Lernziele

Nach der Lektüre dieses Beitrags

  • können Sie physiologische von pathologischen und akute von chronischen Veränderungen der Skelettmuskulatur unterscheiden.

  • können Sie die Prävalenz der Sarkopenie in Deutschland einschätzen.

  • können Sie die Diagnose einer Sarkopenie bzw. einer Präsarkopenie analog des Algorithmus der European Working Group on Sarcopenia in Older People, 2. Version der konsentierten Definition (EWGSOP2), stellen.

  • können Sie den jeweiligen Stellenwert der Screening- und Diagnosemöglichkeiten beurteilen.

  • können Sie evidenzbasierte Therapieoptionen der Sarkopenie benennen.

Einleitung

Der Begriff Sarkopenie, zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern „sarx“ (Fleisch) und „penia“ (Mangel), wurde erstmals 1989 von Rosenberg eingeführt und beschrieb zunächst ausschließlich einen Mangel an Muskelmasse [1]. Inzwischen steht gemäß der revidierten europäischen Konsensusdefinition aus dem Jahr 2018 (EWGSOP2) die Einschränkung der Muskelkraft als Hauptmerkmal im Vordergrund. Durch den Verlust des stabilisierenden Einflusses von Muskelkraft auf das statische und dynamische Gleichgewicht [2] ist das Sturzrisiko um das 3,2-Fache erhöht [3]. Sturzfolgen schränken die Mobilität und Selbstständigkeit ein [4], führen zu vermehrten Krankenhauseinweisungen [5] und reduzieren sowohl die Lebensqualität als auch die Lebenserwartung. So ist die Mortalität um den Faktor 3,6 erhöht [6]. Sarkopenie ist auch mit einer Zunahme des viszeralen Fettanteils assoziiert. Dies begünstigt chronisch proinflammatorische Prozesse, die das kardiovaskuläre Risiko erhöhen sowie die Entstehung von Diabetes mellitus, Demenz, M. Parkinson und Depression fördern [7].

Merke

Bei Sarkopeniepatienten sind das Sturzrisiko um den Faktor 3,2 und die Mortalität um den Faktor 3,6 erhöht.

Fallbeispiel.

Frau H. (79 Jahre alt) ging bis vor einem Jahr täglich mindestens eine Stunde spazieren. Aus Angst vor einer Infektion mit dem „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“ (SARS-CoV-2) hat sie nun das Haus seit mehreren Monaten nicht mehr verlassen. Sie erhält Essen auf Rädern, jedoch hat der Appetit sehr nachgelassen. Insgesamt hat sie im letzten Jahr ca. 6 kg abgenommen. Vor 4 Monaten kam es durch kurze Unachtsamkeit beim Treppensteigen zu einem Stolpersturz. Zwar blieben Verletzungen aus, doch fühlt sich Frau H. nun deutlich unsicherer beim Gehen. Aus Angst vor einem erneuten Sturz meidet sie das Treppensteigen gänzlich und selbst das Aufstehen bereitet ihr inzwischen aufgrund zunehmender Lumbalgien Schwierigkeiten. Sie sucht ihre Hausärztin auf, die eine Röntgenuntersuchung der LWS veranlasst, in der sich mehrere Sinterungsfrakturen zeigen. Mithilfe einer anschließenden Knochendichtemessung („dual energy x‑ray absorptiometry“, DXA) wird auch der relative Skelettmuskelindex (SMI) bestimmt; er beträgt 5,1 kg/m2. Frau H. fragt die Hausärztin um Rat, wie sie nun wieder auf die Beine kommen könne.

Definition

Sarkopenie bezeichnet ein Syndrom, das durch einen progressiven und generalisierten Verlust von Muskelmasse und -kraft charakterisiert und mit negativen Folgen einschließlich Stürzen, Funktionseinschränkungen und Gebrechlichkeit assoziiert ist [8]. Im Jahr 2016 fand die Sarkopenie als eigenständige Entität mit entsprechender Kodierung (M62.84) erstmals Eingang in die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Auflage (ICD-10), und wurde 2018 auch in Deutschland mit der Chiffre M62.50 ins ICD-10‑GM integriert. Von der Sarkopenie abzugrenzen ist die Kachexie, die einen kombinierten Verlust von Fett- und Muskelmasse auf dem Boden einer konsumierenden Erkrankung beschreibt [9].

Pathophysiologie

Muskelveränderungen im Alter

Wie alle Organe unterliegt die Muskulatur physiologischen Veränderungen im Alter, die vorwiegend durch eine Atrophie gekennzeichnet sind. Eine Reduktion der Muskelproteinbiosynthese führt zum Verlust von etwa 40 % der Muskelfasern zwischen der 3. und der 7. Lebensdekade. Dies betrifft v. a. die schnell kontrahierenden Typ-II-Fasern [10], sodass die Schnellkraft doppelt so stark abnimmt wie die Maximalkraft [11].

Die Muskelfunktion verringert sich deutlich schneller als die Muskelmasse [12]. Der durchschnittliche jährliche Verlust an Muskelkraft beträgt bis 4 %, wohingegen sich die Muskelmasse um weniger als 1 % reduziert [13]. Auch die Zahl der Satellitenzellen, die für die Muskelregeneration zuständig sind, verringert sich. So zeigte sich in „Bed Rest studies“, dass sich die Muskelproteinbiosynthese durch Immobilisation von gesunden 80-Jährigen innerhalb von 10 Tagen um 30 % reduziert, was zu einem Verlust von 10 % der Muskelmasse und 16 % der Muskelkraft führt [14].

Der reduzierte Muskelumsatz hat vielfältige Ursachen [15]. Eine wesentliche Rollte spielen die Degeneration der neuromuskulären Endplatte sowie der Verlust motorischer Einheiten [16], aber auch eine reduzierte Aktivität der somatotropen Achse, inflammatorische Prozesse, Mangelernährung und eine verminderte körperliche Aktivität tragen entscheidend dazu bei [17]. Nur etwa 14 % der 70- bis 79-Jährigen bewegen sich gemäß den Empfehlungen 2,5 h/Woche mit moderater Intensität [18].

Merke

Die Muskelkraft lässt im Alter schneller nach als die Muskelmasse.

Mangelernährung

Die Muskulatur ist der größte Aminosäurespeicher. Bei katabolen Vorgängen, beispielsweise im Rahmen von Mangelernährung oder akuten Entzündungen, wird dieser zuerst aufgebraucht, während neurologische Strukturen geschützt werden [19]. Zugleich benötigen Patienten über 70 Jahre eine höhere Proteinzufuhr, um die gleiche myofibrilläre Proteinsyntheserate wie jüngere Patienten zu erreichen [20]. Studien zeigten, dass der tägliche Proteinbedarf zur Stimulierung der myofibrillären Proteinsynthese bei Männern unter 37 Jahren etwa 0,24 g/kgKG beträgt, während Männer über 65 Jahre ca. 0,4 g/kgKG benötigen [21]. Ein wesentlicher Risikofaktor für Sarkopenie ist eine unzureichende Zufuhr von Proteinen, insbesondere ein Mangel der essenziellen Aminosäure Leucin [22].

Merke

  • Ältere Menschen haben einen höheren Proteinbedarf.

  • Eine unzureichende Proteinzufuhr ist eine Hauptursache der Sarkopenie.

Weitere Risikofaktoren

Auch endokrinologische Veränderungen im Alter können die Entstehung einer Sarkopenie bedingen. Eine Reduktion der anabolen Hormone (im Rahmen eines männlichen Hypogonadismus) ebenso wie eine Resistenz dagegen (Insulin- oder Wachstumshormonresistenz) bewirken eine Beeinträchtigung der Muskelfunktion [23, 24]. Zwillingsstudien zeigen, dass etwa 30 % der Varianz in Muskelmasse und -kraft durch genetische Einflüsse bedingt sein können [7]. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass sich ein hohes Geburtsgewicht und eine längere Stilldauer positiv auf Muskelmasse und -kraft auswirken [25]. Auch Adipositas stellt einen Risikofaktor für Sarkopenie dar, indem sie sowohl zur Verfettung des Skelettmuskels als auch zu einer chronischen Inflammation beiträgt und so die Muskelfunktion beeinträchtigt [15].

Epidemiologie

Angesichts einer internationalen Koexistenz verschiedener Sarkopeniedefinitionen und unterschiedlicher Methoden der Erhebung variieren die Angaben zur Prävalenz von Sarkopenie. Eine epidemiologische Untersuchung in Deutschland in der Region Augsburg ergab unter Anwendung der EWGSOP-1-Kriterien bei 927 Teilnehmern über 65 Jahren eine Prävalenz von 5,7 %, wobei Frauen mit ca. 7,5 % im Vergleich zu Männern mit ca. 4 % häufiger betroffen waren. Bei über 80-Jährigen betrug die Prävalenz 17 % für Frauen und 9 % für Männer [26].

Diagnostik

Screening

Die Task Force der International Conference on Sarcopenia and Frailty Research (ICSFR) empfiehlt, alle über 65-Jährigen jährlich bzw. nach einschneidenden gesundheitlichen Ereignissen wie beispielsweise stationär behandlungsbedürftigen Stürzen auf Sarkopenie zu screenen [27]. Um Patienten mit Funktionseinschränkungen in der Primärversorgung zu identifizieren, wurde der Screeningfragebogen für Sarkopenie (SARC‑F) konzipiert und ins Deutsche übersetzt (Tab. 1; [28]). Er setzt sich aus 5 Fragen zusammen, die sich auf Schwierigkeiten in der Bewältigung alltäglicher Aufgaben beziehen. Der Fragebogen kann vom Patienten selbst ausgefüllt werden. Wenn 4 oder mehr Punkte erreicht werden, sollte eine Diagnostik angeschlossen werden, andernfalls eine Reevaluation im Intervall erfolgen.

Tab. 1 Screeningfragebogen für Sarkopenie (SARC-F)

Diagnosealgorithmus

Als Eingangsuntersuchung dient die Messung der Handkraft mithilfe eines Dynamometers und/oder der Beinmuskelkraft mithilfe des „chair rise test“ [8]. Unterschreitet ein Testergebnis den Grenzwert, kann bereits die Diagnose einer Präsarkopenie („probable sarcopenia“) gestellt werden (Abb. 1). Analog zum Prädiabetes wird der Präsarkopenie ein Krankheitswert beigemessen, der eine Ursachenabklärung und einen Therapiebeginn rechtfertigt. Im zweiten Schritt erfolgt die Messung der appendikulären Magermasse (ALM) mithilfe der DXA oder der bioelektrischen Impedanzanalyse (BIA). Wenn sowohl die Muskelkraft als auch die Muskelmasse die definierten Grenzwerte unterschreiten, ist die Diagnose Sarkopenie bestätigt.

Abb. 1
figure 1

Diagnosealgorithmus. SARC‑F Screeningfragebogen für Sarkopenie, SPPB Short Physical Performance Battery, TUG „timed up-and-go test“

Merke

Eine Therapieeinleitung und Ursachenabklärung sind bereits bei Vorliegen einer Präsarkopenie indiziert.

Muskelkraft

Zur Bestimmung der isometrischen Handkraft dient ein Dynamometer. Dabei werden 3 Messungen von jeder Seite vorgenommen. Beträgt der größte gemessene Wert unter 16 kg bei Frauen bzw. 27 kg bei Männern, gilt dies als pathologisch. Die Beinmuskelkraft wird mithilfe des Chair rise test bestimmt. Dabei wird die Zeit gemessen, die ein Patient benötigt, um 5‑mal aus einer sitzenden Position aufzustehen, ohne seine Arme zu benutzen. Als Grenzwert für eine relevante Beeinträchtigung gelten 15 s für beide Geschlechter.

Muskelmasse

Die DXA und die BIA ermöglichen eine Messung der ALM [29]. Um diese ins Verhältnis zu den Körpermaßen zu setzen, wird der SMI bestimmt, indem die ALM durch die Körpergröße zum Quadrat dividiert wird. Als Untergrenze wurde ein SMI von 7,0 kg/m2 für Männer bzw. 5,5 kg/m2 für Frauen definiert. Alternativ kann die ALM ins Verhältnis zum BMI gesetzt werden [30].

Fortführung des Fallbeispiels.

Bei Frau H. fällt der Skelettmuskelindex mit einem Wert von 5,1 kg/m2 pathologisch aus. Die Tatsache, dass ihr das Aufstehen aus dem Sitzen schwerfällt, deutet zudem auf eine verminderte Beinkraft hin. Ob eine Sarkopenie vorliegt, lässt sich jedoch nur nach standardisierter Messung der Muskelkraft mithilfe des Chair rise test und/oder des Handdynamometers feststellen.

Bestimmung des Schweregrads

Zur Einordnung des Schweregrads dienen weitere Untersuchungen, die die Muskelfunktion, in erster Linie der unteren Extremitäten, messen. Dazu gehören

  • die Prüfung der Ganggeschwindigkeit,

  • der „timed up-and-go test“ (TUG) sowie

  • die Short Physical Performance Battery (SPPB).

Die Ganggeschwindigkeit wird über eine Distanz von 4 m gemessen, wobei die Verwendung eines Stocks oder einer anderen Gehhilfe erlaubt ist. Eine Geschwindigkeit ≤ 0,8 m/s gilt als Indikator für eine schwere Sarkopenie. Der TUG misst die Zeit, die benötigt wird, um aus einer sitzenden Stuhlposition aufzustehen, zu einer 3 m entfernten Linie zu gehen, sich um 180 Grad zu drehen und sich wieder hinzusetzen. Werden ≥20 s benötigt, deutet dies ebenfalls auf eine schwere Sarkopenie hin. Der SPPB umfasst sowohl die Ganggeschwindigkeit als auch den „chair stand test“ in Kombination mit einem Gleichgewichtstest. Zur Berechnung des SPPB-Scores werden 0 bis 4 Punkte/Aufgabe vergeben. Der Grenzwert für eine schwere Beeinträchtigung beträgt 8 Punkte.

Die Schwere der Sarkopenie hat zunächst weder therapeutische noch diagnostische Konsequenzen. Sie dient vielmehr einer differenzierten Erfassung des Funktionsstatus, um Therapieoptionen und -bedürfnisse künftig individuell anpassen zu können.

Akute vs. chronische Sarkopenie

Akute Erkrankungen können einen kurzfristigen Therapiebedarf nötig machen und sind von chronischen Einflussfaktoren zu differenzieren, die längerfristige Konzepte erfordern. Zur Verlaufsbeurteilung ist eine Wiedervorstellung 3 bis 9 Monate nach der Diagnosestellung empfohlen. Liegen die Einschränkungen weiterhin vor oder sind gar progredient, ist von einer chronischen Sarkopenie auszugehen.

Prävention und Therapie

Körperliches Training

Eine Studie mit über 90-Jährigen zeigte, dass das muskuläre System bis in höchste Alter trainierbar ist, mit einem Zugewinn an Kraft und Funktionalität [31]. Dabei übersteigen die Effekte des körperlichen Trainings auf die Muskulatur deutlich die Effekte alleiniger Ernährungstherapien [32]. Um das Sturzrisiko effektiv zu reduzieren, ist eine Kombination mit einem Gleichgewichtstraining notwendig [3]. Die Integration sozialer Aktivitäten wiederum fördert die Compliance und führt zum besseren Trainingsergebnis [33]. Durch konsequentes Training kann mittelfristig Immobilität verhindert und Mortalität reduziert werden [17].

Merke

Krafttraining ist auch bei Hochbetagten noch effektiv.

Ernährung

Eine zusätzliche Ernährungstherapie ist wichtig, um die Trainingseffekte zu steigern [6]. Aufgrund einer verzögerten myofibrillären Proteinbiosynthese bedürfen geriatrische Patienten einer erhöhten Proteinzufuhr [34]. Gemäß der Konsensusdefinition der EWGSOP2 ist eine Zufuhr von 1,2 g/kgKG nötig, um die Optimierung der Muskelgesundheit zu gewährleisten [20]. Jedoch sollte bei Patienten mit einer chronischen Nierensuffizienz ohne Dialysepflichtigkeit die Zufuhr von 0,8 g/kgKG nicht überschritten werden [35]. Insbesondere die Aminosäure Leucin zeigte eine positive Wirkung auf die Muskelproteinsynthese: Durch die Zufuhr von 3 g Leucin wird fast eine maximale Proteinsynthese ermöglicht [36].

Merke

Durch eine Supplementierung von essenziellen Aminosäuren, insbesondere Leucin, kann der Trainingseffekt gesteigert werden.

Fazit für die Praxis

  • Eine im Alter reduzierte myofibrilläre Proteinbiosynthese führt zu einem Verlust v. a. von Muskelkraft. Mangelernährung, endokrinologische Veränderungen und verminderte Aktivität tragen wesentlich zu pathologischen Funktionseinschränkungen bei.

  • Die Sarkopenie betrifft in Deutschland rund 6 % aller über 65-Jährigen.

  • Der Screeningfragebogen für Sarkopenie (SARC-F) stellt ein einfaches Screeninginstrument in der Primärversorgung dar.

  • Zur Sarkopeniediagnostik werden zuerst die Arm- und Beinmuskelkraft und, sofern diese pathologisch erniedrigt ist, der relative Skelettmuskelindex bestimmt.

  • Ursachenabklärung und Therapie sollten bereits bei Vorliegen einer beeinträchtigten Muskelkraft ohne Reduktion der Muskelmasse eingeleitet werden.

  • Krafttraining in Verbindung mit ausreichender Proteinzufuhr sind die Maßnahmen mit dem größten nachgewiesenen Nutzen in der Behandlung.