„Menschen benutzen Gott wie einen Analytiker—jemand, der da ist, wenn man spielt. ... Für den man etwas bedeutet“
(D.W.Winnicott, 1974, S. 74).
Zusammenfassung
Im Alltag psychoanalytischer Behandlung geschieht etwas, das sich mit dem alttestamentlichen Begriff „erkennen“ beschreiben lässt. So verstanden hat die psychoanalytische Praxis eine religiöse Dimension. Der Autor veranschaulicht diese These an der Diskussion eines Behandlungsfalles: Zunächst versucht er zu zeigen, wie eine Interpretation des kasuistischen Materials im Rahmen des bekannten Konzepts Religion als Ausdruck ungelöster narzisstischer Konflikte aussehen würde. Sodann wendet er Winnicotts Gedanken des „Übergangsraums“ als neuen Deutungsrahmen auf den Behandlungsfall an. Exemplarisch wird dabei die Konzeption der „Zerstörung des Objekts“ nach Winnicott mit der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu in Beziehung gesetzt. Unter Einbeziehung Kleinianischen und Bionschen Gedankenguts kommt der Autor zum Ergebnis, dass Religiosität eine anthropologische Konstante ist, die nicht auf ein pathologisch-narzisstisches Geschehen eingeengt werden sollte.
Abstract
During daily psychoanalytic treatment something happens that can be described with a term from the Old Testament: “to know”, giving psychoanalytic praxis a religious dimension. The author illustrates this thesis with a case report. First he tries to show how an interpretation of the casuistic material appears in the scope of the well-known concept of religion as an expression of dissoluble narcissistic conflicts. Then he applies Winnicott’s idea of “potential space” as a new scope for interpretation of the case. The conception of the “destruction of the object” according to Winnicott will be related exemplarily to the history of Jesus’ death on the cross and the miracle of his survival. By heeding the world of ideas of Klein and Bion, the author comes to the conclusion that religiosity is an anthropological constant, which cannot be reduced to a pathologic narcissistic event.
Notes
Vgl. Genesis 4,1a: „Adam erkannte sein Weib Eva“—wo also „erkennen“ sogar den Koitus mit einschließt.
Unter „Paradigmata“ verstehe ich im Sinne von Kuhn „anerkannte Beispiele für konkrete wissenschaftliche Praxis—Beispiele, die Gesetz, Theorie, Anwendung und Hilfsmittel einschließen“, sie sind „Vorbilder ..., aus denen bestimmte festgefügte Traditionen wissenschaftlicher Forschung erwachsen.“ Das späte, große Werk von Grunberger und Dessuant über „Narzißmus, Christentum, Antisemitismus“ (2000) ist ein beeindruckendes Beispiel der Deutung der christlichen Religion aus dem Kontext der (genauer: Grunbergers) Narzissmustherorie. (Vgl. hierzu auch die ebenso erhellende wie kritsche Rezension von H. Raguse [Psyche-Z Psychoanal 2002, S. 190 ff.]) Leider kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht näher darauf eingehen.)
Vgl. auch Anm. 183. Angesichts der Entdeckungen der Säuglingsforschung halte ich die Annahme eines „primären Narzissmus“ als „Verschmelzung mit einem grandiosen Objekt“ für problematisch. Angemessener erscheint es, die Symbiose als den „Zufluchtsort des überforderten Säuglings“ zu verstehen (M. Dornes 1993, S. 77, was zu M. Kleins Verständnis der Idealisierung (Grandiosität) des Objektes als ein Ausdruck der manischen Abwehr des Misstrauens gegen das Objekt passen würde.
In der Tat hat Freud den romantischen Kontext der Religionsbestimmung im 19. Jahrhundert—pars pro toto: Schleiermachers berühmte Definition von Religion als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ vernachlässigt, vielleicht auch „verdrängt“. Er hat demgegenüber in jüdischer Tradition die Bedeutung der mosaischen Ge- und Verbote, letztlich das aufklärende und trennende „Wort“ [“Unser Gott Λογοζ“, Freud 1927, S. 187] in den Mittelpunkt gestellt. Vgl. hierzu auch den Aufsatz von J. Chasseguet-Smirgel: Das Paradoxon der Freudschen Methode, 1985, wo sie diesen Zusammenhang verdeutlicht.
Vgl. z. B. Grubrich-Simitis (1990, S. 491 f.): „Manches spricht dafür, dass Freud die Beschäftigung mit den Phänomenen der allerfrühesten Studien seelischer Strukturbildung, also der primären Mutterdimension, eher zu meiden suchte, und zwar nicht nur aus Gründen sinnvoller Arbeitsökonomie oder infolge seiner Skepsis bezüglich der Reichweite des psychoanalytischen Instrumentariums, sondern wohl auch, weil die Konfrontation mit diesem archaischen Bereich in ihm eine tiefe Beunruhigung auslöste.“
Die „Grundlage“ des dynamischen Unbewussten bei Freud bildet „die Verdrängung und der Konflikt zwischen Trieb und Kultur“ (De Masi, 2003, S. 6). A. und J. Sandler haben die Konzeptualisierung des dynamischen Unbewussten im Freudschen Sinne wesentlich erweitert und modifiziert mit ihrer Anschauung, dass es sich um unbewusst gewordene „Beziehungsmuster“ handelt, die im „Gegenwartsunbewußten wirksam sind, das seinerseits gespeist und geformt wird von unerkennbaren ‚dynamischen Schablonen‘ des Vergangenheitsunbewußten. (Vgl. hierzu: A. Sandler 1997, bes. S. 213 ff.)
Ich kann im Rahmen dieses Beitrags die überaus spannende Frage nach den unterschiedlichen Konzeptionen des Unbewussten (vgl. De Masi 2003, bes. S. 5ff.) und deren Konsequenzen für das Verständnis des psychoanalytischen Prozesses nicht diskutieren. Es wäre spannend, den Bion’schen Ansatz, das Unbewusste als Funktion des seelischen (und nicht als irgendwie gearteten Raum, in dem verdrängte [Freud] oder abgespaltene [Klein] Inhalte sich befinden) auf das Winnicott’sche Konzept des Übergangsraums zu beziehen, der ja als intermediärer ebensowenig statisch denkbar ist. Vielleicht ließe sich der Winnicott’sche Ansatz selbst als Zwischenbereich zwischen M. Kleins Konzept des UBW (sie verwendet explizit die Raummetapher) und Bions Konzeptualisierung verstehen.
Es ist bemerkenswert, dass sich auch im Denken Freuds 2 Thesen finden,—beide längst überholt—an deren „Historizität“ er bis zu seinem Lebensende festhält: die These vom Vatermord in der Urhorde und die These von der Ermordung des ägyptischen „Mann Moses“. Grubrich-Simitis (1990) erklärt dies—ohne es explizit zu machen—ganz im Winnicott’schen Sinne: Eine subjektive Funktion der Ägypterhypothese könnte für Freud darin bestanden haben, ihm gegenüber der Übermacht seiner Identifizierung Distanz zu schaffen, Moses sozusagen von sich wegzurücken. Denn einiges spricht dafür, daß er den metaphorischen Spielraum (Hervorhebung L.M.) gegenüber dieser Repräsentanz seines Ichideals momentan zu verlieren drohte“ (S. 499).
„In −K wird die Brust so erlebt, daß sie neidisch das gute und wertvolle Element aus der Todesangst entfernt und den wertlosen Rest gewaltsam in das Kind zurückdrängt“ (Bion 1962a, S. 154, c. 28, 5). Zur Veranschaulichung gelungenen „containments“ vgl. z. B. die Fallgeschichte bei Lazar 1993, S. 82 ff.
Für diesen Hinweis bin ich Herrn Prof. Dr. Jürgen Körner sehr dankbar.
Vgl. Lazars auch gut als Einführung in Bions Denken geeigneten Aufsatz: „Container-Contained“ und die helfende Beziehung (1993).
Lazar (1993, S. 71 f.) weist darauf hin, dass Bions Interesse dem galt, was mit den psychischen Inhalten, die im Objekt deponiert werden, geschieht. Dies sei bei Klein im Unklaren geblieben, und auch Winnicott hebt zwar auf die Bedeutung ab, dass das Objekt überlebt (also ein brauchbarer Container ist), beschäftigt sich aber, wenn ich recht sehe, nicht mit dem, was „im Objekt passiert“ (Lazar S. 72).
Diese Freundlichkeit war mir auch deshalb möglich, weil ich meinte zu verstehen, dass hinter der Wucht des Hasses des Patienten auf mich seine große Angst stand, mir willkürlich ausgeliefert zu sein. Ich trug also in mir eine Idee, den Patienten zu „erkennen“.
Im Sinne Bions: es findet K statt, indem er sich von mir „erkennen“ lässt und mir „glaubt“. Innerhalb dieses K-links vollzog sich die Bewegung von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position.
Vgl. Winnicotts Wortspiel: mother—other: der Weg zum Erleben des Anderen führt über das Übergangsobjekt.
Diese und die folgenden Zitate sind von mir übersetzt.
Zitat von M. Eigen (1981) S. 417.
„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Frau, die sich für ihren Mann geschmückt hat ... und er, Gott, wird bei ihnen sein: Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offb. 21, 1–5). Dieser bei Beerdigungen gerne verwandte Text lässt sich natürlich deuten als die drängende Sehnsucht seines Autors, des apokalyptischen Visionärs, nach einer präambivalenten Harmonie. Er lässt sich aber auch verstehen als der poetisch-metaphorische Ausdruck eines Vertrauensraumes, in dem das Liebesobjekt nicht mehr verloren gehen kann, weil der zerstörerische Hass transformiert wurde. Es bleibt allerdings die Gefahr, zu der Illusion zu verführen, als wäre die „Vollkommenheit“ eines hassfreien Zustandes je erreichbar (vgl. auch Lazar 1993, S. 90).
Sogar das Phänomen des Selbstmordes deutet Klein als „Rettung“ von (inneren oder äußeren) Liebesobjekten (z. B. 1935, S. 75 ff.)
Vgl. hierzu: Kugelmann (1986) Antizipation. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung.
Ich glaube, dass die Fähigkeit, sich überraschen lassen zu können, auch ein Phänomen von Religiosität ist, sofern sie die radikale Offenheit für ein unvorhersehbares Ereignis und die Bereitschaft, sich auf dieses unbekannte Neue einzulassen, voraussetzt. Diese Fähigkeit kann erst im Loslassen von Omnipotenzfantasien erlernt werden.
In der gegenwärtigen Theologie ragt die Christologie W. Pannenbergs durch die unermüdliche Beschäftigung mit der „Historizität der Auferstehung Jesu“ heraus. Es ist bemerkenswert, dass gerade K. Barth, in dessen Theologie die „Andersheit Gottes“ im Zentrum steht, sich schroff von diesem Ansatz abwendete.
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Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten am 15.2.2002 am Institut von Prof. Dr. Michael von Rad, Direktor der Poliklinik f. Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und medizinische Psychologie der TU München und am 10.7.2002 bei der DPG-Arbeitsgruppe München. Der Behandlungsverlauf stammt aus meinem Abschlusskolloquium an der Akademie für Psychoanalyse München, vorgelegt im Oktober 1995.
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Malkwitz, L. „Ich möchte an Sie glauben können!“. Forum Psychoanal 19, 343–361 (2003). https://doi.org/10.1007/s00451-003-0178-x
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