Seit der ersten konkreten Erwähnung des Begriffs Big Data in der biomedizinischen Forschung vor etwa zehn Jahren [5] hat sich die Versorgungsforschung und Qualitätsentwicklung grundlegend gewandelt. Heutzutage gilt der Beruf des Datenanalysten als „sexiest job of the 21st century“ [4] und beansprucht die sogenannte Real-World-Evidenz (RWE), also die Darstellung der Versorgungsrealität mit Massendatenquellen, bereits einen festen Platz im komplexen Fundament der evidenzbasierten Medizin. Aktuell erfahren auch vermehrt sog. „pragmatic trials“, z. B. als randomisierte Registerstudien oder sogar auf der Basis von Routinedaten zunehmendes Interesse [3]. Dennoch muss dieser Platz gegenüber der hochwertigeren konventionellen randomisierten Evidenz täglich neu behauptet und teilweise erst erstritten werden. Kritiker von RWE betonen zu Recht und wiederholt die Gefahr der Generierung falsch-positiver Ergebnisse, insbesondere bei der retrospektiven Analyse von Real-World-Datenquellen [1]. Allerdings bleibt die Planung und Durchführung hochwertiger randomisierter und kontrollierter Studien (RCT) ausgesprochen herausfordernd, was sicher nicht nur auf die interdisziplinäre Gefäßmedizin beschränkt ist, aber aufgrund des inhomogenen Spektrums an Patienten, Komorbiditäten und Behandlungen in diesem Fachbereich besonders ins Gewicht zu fallen scheint. Und so stehen wir heute vor dem Dilemma, dass die offensichtlich unzureichende Evidenzbasis [6] aus der Sicht der Kritiker nur durch zahlreiche hochwertige RCT verbessert werden könnte. Dagegen erscheint es einfacher, schneller und kostengünstiger, vermehrt auch auf RWE zurückzugreifen [2].

Real-World-Evidenz hat bereits einen festen Platz in der evidenzbasierten Medizin

Der Verdurstende fragt schließlich nicht nach Wein, er fragt nach Wasser. Anders als bei den RCT, bei der die federführenden Wissenschaftler primär durch die wissenschaftliche Reputation und die Datenlieferanten durch eine angemessene Aufwandsentschädigung belohnt werden, entsteht RWE dagegen zumeist im Hintergrund. Als Beispiel seien prospektive Registerdaten der Qualitätssicherung genannt, die in der Regel existieren, weil engagierte klinisch tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Versorgungseinrichtungen diese erheben und an die jeweiligen Register übermitteln. Und das, bis auf wenige Ausnahmen, zumeist ohne jede wissenschaftliche oder finanzielle Entschädigung. Der Aufwand ist dabei mitunter enorm und die Validität der erhobenen Daten sinkt respektive, je breiter der Graben zwischen akademischer Theorie und Versorgungsrealität wird. Bei den administrativen Daten (z. B. Routinedaten), die primär zur Kalkulation der Erlöse erhoben werden, sieht es ähnlich aus. Hier wird die Validität der Daten mitunter sogar grundsätzlich infrage gestellt, weil der sekundäre Verwertungszweck (Forschung, Qualitätssicherung) vom primären Erhebungszweck (Abrechnung von Leistungen) abweicht. Wie viel Realität steckt also in der so gesammelten Real-World-Evidenz? Es sollte gleichermaßen eine gemeinsame Aufgabe von Universitätsklinika und Krankenhausträgern, Fachgesellschaften, Berufsverbänden und Politik sein, pragmatische Lösungen hierfür zu entwickeln. In Zeiten der Leistungsverdichtung und des drohenden Personalmangels in gefäßmedizinischen Versorgungseinrichtungen kann die zusätzliche und teilweise redundante Dokumentationslast nicht ausschließlich „pro bono publico“ von den Ärztinnen und Ärzten geleistet werden; und das gilt selbstverständlich gleichermaßen für universitäre sowie nicht universitäre Einrichtungen. Sinnvoll ist nur eine für alle Beteiligten nachvollziehbare und validierte Datenerhebung, die eine Abbildung der interdisziplinären Gesamtheit der Versorgungslandschaft ermöglicht und dabei den Prinzipien der Datensparsamkeit folgt. Das aktuelle Themenheft hat das Ziel, einen Einblick in die moderne datenbasierte Versorgungsforschung und Qualitätsentwicklung zu ermöglichen. Maarit Venermo (Helsinki, Finnland) und Jack Cronenwett (Dartmouth, USA), Co-Chairs des International Consortium of Vascular Registries (ICVR), beschreiben, wie die derzeit führende transkontinentale Registerkooperation der Gefäßmedizin entstanden ist. Meine Arbeitsgruppe koordiniert dabei innerhalb des ICVR die Projekte zur peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (PAVK) und hat eine Übersicht zu Big Data und Real-World-Evidenz (RWE) auf diesem Gebiet zusammengestellt. Art Sedrakyan (New York City, USA), renommierter Versorgungsforscher und Direktor des Medical Device Epidemiology Network (MDEpiNet), erläutert uns außerdem die Vision eines globalen Forschungsnetzwerkes zur Evaluation von RWE zur Durchführung von RWE-Studien auf dem Gebiet der Medizinprodukte. Birgitta Sigvant, Kevin Mani und Martin Björck (alle Uppsala, Schweden) berichten von der 30-jährigen Erfolgsgeschichte des SwedVasc-Registers und Helmut Nüllen (Dresden, Deutschland) gibt uns einen umfassenden Einblick in die RWE bei der Behandlung von Venenerkrankungen.

Viel Spaß beim Lesen!

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Dr. C.-A. Behrendt