Dass für einen verbreiteten Begriff der Umgangssprache so etwas wie eine auf den Tag genaue „Geburtsurkunde“ vorliegt, die ihn zu einem „Hundertjährigen“ macht, ist an sich erstaunlich genug. Wenn es sich dabei um einen Begriff handelt, der – wie dies für „Ambivalenz“ zutrifft – vorab in der Psychoanalyse und von dort ausstrahlend in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen und Arbeitsfeldern ebenso wie in der Literatur, der Kunst und der Musik weiter entfaltet wurde, ist ein Rückblick auf seine Geschichte sehr wohl angemessen. Wenn überdies offensichtlich ist, dass er Erlebensweisen, Erfahrungen und Einsichten bezeichnet, die längst vor seinem Entstehen umschrieben worden sind, mithin anthropologische Dimensionen in den Horizont kommen, dann ist es auch angebracht, seine aktuelle und die absehbare künftige Tragweite zu bedenken.

Eben diese Beweggründe haben uns in einer kleinen Arbeitsgruppe dazu veranlasst, fast auf den Tag genau hundert Jahre, seit Eugen Bleuler in Bern erstmals öffentlich über Ambivalenz sprach, ein interdisziplinäres Symposium durchzuführen. Den Kern der Arbeitsgruppe bildeten der Psychiater Markus Binswanger, die Psychoanalytiker Olaf Knellessen und Pierre Passett sowie ich selbst als Soziologe. Das Zürcher Psychoanalytische Seminar bot Gastfreundschaft an; die Clienia Littenheid AG sowie das Kompetenzcluster „Kulturelle Grundlagen der Integration“ der Universität Konstanz konnten als weitere institutionelle Träger gewonnen werden. Dank der Offenheit und Neugierde der Redakteurin desForum der Psychoanalyse kam ein Kontakt mit dessen Herausgebern zustande, die sich gleichermaßen interessiert zeigten.

So ist es möglich, mit diesem Heft desForum der Psychoanalyse das Postulat „Ambivalenz weiterschreiben!“ zur Diskussion zu stellen: Mit vier Referaten aus Theorie und Praxis, mit Kommentaren sowie mit einer Schilderung des Tagungsverlaufs – alles geschrieben in der Hoffnung, dass sich darin Anstöße für theoretisch-analytische, praktisch-therapeutische und interdisziplinär-innovative Arbeiten finden lassen. Im Namen der Arbeitsgruppe und der institutionellen Träger danke ich dem Verlag, den Herausgebern und der Redakteurin für diese wunderbare intellektuelle Gastfreundschaft.

„Ambivalenz“ in der Psychoanalyse und den Sozialwissenschaften

Wie kommt es, dass ein Wort aus der Psychiatrie in die Alltagssprache und in viele wissenschaftliche Disziplinen übernommen wird – dem Anschein nach heute noch mehr als früher? Was tun wir mit Begriffen, und was tun Begriffe mit uns? Weist Ambivalenz auf ein übergreifendes Thema hin? Auf eine „condition humaine“?

Bereits Bleuler selbst ahnte die Weite des Bedeutungshorizonts. Das zeigt ein Aufsatz, der wegen des Orts seines Erscheinens an sich Aufmerksamkeit verdient, nämlich der Festgabe, „Dem Zürcher Volk gewidmet von der Dozentenschaft der Universität Zürich aus Anlass der Einweihung der Neubauten am 16. April 1914“. Adressat war eine breitere Öffentlichkeit. Dies regte Bleuler offenbar dazu an, darzulegen, dass die mit Ambivalenz gemeinten Erfahrungen auch im alltäglichen Leben zu beobachten sind. Sie sind für das Verständnis von Sexualität und das Verhältnis von Mann und Frau von Belang. Überdies sind sie seiner Ansicht nach „eine der wichtigsten Triebfedern“ der Dichtkunst, und sie finden sich in Gottesbildern.

Freud nahm den Begriff bekanntlich bereits zwei Jahre nach Bleulers erster Veröffentlichung in der Abhandlung über die „Dynamik der Übertragung“ auf. In einer Fußnote spricht er von einem „glücklichen, von Bleuler eingeführten Namen“. Freuds Faszination zeigt sich darin, dass er den Begriff unter anderem in seiner Neurosenlehre, seiner Triebtheorie sowie seinen Abhandlungen zu Religion und Kultur nutzte und ihn so weiterentwickelte. Gleiches taten in der Folge zahlreiche Autoren in den – sich teilweise überlagernden – Bereichen von Psychoanalyse und Psychotherapie. Dort zeichnete sich ein wichtiger Wandel ab. Nicht das Erleben von Ambivalenz(en) galt als problematisch, sondern die Unfähigkeit, sie sich einzugestehen und damit umzugehen.

Vor allem dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte eine sich zusehends verbreiternde Rezeption in anderen Diskursen und Disziplinen ein. In der Psychologie wird „Ambivalenz“ in der Analyse des Umgangs mit einander widersprechenden Einstellungen genutzt – eine Fragestellung, die in politikwissenschaftlichen Untersuchungen zum Wählerverhalten übernommen wurde. In der Soziologie dient Ambivalenz dazu, auf die Spezifik von Rollenkonflikten in professionellen Tätigkeiten aufmerksam zu machen, beispielsweise im Arztberuf, bei dem gleichzeitig Empathie und Distanz gefordert sind. Später wurde „Ambivalenz“ in der Analyse von Generationenbeziehungen genutzt, für die in vielen Fällen das Hin und Her zwischen Abhängigkeit und Eigenständigkeit, zwischen Nähe und Distanz und unter Umständen sogar zwischen Liebe und Hass kennzeichnend ist. Damit unvoreingenommen umzugehen, kann sozial konstruktiv sein. Hier zeichnet sich ein Wandel der Bewertung ähnlich wie in der Psychotherapie ab: Ambivalenzerfahrungen werden als Herausforderungen der Persönlichkeitsentwicklung verstanden und können sogar als Komponente von Bildung postuliert werden.

„Ambivalenz“ in Alltag und Kultur

Nochmals andere Akzente werden in der Literatur- und der Kunstwissenschaft gesetzt. Hier steht Ambivalenz für die Offenheit eines Werkes, wobei die Abgrenzung zur Ambiguität im Sinne von Mehrdeutigkeit fließend ist. Vor allem aber wird in diesem Strang der Rezeption deutlich, dass Ambivalenzen „geschaffen“ werden können, ja, dass möglicherweise wenn nicht jedes, so doch viele Kunstwerke sich durch ihre Ambivalenz auszeichnen und dies ein Kriterium ihrer Qualität ist. Dementsprechend können sich bei der Lektüre eines Texts oder bei der Betrachtung eines Kunstwerks Ambivalenzerfahrungen einstellen, die zu einer aktiven und offenen Suche nach Deutungen und Sinngebungen anregen. Bekanntlich ist dies ein Moment der Faszination des „guten“ Buchs, Films, Bilds und Musikstücks sowie ein Kriterium der Abgrenzung zum Kitsch.

Theologen arbeiteten heraus, dass alttestamentliche Geschichten und die Schilderung von Persönlichkeiten – man denke an David – ambivalenzträchtig und eben gerade nicht eindeutig sind. Insofern dient das Konzept dazu, die Anmutungen fundamentalistischer Auslegungen zurückzuweisen. Ein bewusster Umgang mit Ambivalenzen kann dazu beitragen, den Sinn kirchlicher Rituale wie der Trauung, der Taufe und der Bestattung durch den Einbezug des – oft zwiespältigen – Erlebens der Beteiligten authentischer auszudrücken. Noch eine weitere Facette des Verständnisses von Ambivalenz ist wichtig: die Zeitdiagnose. Darin wird Ambivalenz häufig und oft pauschal als die Gegenwart kennzeichnende Identitätserfahrung des Einzelnen unter den Bedingungen postmoderner Gesellschaftlichkeit bezeichnet. Dabei ergibt sich auch ein Brückenschlag zur ursprünglichen Bedeutung, nämlich der Tragweite von Ambivalenzen für die Konstitution der Persönlichkeit.

In verdeckter Weise gilt dies auch für das Verständnis in der Umgangssprache. Es ist ein Teil der Erfolgsgeschichte des Begriffs und zugleich Anlass zur Abwehr. Im Alltag gilt es zwar als unerwünscht, „ambivalent zu sein“, doch zugleich ist es eine selbstverständliche, vertraute Erfahrung. Oft wird damit einem – diffusen – Gefühl Ausdruck gegeben. Die unterschiedlichen Anwendungen verstärken ihrerseits den Eindruck von Mehrdeutigkeit. Diese aber gilt oft als verpönt, im persönlichen Umgang ebenso wie in der Politik und der Wissenschaft. Unbestimmtheit wird eher mit Unklarheit als mit Offenheit assoziiert. Man könnte also durchaus argumentieren, dass jetzt, wo Ambivalenz in der Alltagssprache und in vielen Disziplinen angekommen ist, die Nützlichkeit und das Potenzial des Begriffs sich erschöpfen.

Eine andere Antwort zeichnet sich ab, wenn stattdessen gefragt wird, worin möglicherweise die Gemeinsamkeiten der Phänomene und der Erfahrungen liegen, die unter diesem Begriff in den Blick genommen werden, welche systematischen, disziplinübergreifenden Zusammenhänge sich dabei erkennen lassen und welche Anschlussmöglichkeiten sich zu anderen Begrifflichkeiten ergeben. Erste Antworten zeichnen sich ab. Da ist zunächst die empirische Tatsache, dass wir im Alltag ebenso wie in der Wissenschaft die Welt immer wieder – wenngleich selbstverständlich nicht immer – in Gegensätzen beschreiben. Eine einfache Form ergibt sich aus der Allgegenwart von Differenzen. Das Gegensätzliche findet sich indessen auch darin, dass wir Alternativen erwägen können. Und es zeigt sich schließlich darin, dass wir den Mitmenschen als den Anderen wahrnehmen. Diese Erfahrungen sind in vielen Fällen für das Bild von Belang, das wir von uns selbst immer wieder aufs Neue schaffen, und dementsprechend für die Art, wie wir zu handeln vermögen. Dabei verdienen die Prozesse des gedanklichen und emotionalen Oszillierens zwischen Alternativen besondere Aufmerksamkeit, und es kann nützlich sein, sich dieses Hin und Her, dieses – zeitweilige – Schweben und Abwägen bewusst zu machen, ihm Zeit zu gewähren, denn daraus können sich neue Möglichkeiten des Handelns und der Gestaltung von Beziehungen ergeben.

Was hier unter Bezugnahme auf alltägliche Erfahrungen geschildert wird, lässt sich in einer ersten Annäherung vielleicht mit folgendem Verständnis von Ambivalenz zusammenfassen. Gemeint sind damit jene zwischen Gegensätzen oszillierenden Prozesse der Suche nach dem Sinn der Dinge und sozialen Beziehungen, die ihrerseits wiederum für das Verständnis seiner selbst im Umgang mit den anderen konstitutiv sind. Sie sind sowohl im Alltag von Belang als auch in dessen wissenschaftlicher Analyse, wie die aktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten an einer „Theorie der Praxis“ zeigen. Eines ihrer Kernthemen lautet, dass sich in der Praxis das Rationale und das Ambivalente in der Befähigung zum selbstbewussten, verantwortlichen Handeln durchdringen.

Die aktuelle Relevanz von „Ambivalenz“

Ambivalenz weiterschreiben! – Der Prozess ist in Gang. Die Relevanz des Konzepts zeigt sich in unterschiedlichen Diskursen, in denen es schon verwendet wird und ebenso innerhalb dieser Diskurse, beispielsweise innerhalb psychoanalytisch orientierter Ansätze zwischen triebtheoretischen und objekttheoretischen Ausdifferenzierungen oder innerhalb der Soziologie zwischen Anwendungen in Handlungsanalysen oder in Zeitdiagnosen. Das Weiterschreiben zeigt sich aber auch in Versuchen des Brückenschlags zwischen Disziplinen, beispielsweise zwischen psychotherapeutischer und sozialwissenschaftlicher Annäherung an das Verständnis individueller und kollektiver Traumata. Im Weiteren wird Ambivalenz in neuen Diskursen verwendet, so in letzter Zeit in politikwissenschaftlichen Untersuchungen zum Wahl- und Abstimmungsverhalten. Dabei kann durchaus der Eindruck entstehen, dass die verschiedenen Arten der Nutzung nichts miteinander gemeinsam haben. Doch es bleibt der Stachel der gleichen Wortwahl! Und selbstverständlich zeigt sich die Tragweite des Konzepts auch darin, dass etwas durch die Diskussion eben dieser Tragweite angestoßen wird. Man kann ja durchaus sagen, dass – schlagwortartig formuliert – ein Aspekt der Faszination von Ambivalenz in ihrer offenen Vieldeutigkeit gesehen wird. Ein anderer Aspekt liegt darin, dass das Konzept in der Regel dazu dient, innerhalb eines Diskurses eine kritisch-reflexive Perspektive zu begründen, eben beispielsweise hinsichtlich des Mythos von „rational choice“.

Damit gerät – anschaulich gesprochen – die Frage eines Menschenbilds in den Blick. Wenn es darum geht, anthropologische Sichtweisen zu umschreiben, erfreut sich diese Denkfigur großer Beliebtheit. Doch sie hat auch ihre Krux. Beinhaltet sie nämlich den Versuch, das „Wesen“ des Menschen zu ergründen und zu erfassen, verleitet sie dazu,dem Menschen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben.Dem Menschen heißt aber im Kontext einer umfassenden Redeweise, dass alle Menschen diese Eigenschaft haben. Von diesem Punkt ist es nur ein kleiner Schritt zu einer normativen Konnotation. Das ist der Fall, wenn diese Eigenschaft als kritik- oder förderungswürdig postuliert wird, sie also gefördert oder unterdrückt werden soll.

An anderer Stelle habe ich ebenfalls eine menschenbildliche Vorstellung zur Diskussion gestellt, nämlich jene des „homo ambivalens“. Damit wollte ich die Fähigkeit des Menschen hervorheben, Ambivalenzen zu erfahren und zu erleben. Überdies habe ich, um die normative Konnotation zu mildern, darauf verwiesen, dass diese Fähigkeit auch beinhaltet, Ambivalenzen gegenüber Erleben und Erfahren von Ambivalenzen sowie auch gegenüber dem Konzept als solchem zu entwickeln. Darin ist nun allerdings wiederum die Gefahr einer unendlichen Kette von Rekursivität angelegt. Sie lässt sich pragmatisch brechen, indem auf die Notwendigkeit des Handelns verwiesen wird. Doch vielleicht ist es angemessener, eine hinsichtlich der Reichweite bescheidenere Umschreibung zu wählen und zu sagen, Menschenkönnen Ambivalenzen erfahren. Menschen sind denkbar als „homines ambivalentes“. Dann wird es zu einer empirischen Frage, ob, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen die Möglichkeiten dieses Erlebens und Erfahrens zum Ausdruck kommen, ob Ambivalenzen konkret erkannt werden und wie damit umgegangen wird.

Doch auch diese Sichtweise kann wiederum Kritik provozieren und muss auf ihre erkenntnistheoretischen Wurzeln hin befragt werden. Dabei ist die Antwort vergleichsweise einfach. Diese Sichtweise beruht auf Prämissen eines Verständnisses der Welt und der menschlichen Existenz, die man als pragmatisch kennzeichnen kann. Bezugspunkt sind „Erfahrungen“. Dies ist eines der Paradigmen, unter denen die Idee der Ambivalenz subsumiert werden kann. Die Beiträge in diesem Heft verweisen in meiner Lesart auf zumindest zwei weitere Paradigmen, nämlich ein poststrukturalistisches und ein ontologisches. Im poststrukturalistischen ist „Differenz“ der Bezugspunkt; im ontologischen wird Ambivalenz als eine wesenhafte Bedingung menschlichen Seins und der Konstitution der Welt aufgefasst. Das sind idealtypische Umschreibungen, die weiterer Differenzierung bedürfen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zum Ausdruck bringen: Ambivalenz weiterschreiben im weiten Bogen von Theorie, Analyse und Praxis verweist auf Grundfragen menschlicher Existenz, mithin auch auf jene menschlicher Freiheit.

Im Rückblick auf die Begriffsgeschichte und im Horizont eines zeitgemäßen Verständnisses zeichnet sich das Ambivalente somit als eine Bedingung menschlicher Freiheit ab.Footnote 1