Zusammenfassung
Von Ambivalenzen ist in der Gerontologie oft die Rede. Meistens geschieht dies in einem umgangssprachlichen Sinne. Demgegenüber vertreten wir die Auffassung, dass ein historisch-systematisch elaboriertes Konzept von Ambivalenz wichtige Potenziale für die Theorie, Methodologie und Praxis der Gerontologie hat. Wir begründen dies am Beispiel einer Heuristik zur Analyse von Prozessen der Konstitution und Rekonstitution von Identitäten im Alter mithilfe eines Modells, basierend auf einem mehrdimensionalen Verständnis von Ambivalenz. Diese wird definiert als Ausdruck von Erfahrungen des „Vaszillierens“ zwischen entgegengesetzten Polen des Fühlens, Denkens, Wollens und sozialer Strukturen in der handlungsrelevanten Suche nach Sinn und Bedeutung sozialer Beziehungen, Fakten und Texten, die für das Entfalten und Verändern von Facetten persönlicher und kollektiver Identitäten bedeutsam sind.
Abstract
Ambivalence is a widely used concept in gerontology, mostly used in the common sense meaning. We propose that an elaborated notion based on the historical and systematic analysis, reveals important theoretical, methodological and practical potentials of the idea of ambivalence for the study of aging. We exemplify this view by proposing a heuristic perspective for the analysis of processes to constitute and reconstitute identities in old age using a model based on a multidimensional understanding of ambivalence. Ambivalence is defined as referring to the experiences of vacillating between polar contradictions of feeling, thinking, wanting and social structures in the search for the sense and meaning of social relationships, facts and texts, which are important for unfolding and altering facets of the self and agency.
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Danksagung
Die Arbeiten von Kurt Lüscher werden vom Exzellenzcluster 16, Kulturelle Grundlagen von Identität, der Universität Konstanz unterstützt.
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K. Lüscher und M. Haller geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen und Tieren.
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Lüscher, K., Haller, M. Ambivalenz – ein Schlüsselbegriff der Gerontologie?. Z Gerontol Geriat 49, 3–9 (2016). https://doi.org/10.1007/s00391-015-0997-6
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