„Alter ist ein Analgetikum“, „alt ist man (erst), wenn man Schmerzen hat“.

Darum wird sich der Schwerpunkt dieser Ausgabe nur indirekt kümmern, indem die Beiträge den Schmerz bei Älteren einer sehr differenzierten Betrachtung unterziehen. Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mit der Definition, wann man alt ist (Infobox 1), ihre Schwierigkeiten. Sie sieht für die meisten entwickelten Länder als Definition des Älteren („elderly“) oder älteren Menschen („older person“) das chronologische Alter ab dem 65. (bzw. 60.) Lebensjahr an, was auch heute noch dem ungefähren Rentenalter in vielen Ländern entspricht, sie sieht aber auch, dass dies beispielsweise nicht die Situation vieler afrikanischer Länder widerspiegelt [10].

FormalPara Infobox 1

Alterskategorien nach Weltgesundheitsorganisation [10]

  • 60–75 Lebensjahre: älterer Mensch

  • 76–90 Lebensjahre: alter Mensch

  • 91–100 Lebensjahre: sehr alter oder hochbetagter Mensch

  • > 100 Lebensjahre: langlebiger Mensch

Verschiedene Definitionen von Hochaltrigkeit nach [9]

  • > 80 Lebensjahre

  • > 90 Lebensjahre

  • Lebensalter, zu dem 50 % der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs verstorben sind (Beispiel: In den Jahren 1997/99 erreichte die Hälfte der Frauen das 84. Lebensjahr, die Hälfte der Männer das 78. Lebensjahr.)

  • „Inaktive“ Lebensphase: im Gegensatz zu jenem Anteil an der Lebenserwartung, der mit einer hohen Selbstständigkeit in den Aktivitäten des Alltagslebens verbracht wird

Funktionelle Einteilung des Seniums

  • Unabhängig lebende Senioren („go goes“)

  • Hilfsbedürftige Senioren („slow goes“)

  • Pflegebedürftige Senioren („no goes“)

In diesen Ländern entspricht häufig das „kalendarische“ Alter nicht dem „biologischen“ Alter – die Menschen sind biologisch älter als kalendarisch. In den entwickelten Ländern ist eine entgegengesetzte Entwicklung zu beobachten – die Menschen sind kalendarisch älter als biologisch. Auch bei den Vereinten Nationen besteht kein numerisches Kriterium für das Alter, jedoch wird ein Alter von 60  Jahren als Grenzwert für die ältere Bevölkerung akzeptiert. In Großbritannien erklärte 1875 der Friendly Societies Act sogar alle Menschen ab dem 50. Lebensjahr für alt [7].

Nach Ansicht von Älteren selbst ist das Alter stark mit der eigenen Gesundheit verknüpft, eine Auffassung, die sich seit mehr als 40 Jahren wissenschaftlich belegen lässt [1, 4, 5]

So haben viele in der Medizin schon lange das kalendarische Alter als wichtiges Kriterium zur Modifizierung der Diagnostik und Behandlung von Patienten verlassen. An dessen Stelle rückt der geriatrische Patient (Infobox 2), der in Abhängigkeit von der Abnahme seiner kognitiven, physischen und emotionalen Funktionsreserven, die mit zunehmendem Alter sehr unterschiedlich ausfällt, durch Stressoren wie Krankheit und Veränderungen des sozialen Milieus seine Selbstständigkeit verlieren kann bzw. bereits in Abhängigkeit lebt. Manchmal wird der Begriff Gebrechlichkeit („frailty“) mit der irreversiblen Abnahme der Funktionsreserve des älter Werdenden gleichgesetzt. Neuere Befunde weisen jedoch darauf hin, dass Gebrechlichkeit nicht unumkehrbar ist [6]. Klinisch manifestiert sich das Gebrechlichkeitssyndrom zunächst in allgemeiner Schwäche, gefolgt von geringerer physischer Aktivität, Erschöpfung und Gewichtsverlust.

FormalPara Infobox 2

Definition des geriatrischen Patienten [3]

  • Geriatrietypische Multimorbidität

  • Höheres Lebensalter (meist > 70 Jahre)

(Die geriatrietypische Multimorbidität ist hierbei vorrangig vor dem kalendarischen Alter zu sehen.)

Oder:

  • Alter > 80 Jahre, wegen der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität, z. B. wegen des Auftretens von Komplikationen und Folgeerkrankungen

  • Gefahr der Chronifizierung

  • Erhöhtes Risiko eines Verlusts der Autonomie mit Verschlechterung des Selbsthilfestatus

Da die Funktionsreserve und die Gebrechlichkeit nicht einfach zu bestimmen sind, wird der geriatrische Patient v. a. über seine geriatrietypische Multimorbidität (Infobox 3) definiert. Deshalb hat sich die geriatrische Medizin zunächst fast zwangsläufig im stationären Bereich als eine medizinische Spezialdisziplin – für manche eher Supra- als Subdisziplin [8] – entwickelt, die sich mit den körperlichen, geistigen, funktionellen und sozialen Aspekten in der Versorgung von akuten und chronischen Krankheiten, mit der Rehabilitation und Prävention bei alten Patienten sowie mit deren spezieller Situation am Lebensende befasst. Demnach begegnet man in der Geriatrie Fragestellungen aus nahezu allen medizinischen Gebieten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die sinnvolle Zusammenarbeit mit den Organspezialisten der Medizin [3]. Es ist erfreulicherweise festzustellen, dass die Bemühungen der letzten Jahre in die Richtung gehen, die Erkenntnisse der stationären Geriatrie in die ambulante Versorgung zu integrieren.

FormalPara Infobox 3

Geriatrische Syndrome (häufig gleichgesetzt mit geriatrietypischer Multimorbidität)

  • Herabgesetzte körperliche Belastbarkeit

  • Sturzneigung

  • Immobilität

  • Dekubitus

  • Kognitive Defizite

  • Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts

  • Fehl- und Mangelernährung

  • Depression

  • Angststörung

  • Chronische Schmerzen

  • Sensibilitätsstörungen

  • Starke Sehbehinderung

  • Ausgeprägte Schwerhörigkeit

  • Mehrfachmedikation

  • Herabgesetzte Medikamententoleranz

  • Häufige Krankenhausbehandlungen (Drehtüreffekt)

„Chronische Schmerzen machen alt.“

Welche Rolle spielt der Schmerz und insbesondere der chronische Schmerz im Zusammenhang mit dem Alter? Jüngst konnte gezeigt werden, dass Menschen im mittleren Lebensalter von 50 bis 59 Jahren mit chronischen Schmerzen in ihrer Funktionalität und Abhängigkeit Menschen ohne chronische Schmerzen zwischen 80 und 89 Jahren entsprechen [2]. Man könnte also formulieren, dass chronischer Schmerz als „Beschleuniger“ hin zum geriatrischen Patienten bereits im mittleren Lebensalter wirken kann. Neben akuten Ereignissen wie Schlaganfall, Sturz und Delir, die viele Ältere abrupt in Abhängigkeit führen, scheint das chronische Schmerzsyndrom eine der Erkrankungen zu sein, die Hilfsbedürftigkeit eher schleichend begünstigen, ähnlich wie die Entwicklung eines demenziellen Syndroms. Wesentliche Unterschiede gerade gegenüber dem demenziellen Syndrom bestehen darin, dass der akute und chronische Schmerz wesentlich erfolgversprechender behandelt werden kann. Auch oder gerade bei Älteren hat Prävention der chronischen Schmerzerkrankung eine große Bedeutung.

Sicherlich würden viele in der Schmerztherapie und der palliativen Versorgung Tätige ihre Aufgaben ähnlich sehen, wie sie auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie beschrieben werden (Infobox 4).

FormalPara Infobox 4

Zentrale Aufgaben in der Geriatrie [3]

Geriatrie ist ein sehr lebendiges, vielfältiges und dynamisches Gebiet. Zu den zentralen Aufgaben der Geriatrie gehört auch die empfindsame und umsichtige Begleitung vor dem Sterben. Spezielle Merkmale der Geriatrie beinhalten folgende Punkte:

  • In der Geriatrie begegnet man Fragestellungen aus nahezu allen medizinischen Gebieten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die sinnvolle Zusammenarbeit mit den Organspezialisten.

  • In der Geriatrie müssen besondere integrative Sicht- und Verhaltensweisen entwickelt werden, etwa im Hinblick auf körperliche und psychische Multimorbidität sowie hinsichtlich psychosomatischer Zusammenhänge. Eine gute emotionale Führung und Anregung der alten Patienten stellt die Grundlage nahezu jedes erfolgreichen Heilungsprozesses dar.

  • In der Geriatrie tätig zu sein, bedeutet mehr als in den meisten übrigen Gebieten der Medizin, Angehörige anderer helfender Berufe kennenzulernen. Hohe kommunikative Kompetenz ist dabei unerlässlich.

  • In der Geriatrie stellen sich – angestoßen durch die zentralen Themen Alter und Lebensende – besondere ethische, philosophische, psychologische, religiöse und sozialwissenschaftliche Fragen.

Die Übersichten und Originalien in dieser Ausgabe von Der Schmerz sollen dazu anregen, den Herausforderungen der älter werdenden Gesellschaft wissenschaftlich und in der Praxis gemeinsam zu begegnen.

M. Schuler

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