Im Oktober 2017 hat das Weiße Haus in Washington die Abhängigkeit von „opioid pain killers“ zum nationalen Notstand in den USA erklärt. Alle drei Wochen, rechnete eine Expertenkommission vor, würde Amerika einen 11. September erleben, gemessen an den Todesfällen durch opioidhaltige Analgetika [30]. Wie zu erwarten wurde das Thema der Opioidepidemie auch von der deutschen Presse aufgenommen mit Überschriften wie „In Deutschland droht eine Opioid-Epidemie wie in den USA“ [8]. Darin erklärte ein deutscher Schmerzmediziner: „Der Pro-Kopf-Verbrauch von Opioiden ist in Deutschland bereits erschreckend hoch und unterscheidet sich kaum noch von dem in den USA.“ Auch der Deutsche Bundestag hat sich am 15.04.2019 auf eine kleine Anfrage der FDP mit einer möglichen Opioidkrise in Deutschland auseinandergesetzt [5].

Die unkritische Übertragung der Opioidkrise und ihrer Konsequenzen in den USA auf Deutschland birgt Risiken für die weitere Versorgung deutscher Patienten mit chronischen Schmerzen. Es ist daher notwendig, die Opioidkrise in den USA und die Opioidverschreibungen in Deutschland differenzierter zu betrachten sowie die Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem deutschen Gesundheitssystem deutlich zu machen.

In den USA kam es zu einem parallelen Anstieg von Opioidverordnungen und opioidassoziierten Todesfällen, der sogenannten Opioidkrise oder Opioidepidemie [19]. In der ersten Phase dieser Krise von 2000 bis 2005 lief bei später insbesondere Heroin- und Cracksüchtigen die Erstexposition zu Opioiden über Oxycodon, welches von skrupellosen „pain doctors“ großzügig und mit unkritischer Indikation verschrieben wurde. Zeitgleich unterstützte die aggressive Bewerbung der Herstellerfirma bei Patienten und Ärzten diese unkritische bis zum Teil fahrlässige Haltung gegenüber der Verordnung von Opioiden. Purdue Pharma wies im Beipackzettel von Oxycontin® darauf hin, dass 40 % des Oxycodons schnell freigesetzt wird. Die Opioidkrise entstand aber nicht primär deshalb, weil nach medizinischen Regeln behandelte und regelmäßig betreute Schmerzpatienten süchtig wurden, vielmehr erkannten bereits Substanzabhängige und Risikopersonen für eine Substanzabhängigkeit, zu denen auch einige Patienten mit chronischen Schmerzen und psychischer Komorbidität zählen, diese „legale“ Beschaffungsmöglichkeit für sich [20]. Die zweite und aktuelle dritte Phase der Epidemie sind von einer Stabilisierung der Verordnungsmengen, einem leichten Rückgang der Todesfälle im Zusammenhang mit der legalen Opioidverordnung gekennzeichnet sowie einem Anstieg der Todesfälle durch die illegale Einnahme von Heroin und zuletzt Fentanyl und Fentanylderivaten [15].

Trotz dieser veränderten Dynamik der Opioidkrise sind die USA von der unkritischen Verwendung von Opioiden bei allen Formen von nichttumorbedingten Schmerzen (CNTS) in das Gegenteil verfallen. Schmerzmedizinische Meinungsbildnerinnen wie Jane Ballantyne empfehlen in den USA, dass Opioide bei chronischen Rückenschmerzen auf keinen Fall eingesetzt werden sollen [1]. Die gesundheitspolitischen Folgen der Opioidkrise wirken sich mittlerweile nicht nur in den USA auch auf Bereiche aus, in denen eine Behandlung mit Opioiden medizinisch unkritisch, ethisch notwendig und unverzichtbar ist. Von der Weltgesundheitsorganisation wurden z. B. im Juni 2019 zwei Leitlinien zur Ausgewogenheit von nationalen Maßnahmen zum Umgang mit kontrollierten Substanzen und zur Schmerztherapie bei Kindern zurückgezogen, nachdem zwei US-Kongressabgeordnete der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgeworfen hatten, dass die Erstellung dieser Leitlinien durch die Opioidhersteller beeinflusst worden sei. Durch die Rücknahme dieser Leitlinien ist die Palliativversorgung zumindest in den Entwicklungsländern gefährdet. In diesen Ländern liegt aber eine andere Opioidkrise vor, nämlich der erschwerte oder fehlende Zugang zu Opioiden für Patienten mit akuten Schmerzen oder Palliativpatienten, die sie dringend benötigen [17].

Es ist zutreffend, dass Deutschland zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch von Opioiden weltweit gehört [12]. Laut Arzneiverordnungsreport kam es von 2009 bis 2016 zu einem Anstieg der Gesamtverordnungen von Opioiden von 9 %. Die Gesamtverordnungen haben in den Jahren 2016–2018 nicht mehr zugenommen [2]. Ob eine Unter‑, Fehl- oder Überversorgung vorliegt, lässt sich aus den Verschreibungen nicht sicher ableiten, da nicht zwischen Akutschmerztherapie, palliativen Indikationen und nichttumorbedingten Schmerzen unterschieden wird. Aussagen zur individuellen Dosierung und Länge einer Behandlung können aus den Daten ebenfalls nicht abgeleitet werden. In den Jahren 2006, 2009 und 2010 entfielen etwa zwischen 66 und 77 % der Summen der jährlich verordneten „opioid defined daily doses“ bei gesetzlichen Krankenkassen auf nichttumorbedingte Schmerzsyndrome [26, 29]. Der Prozentsatz der deutschen Bevölkerung unter einer Langzeitanwendung (mindestens eine Verschreibung von Opioiden pro Quartal in mindestens drei aufeinanderfolgenden Quartalen) bei nichttumorbedingten Schmerzen (CNTS) ist hoch in Deutschland. 1,3 % der Versicherten der BEK mit CNTS erhielten im Jahr 2012 eine Langzeitopioidtherapie („long-term opioid therapy“ [LTOT]; [21]). Im Jahr 2014 erhielten 0,8 % der Versicherten mit nichttumorbedingten Schmerzen von 69 deutschen gesetzlichen Krankenkassen (standardisiert bzgl. Alter und Geschlecht auf die allgemeine deutsche Bevölkerung) eine LTOT [13]. Die Daten der deutschen Krankenkassen ergeben Hinweise auf eine mögliche Fehlversorgung mit Opioiden bei den Diagnosen „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ und „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ und eine missbräuchliche Verwendung der rezeptierten Opioide durch diese Patientengruppen [14]. Die Anzahl der Personen mit mindestens einer Opioidverordnung im Jahr ebenso wie die Anzahl der Personen mit einer missbräuchlichen Verwendung der verordneten Opioide liegt in Deutschland jedoch um den Faktor 10 niedriger als in den USA [10, 26]. Trotz zunehmender Verschreibungen von opioidhaltigen Analgetika ist die Anzahl Opioidabhängiger mit Kontakt zum Drogenhilfesystem in Deutschland seit 20 Jahren konstant [18]. Auch gab es in den letzten Jahren keinen Anstieg von Drogentoten in Deutschland. Im Jahr 2017 wurden 1272 Drogentote berichtet (davon nur 84 Todesfälle durch opioidbasierte Arzneimittel; [7]), entsprechend 1,5 Drogentoten auf 100.000 Einwohner. Die Anzahl der Drogentoten in Deutschland ist damit um den Faktor 14 niedriger als in den USA (70.200 Drogentote in 2017 = 21,4 Drogentote auf 100.000 Einwohner). Aktuelle Studien aus Deutschland kommen deshalb zu dem Schluss, dass es in Deutschland keine Opioidepidemie gibt [18, 23, 25]. Daher ist der Bundesregierung zuzustimmen, dass es in Deutschland keine Opioidepidemie gibt. Als Grund führt die Bundesregierung die deutlich restriktiveren Regelungen im Betäubungsmittelrecht in Deutschland an [5]. Aus unserer Sicht sind jedoch noch weitere Unterschiede zwischen den USA und Deutschland wesentlich. Folgende Mitursachen für die Opioidkrise in den USA wurden von US-amerikanischen Autoren benannt [27]:

  • Fehlender Zugang zu psychosozialen Diensten und interdisziplinärer Schmerztherapie

  • Einfachere Verschreibung von Opioiden und ihre Vergütung durch Krankenkassen im Vergleich zu anderen Verfahren der Schmerztherapie

  • Starke Anspruchshaltung der Patienten auf Schmerzlinderung (Schmerz wurde von den schmerzmedizinischen Fachgesellschaften als fünftes Vitalzeichen propagiert)

Neuere Untersuchungen aus den USA zeigen, dass nicht nur die Zahl der Opioidverordnungen, sondern auch soziale Faktoren (soziales Kapital) und ökonomische Faktoren (Erwerbstätigkeitsquote) die Zahl der opioidbedingten Todesfälle beeinflussen [16]. Der Gebrauch von Opioiden wurde in den USA zum Zufluchtsort von Menschen vor körperlichen und seelischen Traumata, sozialer Benachteiligung und Hoffnungslosigkeit. Das blinde Vertrauen in Opioide wurde als Sinnbild für das Gesundheitssystem der USA bezeichnet, in dem schnelle und vereinfachende Antworten auf komplexe körperliche und geistige Gesundheitsbedürfnisse bevorzugt werden [4].

Im Gegensatz zu den USA haben deutsche Patienten und Ärzte freien Zugang zu einer interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie. Die nicht unerheblichen Kosten werden in Deutschland von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen übernommen und müssen nicht wie in den USA von den betroffenen Patienten selbst gezahlt werden. Direkte Werbung für Medikamente ist in Deutschland verboten. Bereits einige Jahre vor der Publikation der nationalen Leitlinien in den USA im Jahr 2016 [9] und in Kanada im Jahr 2017 [3] hat die Deutsche Schmerzgesellschaft im Jahr 2009 eine S3-Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nichttumorbedingten Schmerzen (LONTS) koordiniert, die zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Opioiden aufgefordert hat. Die zurückhaltenden Empfehlungen zur Langzeitanwendung von Opioiden in dieser ersten Version von LONTS [24] führten sogar dazu, dass den Autoren von Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin eine „gewisse Opioidphobie“ unterstellt wurde [22]. In der Überarbeitung von LONTS wurden 2015 – im Gegensatz zu den nordamerikanischen Leitlinien, welche chronische nichttumorbedingte Schmerzen pauschal abhandeln [3, 9] – Kontraindikationen und potenzielle Indikationen definiert. Auch im Falle potenzieller Indikationen wurden eindeutige „Stopp-Regeln“ wie Nichterreichen der vordefinierten Therapieziele, intolerable therapierefraktäre Nebenwirkungen und Hinweise auf missbräuchliche Verwendung definiert [11]. Weiterhin wurde anhand einer Metaanalyse von randomisierten Vergleichen von Opioiden mit nichtopioidhaltigen Analgetika herausgearbeitet, dass es keine „opioidpflichtigen“ nichttumorbedingten Schmerzen gibt [28]. Die zweite Aktualisierung von LONTS befindet sich aktuell in der öffentlichen Kommentierung und wird voraussichtlich im Frühjahr 2020 veröffentlicht werden. Sie fasst potenzielle Indikationen noch enger und enthält ein eigenes Kapitel zur Diagnostik und Therapie des missbräuchlichen und abhängigen Gebrauchs von aus medizinischer Indikation verordneten Opioiden. Dieses neue Kapitel wurde eng mit der parallel laufenden Leitlinie der psychiatrischen Fachgesellschaften zur Medikamentenabhängigkeit abgestimmt [6].

Treten wir gemeinsam dem Überschwappen der US-amerikanischen Opioidepidemie auf Deutschland entgegen: Stellen wir die Indikation von Opioiden bei nichttumorbedingten Schmerzen kritisch und als Teil eines multimodalen Therapiekonzepts. Überprüfen wir regelmäßig Wirksamkeit und Nebenwirkungen (einschließlich missbräuchlicher Verwendung). Finden wir zum Nutzen unserer Patienten einen Mittelweg zwischen den amerikanischen Extremen der Glorifizierung und Dämonisierung von Opioiden bei chronischen nichttumorbedingten Schmerzen. Widerstehen wir der „America-First-Strategie“ der USA auch beim Umgang mit Opioiden.

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Prof. Dr. Winfried Häuser

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Prof. Dr. Frank Petzke

figure c

Prof. Dr. Lukas Radbruch