Der Weg von NGM zum nNGM

Seit seiner Gründung im Jahre 2012 versorgt das Netzwerk Genomische Medizin (NGM) nun ca. 10 % aller jährlich in Deutschland neu diagnostizierten, fortgeschrittenen Lungenkrebspatienten zentral im Institut für Pathologie der Uniklinik Köln mit modernster molekularpathologischer Diagnostik, informiert in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Kölner Lungenkrebs-Studiengruppe (LCGC) über die Behandlungsmöglichkeiten mit zugelassenen Therapien entweder im Rahmen von Off-label-Therapien oder bevorzugt in laufenden klinischen Studien mit neuesten zielgerichteten Medikamenten. Die zentrale Datenbank in Köln beinhaltet mittlerweile die molekularen und klinischen Daten von über 20.000 Lungenkrebspatienten und ermöglicht die kontinuierliche Publikation von Outcomeergebnissen personalisierter Therapien in genetisch definierten Subgruppen. Das NGM bietet für weitere Indikationen neue eigeninitiierte klinische Studien und begleitet alle Patienten über die intersektoralen Netzwerkpartner (Krankenhäuser und Praxen) mit dem Ziel, weitere moderne Therapieverfahren ortsnah in der flächendeckenden onkologischen Versorgung anzubieten. Dabei sind paradigmatische Strukturen in der qualitätsorientierten Tumorgenomsequenzierung mit Next-Generation-Sequencing(NGS)-Verfahren sowie in der Einführung neuer innovativer Therapien entwickelt worden. Seit der erstmaligen Finanzierung im Rahmen eines Vertrages zur Integrierten Versorgung (IV) § 140 a ff. mit der AOK Rheinland-Hamburg im April 2014 hat diese Struktur nationale und internationale Anerkennung erfahren [1]. Es konnten bereits früh überzeugende Überlebensdaten von Lungenkrebspatienten, die die Effektivität einer raschen Umsetzung neuer Therapieverfahren von der Forschung in die Versorgung belegen, gezeigt werden [2]. Mittlerweile sind 15 große gesetzliche Krankenkassen dem IV-Vertrag beigetreten. Aufbauend auf diesen Daten hat die Deutsche Krebshilfe (DKH) im Rahmen einer ihrer größten Einzelfördermaßnahmen das NGM auf alle zum Zeitpunkt der Erstantragsstellung bestehenden onkologischen Spitzenzentren (Netzwerkzentren) ausgerollt. Eines der Ziele ist es, die Diagnostikfinanzierung durch Erweiterung von bestehenden Selektivverträgen auf alle Netzwerkzentren und alle Krankenkassen unter Einhaltung hoher Qualitätskriterien zu sichern und langfristig in die Regelversorgung zu überführen. Kernelemente des nationalen Netzwerks Genomische Medizin (nNGM) sind die fortlaufende Weiterentwicklung molekularpathologischer Diagnostik innerhalb der Institute für Pathologie der Netzwerkzentren, der Aufbau regionaler Netzwerke zur Anbindung möglichst vieler klinischer Netzwerkpartner, die interdisziplinäre Analytik, zentrale Evaluation, Beratung und gemeinsame Therapieplanung für die Patienten sowie die rasche Weiterentwicklung klinischer Studien für neue individualisierte Behandlungsansätze.

Struktur und Ziele des nNGM

Das Verbundprojekt zählt aktuell 15 Netzwerkzentren mit insgesamt 17 Standorten (inklusive Centrum für Integrierte Onkologie [CIO] Köln/Bonn und Comprehensive Cancer Center [CCC] am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität [LMU] sowie Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität [TU] München; www.nngm.de; Infobox 1). Zur Erreichung der Ziele wurden Arbeitspakete definiert und Task Forces (TF) zugeordnet. Im Einzelnen behandeln diese die Harmonisierung und Weiterentwicklung (TF1a) sowie die Qualitätssicherung der molekularen Diagnostik (TF1b) innerhalb der deutschen Pathologie, die Dokumentation und Evaluation (TF2), Beratung (TF3), klinische Studien (TF4), Kostenerstattung (TF5) sowie translationale Forschungsanbindung (TF6). Im nNGM soll prototypisch eine Strategie zum Innovationstransfer in der Onkologie erarbeitet und umgesetzt werden, die eine schnelle Etablierung innovativer Therapien in der breiten Patientenversorgung unterstützen kann.

In der TF1a (Molekulare Diagnostik) wurde ein gemeinsames Genpanel für die Next-Generation-Sequencing(NGS)-Diagnostik im Netzwerk konsentiert, außerdem wurden die Librarypräparation und die NGS-Sequenzierplattformen vereinheitlicht. Ebenfalls wurde die Diagnostik der aktuell nicht durch NGS erfassten Aberrationen (Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung [FISH], Chromogenic-in-situ-Hybridisierung [CISH], Immunohistochemie [IHC]) harmonisiert. Ein Schwerpunkt der aktuellen Aktivitäten ist die Implementierung einer auf „hybrid capture“ basierten NGS-Diagnostik, die sowohl separate FISH-Analysen ersetzt als auch die Messung von „tumor mutational burden“ (TMB) integriert. Grundlegende Philosophie ist eine firmenunabhängige Diagnostik innerhalb der Institute für Pathologie der Netzwerkzentren, die durch Krankenkassen in Deutschland finanziert werden soll. Flankierend zu den Arbeiten der TF1a wurde in der TF1b ein Qualitätssicherungsprogramm für die molekulare Multiplexdiagnostik implementiert, welches eine Bestandsaufnahme der Qualität der molekularen Diagnostik an jedem Zentrum sowie in Assoziation mit der nationalen Qualitätssicherungs-Initiative Pathologie (QuIP) Ringversuche zur Qualität von Einzelgentestungen und nNGM-spezifische NGS-Proficiency- und NGS-Performance-Testungen beinhaltet. In TF2 (Dokumentation und Evaluation) wurde ein gemeinsamer Datensatz für molekulare Marker und klinische Parameter unter den Netzwerkzentren und Vertretern der CRISP(Clinical Research Platform Into Molecular Testing, Treatment and Outcome of Non-Small Cell Lung Carcinoma Patients)-Registerstudie (NCT02622581; clinicaltrials.gov) der Arbeitsgemeinschaft für Internistische Onkologie (AIO) konsentiert als Grundlage für die Datenerfassung in der neuen klinischen zentralen nNGM-Datenbank in Köln. Nicht unerwartet stellte die Erarbeitung einer Architektur für die bidirektional nutzbare klinische Datenbank eine große Herausforderung dar. Daher wurde ein flexibles Konzept, angepasst an die unterschiedliche IT-Infrastruktur in den Netzwerkzentren, erarbeitet und in Teilbereichen umgesetzt. Dabei werden die bestehenden Strukturen des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK) in enger Kooperation und Abstimmung mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) berücksichtigt, um eine Doppelerfassung der Daten zu vermeiden. Darüber hinaus findet die Zusammenarbeit mit dem DKTK auch über die Clinical-Communication-Platform(CCP)-IT im Bereich der klinischen Studien statt. Auch wurde in Zusammenarbeit mit Vertretern des NCT/DKTK-MASTER(Nationales Zentrum für Tumorerkrankungen/Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung – Molecularly Aided Stratification for Tumor Eradication)-Programms und des Kompetenz-Centrums Onkologie (KCO) des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) eine gemeinsame Definition von Evidenzgraden als Grundlage für einheitliche Therapieinformationen und Off-label-Behandlungsindikationen erarbeitet. In der TF4 (Klinische Studien) wurde zunächst eine Bestandsaufnahme der molekular stratifizierten Studien im Netzwerk als Grundlage für die aktuell erfolgende Harmonisierung des Studienportfolios vorgenommen. In Zusammenarbeit mit Vertretern des CCP-Office und der TF2 wurde ein zentrales Studienregister eingeführt (https://www.nngm.de/studien/) und die Erstellung von Standard Operating Procedures (SOP) zum einheitlichen Therapiemonitoring und zur Durchführung von Rebiopsien initiiert. Auch eine investigatorinitiierte Phase-II-nNGM-Studie zur Evaluation eines FGFR-Inhibitors in FGFR-aberranten Plattenepithelkarzinomen der Lunge wurde in 2018 im nNGM initiiert. In der TF5 (Kostenerstattung) wurde in enger Zusammenarbeit mit den Krankenkassen (AOK-Bundesverband, VDEK) ein Vertrag zur Besonderen Versorgung nach § 140a Sozialgesetzbuch (SGB) V zur Pauschalvergütung der molekularen Multiplexdiagnostik und der Beratungsleistung vorbereitet. In TF6 (Translationale Forschung) wurde schließlich eine Strategie zur Interaktion des nNGM mit existierenden Forschungsprojekten zu Lungenkrebs erarbeitet. Hier wurden bereits 2 Pilotprojekte zur Untersuchung der genomischen Veränderungen im longitudinalen Verlauf der Lungenkrebserkrankung und zur methodischen Analyse der Ergebnisvariabilität genomischer Analysen (in Zusammenarbeit mit DKTK) initiiert. Ein Überblick über die Struktur des Verbundes findet sich in Abb. 1.

Abb. 1
figure 1

Struktur des nationalen Netzwerks Genomische Medizin (nNGM)

Erweiterung des nNGM zu einer flächendeckenden Versorgung in Deutschland

Der Aufbau interdisziplinär arbeitender Netzwerkzentren mit Spezialisten für molekularpathologische Diagnostik, Bioinformatikern, Pathologen, aber auch Pneumologen, Onkologen, Radiologen, Strahlentherapeuten, Nuklearmedizinern und Thoraxchirurgen ist ein überzeugendes Modell, um die komplexe Molekularpathologie innerhalb der Pathologie und innerhalb eines öffentlichen Gesundheitssystems zu halten. Länder, in denen dies erfolgreich vollzogen wurde (Frankreich INCa, „Institut national du cancer“ [3]; Deutschland nNGM), haben damit ein Modell, um den Verlust dieser Diagnostik an internationale Großkonzerne zu verhindern. Erfahrungsgemäß verliert damit das öffentliche Gesundheitswesen nicht nur die Expertise in diesen diagnostischen Schlüsseltechnologien, sondern auch die Datenhoheit und die Fähigkeit zu Innovationen bei der Einführung neuer Therapien. Zugleich steht diese häufig sehr teure Diagnostik dann nur einem kleineren Teil an wohlhabenden, selbst zahlenden Patienten zur Verfügung. Das nNGM lebt von der Rationale, diese Kernexpertisen und die Innovationen bei onkologischen Therapien innerhalb unseres öffentlichen Gesundheitssystems selbst zu steuern. Dafür sollen in Zukunft weitere wichtige Repräsentanten der Versorgungslandschaft von Lungenkrebs als zentrale Netzwerkstandorte ins nNGM integriert werden mit bis zu maximal 40 Standorten flächendeckend über ganz Deutschland verteilt. Die avisierte Zahl lehnt sich an bewährte Strukturen im Ausland an, z. B. Frankreich mit 27 InCa-Zentren, und soll verhindern, dass nicht leistungsfähige Netzwerkzentren entstehen, die weniger als 500 Fälle pro Jahr bearbeiten.

Bereits jetzt verfügt die Mehrzahl der nNGM-Netzwerkzentren über ein integriertes DKG-zertifiziertes Lungenkrebszentrum. Es ist geplant, auch mit den darüber hinaus bestehenden Lungenkrebszentren eine enge Integration einzugehen, entweder durch Einbindung in ein bestehendes Netzwerk oder durch die Aufnahme und Qualifikation als neues Netzwerkzentrum. Dadurch würde gewährleistet, dass diese nach Qualitätskriterien organisierten Zentren Zugang zu innovativen Strukturen, Studien und einer High-end-Molekulardiagnostik erhalten. Wünschenswert wäre hierbei, dass unser Berufsverband ein Modell für eine dem Facharzt gleichwerte Berufsordnung von naturwissenschaftlich ausgebildeten Molekularpathologen entwickelt, um die Expertise in diesen Zentren sicherzustellen. Förderung von Netzwerkstrukturen mit fachübergreifender Expertise ist essenziell für die zukünftige Behandlung von onkologischen Patienten und für einen schnelleren Transfer von Forschungsergebnissen in die Patientenversorgung [4].

Wichtige Kernkriterien für neue Netzwerkzentren sind die Darstellung dieser interdisziplinär arbeitenden Diagnostik, Therapieplanung und Beratung, eine ausreichende Größe (>500 Fälle/Jahr), der Aufbau eines regionalen Netzwerkes mit ambulanten und stationären onkologischen Partnern, für die molekulare Diagnostik und Beratung (ggf. in gemeinsamen Tumorboards) zentral organisiert werden soll, sowie Erfahrungen bei klinischen Studien und der Einführung neuer Therapien. Diese Zentren müssen hohe qualitative Standards aufweisen, regelmäßig an externen Qualitätssicherungsmaßnahmen teilnehmen und eine Akkreditierung besitzen. Die diagnostischen Daten, Therapien und das Outcome (Therapieansprechen und Überlebensdaten) müssen in die zentrale klinischen nNGM-Datenbank in Köln eingespeist und können zentral von nNGM-Mitgliedern evaluiert werden. Die molekularen Daten werden in einem nNGM-Portal der informierten Öffentlichkeit für die weitere Beratung bei molekularen Befunden zur Verfügung stehen. Das Wissen des nNGM wird damit dem deutschen Gesundheitssystem und darüber hinaus der informierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, ganz im Gegenteil etwa zur BRCA-und Krebsmutationsdatenbank von privaten Firmen, wie z. B. Myriad Genetics, Inc. (Salt Lake City, USA) oder Foundation Medicine (Cambridge, USA).

Die fortwährende Analytik des nNGM ist ein wichtiges Instrument zur Sicherstellung von Innovation im Gesundheitssystem, insbesondere bei Patienten mit selteneren genomischen Veränderungen. So konnte nNGM die entscheidenden Daten zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Verlängerung des Überlebens bei Patienten mit ALK-Translokationen unter Tyrosinkinaseinhibitor(TKI)-Therapie liefern. Erst kürzlich konnten wir Unterschiede im Überleben unter TKIs bei kleineren Subgruppen finden (ALK/p53 mutiert vs. ALK/p53-Wildtyp), sodass innerhalb unseres Verbundes für solche kleineren Subgruppen verbesserte kombinatorische Subgruppen getestet werden können [5, 6]. Außerdem schließt das nNGM eine wichtige Versorgungslücke: Real-world-Daten aus dem CRISP („Clinical Research Platform Into Molecular Testing, Treatment and Outcome of Non-Small Cell Lung Carcinoma Patients“) zeigen, dass mehr als 10 Jahre nach Einführung von EGFR-TKI-Therapie noch immer mehr als jeder vierte Lungenkrebspatient nicht vor auf EGFR-Mutationen vor der Erstlinientherapie getestet wird [7].

Infobox 1 Übersicht der Netzwerkzentren (www.nngm.de)

  • Charité Universitätsmedizin Berlin

  • Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden

  • Universitätsklinikum Düsseldorf

  • Universitätsklinikum Erlangen

  • Westdeutsches Tumorzentrum der Universitätsmedizin Essen

  • Universitäres Centrum für Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum Frankfurt

  • Universitätsklinikum Freiburg

  • Hubertus Wald Tumorzentrum am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

  • Nationales Centrum für Tumorerkrankungen und Universitätsklinikum Heidelberg

  • Centrum für Integrierte Onkologie am Universitätsklinikum Köln und Universitätsklinikum Bonn (CIO Köln/Bonn)

  • Universitätsmedizin Mainz

  • Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München und Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (Comprehensive Cancer Center München)

  • Universitätsklinikum Tübingen (Comprehensive Cancer Center Tübingen-Stuttgart)

  • Universitätsklinikum Ulm

  • Uniklinikum Würzburg (Comprehensive Cancer Center Mainfranken)

Fazit für die Praxis

Der Verbund „nationales Netzwerk Genomische Medizin“ (nNGM) behebt als sinnvolle Erweiterung des Netzwerks Genomische Medizin (NGM) ein schweres Defizit bei der Versorgung von Lungenkrebspatienten. Real-world-Daten aus dem CRISP(Clinical Research Platform Into Molecular Testing, Treatment and Outcome of Non-Small Cell Lung Carcinoma Patients)-Register zeigen, dass mehr als 10 Jahre nach Einführung von EGFR-TKI-Therapien noch immer jeder vierte Lungenkrebspatient nicht auf EGFR-Mutationen vor der Erstlinientherapie getestet wird. Bei selteneren Veränderungen, wie z. B. ROS1-Translokationen, sind es sogar nur 53 % aller Patienten. Wenn die Versorgung aller Patienten auch in der Peripherie zu einem ökonomisch vertretbaren Aufwand sichergestellt werden soll, gibt es zu Modellen wie nNGM oder „Institut national du cancer“ (INCa) keine Alternative. Dabei stellt der nNGM-Verbund auch die Versorgung durch ortsnah tätige Pathologien weiterhin sicher, die dann nicht in ökonomisch unrentable Großinvestitionen getrieben bzw. von Großkonzernen aufgekauft werden oder ihre molekulare Diagnostik an diese weiterleiten müssen. Die Rationale des nNGM besteht vielmehr in einer ortnahen Versorgung durch regional tätige Pathologieinstitute, Thoraxchirurgen und Onkologen bei gleichzeitiger Sicherstellung innovativer und interdisziplinärer Diagnostik und Weiterentwicklung von Therapien in Studien durch die Netzwerkzentren.