

Bei der Arbeit mit der Kettensäge fiel dem Mann ein schwerer Ast auf den abduzierten Arm und verursachte eine starke Innenrotation gegen den Widerstand des Patienten, der einen Aufschlag des Asts auf seinen Körper verhindern wollte. Er gab sofortige Schmerzen mit Ausstrahlung in den Arm an, es bestand eine Pseudoparalyse. Nach dem Wochenende konsultierte er den D-Arzt. Im Untersuchungsbefund waren Abduktion bis 40° und Anteversion bis 70° möglich. Das Röntgenbild der rechten Schulter a.-p. zeigte eine vermehrte Sklerosierung am Tuberculum majus und an der Unterseite des Akromions, in der axialen Aufnahme ergaben sich Hinweise auf Verkalkungen im Sehnenansatz (Abb. 4 a). Es fanden sich keine Hinweise auf eine Omarthrose, das AC-Gelenk war auf den Aufnahmen unauffällig. Es wurden keine Zielaufnahmen angefertigt.

Die Behandlung erfolgte zunächst konservativ. Nach 4 Wochen stellten sich keinerlei Funktionsverbesserung, aber eine Beschwerdelinderung ein. Daraufhin veranlasste der D-Arzt eine MRT-Aufnahme. Diese zeigte eine Massenruptur der Manschette mit Retraktion der Sehne bis 2 cm sowie eine beginnende Muskelverfettung in der T1-Gewichtung (Abb. 4 b).

Begutachtung

Die Befunde wurden folgendermaßen interpretiert:

  • Vorbestehende, behandlungsbedürftige Insertionstendopathie mit intrinsischer Komponente bei deutlicher Funktionseinschränkung der rechten Schulter; durch den Unfall Eintritt einer Rotatorenmanschettenmassenruptur bei geeignetem Mechanismus und Funktionsverschlechterung; rekonstruierbarer Befund im MRT

  • Therapie: Offene Rotatorenmanschettennaht bei adaptierbaren Sehnenenden

  • Ausheilungsbefund: Abduktion 80°, Anteversion 120°

  • MdE 10% bei vorbestehender Bewegungseinschränkung

Fall 4

Der zum Unfallzeitpunkt 36-jährige Dachdecker streckte bei einem Sturz den rechten Arm nach vorne aus, um sich zu schützen. Danach kam es zu einer sofortigen Beschwerdesymptomatik und einer starken Bewegungseinschränkung im Schultergelenk. Vorausgegangen waren im Alter von 16 Jahren eine Schulterluxation und mit 18 Jahren eine Operation nach Eden-Hybinette (privater Unfall). Bis Mitte 2006 war der Patient beschwerdefrei mit einer geringen Außenrotations- und Abduktionseinschränkung von 10°, seit Mitte 2006 bestand eine Engpasssymptomatik. Nach dem Unfall stellte er sich beim Hausarzt, anschließend innerhalb 1 Woche beim D-Arzt vor.

Im Röntgenbild war eine Omarthrose bei Zustand nach Eden-Hybinnette-Stabilisierung erkennbar, im MRT wurde eine kompletten Supraspinatussehnenruptur mit 1 cm Retraktion nachgewiesen. Dieser Befund wurde intraoperativ bestätigt (Abb. 5).

Nach Refixation der Sehne mittels Knochenanker ergaben sich im Endbefund eine Abduktion bis 130°, eine Anteversion bis 160° und eine Außenrotationseinschränkung von 20°.

Begutachtung

Der Unfallmechanismus war nicht geeignet, eine gesunde Sehne zu zerreißen. Durch die vorausgegangenen Luxationen, die einer Stabilisierungsoperation bedurften, kam es nach dem privaten Unfall zu einer Sehnenläsion, die durch das versicherte Ereignis manifest wurde. Durch das versicherte Ereignis kam es lediglich zu einer Zerrung der Schulter, die bei vorbestehendem Schaden eine Verschlechterung der Funktion bedingte. Es trat eine vorübergehende Verschlimmerung der Funktionseinschränkung bis zum Behandlungsende ohne relevante MdE auf. Die Sehnenruptur wurde nicht als Unfallfolge gewertet. Die Behandlung erfolgte für 3 Wochen zu Lasten der Berufsgenossenschaft unter der Annahme einer Schulterzerrung. Die weiteren Behandlungskosten gehen zu Lasten der Krankenkasse.

Fall 5

Dieser Fall war einfacher zu lösen. Die 61-jährige Patientin hatte nach eigener Erinnerung bis dato keinerlei Beschwerden in der rechten Schulter gehabt. Beim Anheben eines Stapels Papierakten im Büro (etwa 8 kg) von einem Schreibtisch verspürte sie einen stechenden Schmerz in der rechten Schulter. Nach einigen Tagen der Selbstbehandlung suchte sie ihren Hausarzt auf, welcher keinen Arbeitsunfall diagnostizierte und eine funktionelle Behandlung einschlug. Eine wesentliche Einschränkung der Schulterbewegung war dann Anlass zur Vorstellung beim D-Arzt. Das von ihm nach unauffälligem Röntgenbild veranlasste MRT zeigte einen Traktionsosteophyten am Akromion mit einer extrinsischen Tendopathie und akromionseitiger Partialläsion der Supraspinatussehne (Abb. 6).

Interpretation und Begutachtung

Die vorbestehende Schadensanlage Akromionosteophyt verursachte eine extrinsische, asymptomatische Tendopathie, die bei einer alltäglichen Gelegenheit zur inkompletten Ruptur mit Impingementsymptomatik führte. Ein Arbeitsunfall hat nicht vorgelegen. Trotz zurückbleibender Funktionseinschränkung kann eine MdE nicht resultieren.

Begutachtung

Grundsätzlich bezieht sich eine Begutachtung immer auf den Funktionszustand eines Gelenks oder einer Extremität vor dem versicherten Unfall. Das bedeutet, dass bei vor dem Unfall freier und nach dem Unfall eingeschränkter Funktion eine MdE resultiert, wenn sie auf einen nachgewiesenen Unfallschaden zurückgeht. Diese ist nicht nur rentenrelevant, wenn sie 20 vom Hundert erreicht, sondern kann bei gegebener anderweitiger Unfallbeeinträchtigung den Umstand einer Stützrente begründen, wenn sie mit 10 vom Hundert beziffert wird. Werte unter 10% gelten als nicht wesentlich.

Im Einzelfall kann das bedeuten, dass eine Kontusion nach direktem Trauma, die keine morphologisch nachweisbaren Folgen an der Rotatorenmanschette hinterlassen hat, auch bei vorbestehender Schadensanlage eine MdE nach sich ziehen kann. Dies könnte bei einer nachgewiesenen Einblutung in die Bursa subacromialis mit sich anschließender chronischer, therapieresistenter Bursitis und Funktionseinschränkung theoretisch der Fall sein. Allerdings wird dieser Vorgang die extreme Ausnahme sein, denn die Gesetzgebung verlangt den Nachweis einer Verletzungsfolge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit und damit eine lückenlose Beweisführung in der Argumentationskette (Conditio sine qua non; haftungsausfüllende Kausalität). Umgekehrt formuliert bedeutet dies: Wenn kein unfallbedingter Schaden nachgewiesen werden kann, kann eine Rente nicht begründet werden.

Der nachgewiesene Unfallschaden kann die alleinige Ursache eines Funktionsschadens oder eine wesentliche Ursache zweier oder mehrerer Ursachen für einen Schaden darstellen. Er muss einen wesentlichen Anteil haben, was bedeutet, dass ohne sein Mitwirken der Schaden in seiner festgestellten Art undenkbar wäre und innerhalb 1 Jahres nicht eingetreten wäre.

Der Schadensanteil muss nicht die Hälfte des Gesamtschadens erreichen, in der Regel werden 33,3% als Minimum angesetzt. Wird er geringer eingeschätzt, ist die Wesentlichkeit nicht mehr gegeben und der gesamte Schaden wird als unfallunabhängig bewertet.

Im Einzelfall kann die Entscheidung bei anderen Teilursachen (vorbestehende Omarthrose, AC-Gelenk-Arthrose) sehr schwierig sein; der Gesamtschaden muss sich immer am vor dem Unfall bestehenden Funktionszustand messen und darf nur hierauf bezogen werden. Der Spontanverlauf der vorbestehenden Erkrankung muss nach dem Erfahrungswert mit eingerechnet werden.

Je nach vorbestehendem Schaden und Verlauf können eine zeitlich begrenzte, vorübergehende Verschlimmerung oder eine richtungweisende bzw. dauerhafte Verschlimmerung festgestellt werden (bedingt durch eine unfallschadenbedingte Ruhigstellung, Operation oder z. B. eine Rissvergrößerung).

Ohne nachgewiesenen Vorschaden ist der Gesamtschaden bei nachgewiesenem Unfallschaden auch bei einer Schadensanlage voll und ganz unfallbedingt, wenn die Ausprägung der Anlage so gestaltet ist, dass ein ähnlicher Schaden nicht innerhalb eines Jahres zu erwarten gewesen wäre.

Die im Falle einer Rotatorenmanschettenruptur zu erwartenden MdE-Einschätzungen liegen in der Regel bei 10% (passiv freie Beweglichkeit, Anteversion 120°, Abduktion 120°) und erreichen 20 v. H. erst bei einer aktiven Bewegungseinschränkung unter den angegebenen Werten und einer passiven Bewegseinschränkung von mehr als 20% [8]. Zu berücksichtigen sind neben der Beweglichkeit insbesondere auch die Kraftentwicklung, Geschicklichkeit und die Dauerbelastbarkeit des Schultergelenks.

Nach den allgemein gültigen Bewertungsmaßstäben der DGUV kann eine MdE von 30 v. H. erst bei einer aktiven Bewegungseinschränkung bis 60° Abduktion und 60° Anteversion bei passiver Beweglichkeit bis 90° eingeschätzt werden. Auch die Cuff-Arthropathie fällt in dieses Ausmaß der Bewertung. Die Schultereinsteifung, schwerste Omarthrose und Infektinstabilität können eine MdE von 40 v. H. bedingen.

Im Einzelfall müssen besondere Umstände, z. B. Einschränkungen am gleichseitigen Ellenbogen oder an der gegenseitigen Schulter, mit in die Einschätzung einbezogen werden. Bei vorbestehenden gleichseitigen Amputationen können entsprechend geringere Funktionsverluste (Vergleich zur Ausgangssituation) zu ermitteln sein.

Tab. 1 Persönlicher Score für die Zusammenhangsbegutachtung der Rotatorenmanschette

Zusammenhangsbegutachtung

Bei der Begutachtung für das 1. Rentengutachten oder die Dauerente sind die Ausgangslagen (versicherter Unfall, nachgewiesener Unfallschaden) klar und nicht hinterfragt. Es wird lediglich nach unfallunabhängigen Erkrankungen gefragt. Eine Zusammenhangsbegutachtung erfolgt in der Regel auf Veranlassung des Beratungsarztes, wenn die Verhältnisse nicht so klar sind oder Zweifel an der unfallbedingten Entstehung der eingetretenen Schäden nahe legen. Im Zusammenhangsgutachten müssen deshalb wie in einem Indizienprozess die Tatsachen, die für die Verletzungsgenese sprechen, und diejenigen, die gegen sie sprechen, unvoreingenommen aufgerollt und gegenseitig aufgewogen werden. Die vorgenannten, im Text aufgeführten Umstände für die Begutachtung werden als Voraussetzung benötigt. Im Speziellen müssen die Schadensanlagen, die Vorschäden, der Unfallhergang mit seinem Mechanismus, der klinische Verlauf, der diagnostische Weg und die intraoperativen und histologischen Befunde entsprechend der aktuellen Literatureinschätzung bewertet werden.

Es empfiehlt sich für den Gutachter, eine Checkliste mit Pro und Kontra für eine unfallbedingten Schaden anzulegen und nach Auflistung der Tatsachen zu einer Wertung zu kommen (Tab. 1). Diese sollte im Gutachten begründet werden, um dem Vorwurf einer einseitigen Bewertung zuvorzukommen. Die Begründung sollte so formuliert werden, dass der Patient sie sprachlich verstehen und nachvollziehen kann. Ein Verweis auf die Begutachtungstabellen der gängigen Begutachtungsliteratur erlaubt sowohl dem Patienten als auch dem Sozialrichter einen objektiven Vergleich der Einschätzung der MdE.