Trotz hoher Prävalenzraten psychischer Störungen im Jugendalter ist die Behandlungsrate gering. Hauptgründe im Jugendalter sind Wissensdefizite und Angst vor Stigmatisierung. Niederschwellige Interventionen wie Aufklärungsbroschüren können Barrieren zur Inanspruchnahme von Psychotherapie senken. Bislang ist noch kaum erforscht, welchen Einfluss das Lesen einer Broschüre auf Wissenserweiterung, stigmatisierende Einstellungen oder die Bereitschaft, im Fall von psychischen Problemen eine Psychotherapie aufzunehmen, hat. Auch die Evaluation der Akzeptanz ist wichtig, um eine hohe Dissemination zu gewährleisten.

Hintergrund und Ziel der Arbeit

In Deutschland hat sich im Verlauf der Coronapandemie die Prävalenz für psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen von 17,6 % auf 30,4 % stark erhöht (Ravens-Sieberer et al. 2021). Obwohl die Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen empirisch belegt ist (Weisz et al. 2017), ist die Diskrepanz zwischen der Prävalenz psychischer Störungen und deren Behandlungsrate mit 20 % bei Kindern und Jugendlichen hoch (Hintzpeter et al. 2014). Da sich 50 % aller psychischen Störungen der Erwachsenen im Lebensalter unter 18 Jahren manifestieren (Solmi et al. 2021), ist der Fokus auf das Jugendalter besonders wichtig, um die negativen Konsequenzen psychischer Störungen auf die einzelne junge Person und auch auf die Gesellschaft zu reduzieren. Was jedoch hält bisher viele Jugendliche davon ab, bei Vorhandensein von psychischen Auffälligkeiten oder Befindlichkeitsstörungen den Weg zur psychotherapeutischen Behandlung zu nehmen bzw. zu finden? Fehlendes Wissen bezüglich psychischen Störungen und Hilfsangeboten sowie die stigmatisierenden Einstellungen gegenüber psychischen Störungen (für einen Überblick: Aguirre Velasco et al. 2020) zählen zu den zwei meistgenannten Hemmschwellen zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe unter Jugendlichen. In einer qualitativen retrospektiven Befragung von jugendlichen Patient:innen in ambulanter Psychotherapie nannten 26 % mangelnde Informationen und Transparenz zum Psychotherapiesetting als Hemmschwelle (Pfeiffer und In-Albon 2021).

In Bezug auf die Stigmatisierung kann zwischen dem wahrgenommenen öffentlichen Stigma, dem öffentlichen Stigma und dem Selbststigma unterschieden werden (Corrigan 2004). Die Entwicklung von Selbststigma kann in mehrere Stufen unterteilt werden (Watson et al. 2007): Die erste Stufe ist Stigmabewusstheit, die Kenntnis von Stereotypen von Menschen mit psychischen Störungen (z. B.: Menschen mit psychischen Störungen sind schwach). Die zweite Stufe ist die Stigmazustimmung, die Zustimmung zu diesen Stereotypen (z. B.: Ich stimme zu, dass Menschen mit psychischen Störungen schwach sind). Die dritte Stufe ist die Anwendung der Stereotypen auf sich selbst (z. B.: Weil ich eine psychische Störung habe, bin ich schwach) als Stigmaanwendung. Als Folge von Selbststigma (vierte Stufe) resultieren ein geringer Selbstwert und eine geringe Selbstwirksamkeit. In Erwachsenenstichproben gibt es Hinweise, dass Selbststigma eine stärkere Hemmschwelle darstellt als wahrgenommenes öffentliches Stigma und mit negativen Einstellungen in Bezug auf Hilfesuchverhalten assoziiert ist (Vogel et al. 2006).

Niedrigschwelliges präventives Vorgehen, wie etwa Aufklärungsbroschüren oder Informationsmaterial, haben sich in der Vergangenheit als hilfreich erwiesen, um Wissen und positive Einstellungen gegenüber psychischen Störungen zu steigern (Allgaier et al. 2011; Sawamura et al. 2010) und eine gute Akzeptanz zu erzielen (Sharpe et al. 2017). Bisher wurden störungsspezifische oder an Erwachsene gerichtete Informationsmaterialien konzipiert und angewandt (Allgaier et al. 2011; Sawamura et al. 2010) oder der Fokus auf das Selbstmanagement von psychischen Problemen gelegt (Sharpe et al. 2017). Was jedoch fehlt, ist eine evaluierte Broschüre für die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Thema psychische Störungen und Psychotherapie. Daher ist das Ziel dieser Studie die Evaluation einer Aufklärungsbroschüre für Jugendliche zu psychischen Störungen und Psychotherapie in Bezug auf Wissen, den Einfluss auf stigmatisierende Einstellungen gegenüber psychischen Störungen sowie die Bereitschaft, eine Psychotherapie aufzunehmen. Zusätzlich wurde die Akzeptanz der Broschüre sowohl von Psychotherapeut:innen als auch von Jugendlichen erfasst.

Methode

Rekrutierung und Einschlusskriterien

In der ersten Erhebungsphase vom Mai bis Juni 2019 wurde Wissen, Akzeptanz und die Bereitschaft, im Fall einer psychischen Störung eine Psychotherapie aufzunehmen, mithilfe eines Paper-Pencil-Formats und einer analogen Version der Broschüre erfasst. In der zweiten Erhebungsphase vom Mai bis Juni 2021 fand die Online-Erhebung mithilfe der Applikation SoSci-Survey statt; in dieser Phase erhielten die Teilnehmenden die Broschüre digital (Abb. 1). Eine Übersicht zum Studiendesign findet sich in Abb. 2.

Abb. 1
figure 1

QR-Code zur Broschüre

Abb. 2
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Studiendesign zur Evaluation der Broschüre Normal? Was ist das schon! FU Follow-up

Einschlusskriterium für Psychotherapeut:innen war eine Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:in oder als Psychologische (r) Psychotherapeut:in mit Fachkunde Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Die Rekrutierung der Jugendlichen sowie der Expert:innen erfolgte über E‑Mail, soziale Medien und an Schulen mithilfe einer Poster- und Flyerverteilung. Einschlusskriterium für Jugendliche war ein Alter zwischen 15 und 21 Jahren, da ab dem Alter von 15 Jahren eine Studienteilnahme ohne Einverständniserklärung der Eltern möglich ist und das 21. Lebensjahr die Grenze für eine Behandlung bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen ist.

Eine A‑priori-Analyse mit G*Power (Version 3.1.9.7) ergab einen adäquaten Stichprobenumfang von 66 Versuchspersonen für die Durchführung einer multivariaten Varianzanalyse (MANOVA) mit Messwiederholung und 3 Messzeitpunkten, um einen mittleren Effekt auf einem α‑Niveau von 5 % und mit einer Teststärke von 1−β = 0,95 aufdecken zu können.

Stichproben

Jugendliche

Es nahmen 190 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 21 Jahren (M = 18,2 Jahre, SD ± 1,8 Jahre) an der Studie teil; von diesen identifizierten sich 80 % als weiblich, 17 % als männlich und 3 % als divers. Von den Teilnehmer:innen waren 71 % Schüler:innen (35 % waren Schüler:innen einer Gesamtschule, 36 % waren Schüler:innen eines Gymnasiums), und 39 % hatten das Abitur (38 % der Teilnehmer:innen waren Studierende, 1 % war in einer Ausbildung). Die Diagnose einer psychischen Störung zu haben, gaben 8 % an. Es berichteten 37 %, psychische Probleme zu haben, 13 % berichteten, deswegen professionelle Hilfe in Anspruch genommen zu haben. Dass sie im Familien‑, Freundes- oder Bekanntenkreis mindestens eine Person kennen, die von einer psychischen Störung betroffen ist, berichteten 72 %.

Expert:innen

Am Expert:innen-Rating (Evaluation der Akzeptanz) nahmen insgesamt 30 Psychotherapeut:innen teil (M = 35,1 Jahre, SD ± 8,0 Jahre); von diesen befanden sich 50 % in der Ausbildung und 40 % haben einen Kassensitz. Einen Schwerpunkt in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie hatten 87 %, und 93 % hatten einen verhaltenstherapeutischen Schwerpunkt.

Messinstrumente für Jugendliche

Soziodemografische Daten und Psychotherapieerfahrung

Zu Beginn der Studie wurden Alter, Geschlecht, Bildungsstatus und Schulform erfragt. Das Vorliegen der Diagnose einer psychischen Störung („Ich habe oder hatte die Diagnose einer psychischen Störung bekommen“), die eigene Erfahrung von Psychotherapie („Ich habe eine Psychotherapie gemacht oder mache aktuell eine Psychotherapie“) und die Vertrautheit mit Menschen mit psychischen Störungen („Ich kenne jemand im Familien‑, Freundes- oder Bekanntenkreis mit der Diagnose einer psychischen Störung“) wurden mithilfe eines Items im dichotomen Format („ja“, „nein“) abgefragt.

Psychotherapiewissen

Psychotherapiewissen wurde über einen Wissenstest mit 11 Aussagen erfasst; der Test erhebt den Inhalt der Broschüre mit 3 Antwortalternativen (stimmt, stimmt nicht und weiß nicht). Die Wissensitems sind in Tab. 1 aufgeführt.

Tab. 1 Evaluation des Wissenszuwachses (n = 190) nach dem Lesen der Broschüre im Prä‑, Post- und Follow-up-Vergleich

Self-Stigma of Mental Illness Scale

Zur Erfassung stigmatisierender Einstellungen wurden 3 von 4 Subskalen der Self-Stigma of Mental Illness Scale (SSMIS; Corrigan et al. 2006) verwendet: Die erste Subskala („awareness“) erfasst die Stigmabewusstheit, z. B. „Ich glaube, die Öffentlichkeit denkt, die meisten Menschen mit psychischen Störungen sind schuld an ihren Problemen“. Diese Subskala erfasst, ob und inwieweit die Befragten die negativen Stereotype über Menschen mit psychischen Störungen in der Gesellschaft kennen. Die zweite Subskala erfasst die Stigmazustimmung („agreement“), z. B. „Ich denke, die meisten Menschen mit psychischen Störungen sind schuld an ihren Problemen“, d. h. inwieweit die Proband:innen den wahrgenommenen öffentlichen Überzeugungen zustimmen. Die dritte Subskala erfasst Selbststigma, die Internalisierung von Stereotypen („application“), z. B. „Weil ich eine psychische Störung habe, bin ich schuld an meinen Problemen“. Die 3 Subskalen unterscheiden sich in den Einleitungssätzen der einzelnen Items. Jedes Item stellt eine Aussage dar, die auf einer 9‑stufigen Likert-Skala beurteilt wird (1: stimme absolut nicht zu, 9: stimme absolut zu). Diese Subskalen wurden vom Englischen ins Deutsche übersetzt und von einer unabhängigen Übersetzerin rückübersetzt. Anschließend wurde der Fragebogen von 3 Jugendlichen auf ausreichendes Verständnis bewertet. Die Subskalenwerte berechnen sich aus der Summe der jeweiligen Skala. Die internen Konsistenzen der 3 Subskalen der SSMIS, gemessen mit Cronbachs α, weisen laut Corrigan et al. (2006) zufriedenstellende Werte auf (α = 0,72 bis α = 0,89). Das Gleiche gilt für die Retest-Reliabilität mit Werten zwischen 0,68 und 0,82 (Corrigan et al. 2006). In dieser Studie betrug Cronbachs α zum ersten Messzeitpunkt 0,83 für die Subskala Stigmabewusstheit, 0,86 für die Subskala Stigmazustimmung und 0,86 für die Subskala Stigmaanwendung; damit weisen alle Subskalen gute Werte auf.

Antizipierte Bereitschaft zur Aufnahme einer Psychotherapie

Die antizipierte Bereitschaft zur Aufnahme einer Psychotherapie wurde über folgende Frage erfasst: „Wie wahrscheinlich ist es, dass Du aufgrund von psychischen Problemen eine Psychotherapie machen bzw. erneut aufnehmen würdest?“ Die Beantwortung der Frage erfolgt auf einer Prozentskala in Zehnerstufen von 0–100.

Akzeptanz-Ratings

Mit dem Akzeptanz-Rating wurde die Meinung der Teilnehmenden „im Hinblick auf inhaltliche und gestalterische Aspekte“ anhand von 13 Items auf einer 6‑stufigen Likert-Skala von (1: stimme gar nicht zu bis 6: stimme voll zu) erfasst. Zusätzlich sollten die Teilnehmenden eine Schulnote für die Broschüre insgesamt vergeben. Am Ende des Fragebogens war ein freies Textfeld vorgesehen, in das die Jugendlichen Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge eintragen konnten. Für die interne Konsistenz des Akzeptanz-Ratings wurde in dieser Studie ein Cronbachs α = 0,80 ermittelt. Die Items des Akzeptanz-Ratings sind in Tab. 2 aufgeführt. Psychotherapeut:innen erhielten einen Akzeptanzfragebogen mit gleichen (angepassten) Items wie die Jugendlichen. Zusätzlich wurde nach der Korrektheit des Inhalts gefragt. Auch die Expert:innen sollten für die gesamte Broschüre eine Schulnote (1: sehr gut, 6: sehr schlecht) vergeben.

Tab. 2 Akzeptanz-Rating der Broschüre mit Mittelwerten ± Standardabweichungen der einzelnen Items

Broschüre Normal? Was ist das schon!

Die Aufklärungsbroschüre Normal? Was ist das schon! Wissenswertes über psychische Störungen und Psychotherapie vermittelt auf 23 Seiten Wissen über Psychotherapie und psychische Störungen. Ziel ist es, die Bereitschaft zur Aufnahme einer Psychotherapie zu steigern sowie Barrieren auf dem Weg dahin abzubauen. Die Inhalte der Broschüre wurden auf Grundlage der Muster-Berufsordnung für Psychologische Psychotherapeut:innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen konzipiert (Bundespsychotherapeutenkammer 2018). Nach Erstellung der Broschüre wurde eine Pilotstudie mit 7 Jugendlichen und 5 Expert:innen durchgeführt und Änderungsvorschläge zu Inhalten der Broschüre umgesetzt. Die Broschüre umfasst 7 Kapitel, die sich den folgenden Fragen widmen: (1) „Was sind psychische Störungen? (2) Was sind Anzeichen für eine psychische Störung? (3) Wie erkenne ich Hilfebedarf? (4) Wer sind Psychotherapeut:innen? (5) Was ist Psychotherapie? (6) Wie läuft eine Psychotherapie ab? (7) An wen kann ich mich wenden?“ Angereichert werden die Textbausteine durch Porträts und Gruppenaufnahmen von weiblichen und männlichen Jugendlichen im Alter von 15 bis 21 Jahren.

Studiendesign

Die Studie wurde von der lokalen Ethikkommission genehmigt und ist präregistriert (osf.io.a8t7k). Die Teilnehmenden wurden vorab über die Ziele der Studie informiert und gaben ihr aktives Einverständnis. In der ersten Erhebungsphase mit analoger Broschüre und Paper-Pencil-Version wurden in Schulklassen Wissen und die Bereitschaft, eine Psychotherapie aufzunehmen, vor dem Lesen der Broschüre (prä), nach dem Lesen der Broschüre (post) und 4 Wochen nach dem Lesen der Broschüre (Follow-up) erfasst. Die Akzeptanzerhebung fand innerhalb der Postmessung statt. In der zweiten Rekrutierungsphase wurden eine digitale Version der Broschüre und ein Online-Fragebogen verwendet und zusätzlich zum Wissen und zur Bereitschaft, eine Psychotherapie aufzunehmen, stigmatisierende Einstellungen erfasst. Die Teilnehmenden wurden randomisiert einer von 2 Experimentalbedingungen zugewiesen (Broschüre oder Videointervention). Für diese Studie werden nur die Daten der Evaluation der Broschüre verwendet. Um sicherzustellen, dass sich die Teilnehmenden ausreichend mit den Interventionen beschäftigen, war für das Lesen der Broschüre eine Mindestzeit von 7 min vorgesehen; nach deren Ablauf konnten die Teilnehmenden mit dem Ausfüllen der Fragebogen fortfahren. Die 7 min wurden als Minimallesezeit innerhalb der Pilotstudie erfasst. Die Teilnehmer:innen wurden über den Follow-up-Messzeitpunkt informiert und gebeten, ihre E‑Mail-Adresse, die separat von den Evaluationsdaten gespeichert wurden, zu hinterlegen. Zur Zuordnung der Follow-up-Daten erstellten die Jugendlichen einen pseudonymisierten Code. Die Teilnehmenden wurden 4 Wochen nach dem zweiten Messzeitpunkt für die Follow-up-Untersuchung per E‑Mail kontaktiert. Insgesamt wurden im Fall der Nichtteilnahme 3 weitere Erinnerungsmails im Abstand von 2 Tagen geschickt. Sowohl bei der analogen als auch bei der digitalen Version der Broschüre bestand während der Follow-up-Erhebung kein Zugriff auf die Broschüre mehr. Die Expert:innen nahmen nur zu einem Messzeitpunkt teil, mit dem Ziel der Evaluation der Akzeptanz der Broschüre.

Datenauswertung

Die Datenauswertung erfolgte mit R Studio (Version 2021.9.1). Eingeschlossen wurden alle Teilnehmer:innen, die die Studie vollständig mit allen 3 Messzeitpunkten abgeschlossen hatten.

Der Wissenszuwachs und Veränderungen in der Bereitschaft, eine Psychotherapie aufzunehmen, wurden mithilfe einfaktorieller Varianzanalysen mit Messwiederholung (Zeit als Innersubjektfaktor) berechnet. Für das Psychotherapiewissen wurde ein Gesamt-Wissensscore aus der Anzahl richtiger Antworten (richtige Antwort: 1; falsche Antwort oder „weiß nicht“: 0) errechnet. Veränderungen (Prä‑, Post- und Follow-up-Zeitpunkt) in Bezug auf Stigmamittelwerte wurden mithilfe einer MANOVA mit Messwiederholung berechnet. Die Voraussetzungen für beide Verfahren zeigten sich erfüllt. Im Anschluss wurden Bonferroni-korrigierte Post-hoc-Tests durchgeführt. Effektstärken für Analysen mit Messwiederholungen (Morris und DeShon 2002) wurden berechnet (dRM) und gemäß dRM > 0,20 (kleiner Effekt), dRM > 0,50 (mittlerer Effekt) und dRM > 0,80 (großer Effekt) interpretiert. Im Folgenden wird dRM mit d abgekürzt.

Ergebnisse

Wissenszuwachs und Stigmawerte

In Tab. 1 sind die Verteilungen der Antworten des Wissensscore für alle 3 Antwortmöglichkeiten richtig, falsch und weiß nicht angegeben. Die deskriptiven Werte des Wissensscores, der Stigmawerte und der Bereitschaft, im Fall von psychischen Problemen eine Psychotherapie aufzunehmen, sind in Tab. 3 über die 3 Messzeitpunkte abgebildet. Es zeigte sich, wie erwartet, ein signifikanter Effekt beim Wissenszuwachs über die Messzeitpunkte, F(2, 190) = 130,42, p > 0,001. Paarweise Vergleiche ließen einen signifikanten Anstieg des Wissens von prä zu post (p < 0,001) mit einem großen Effekt, d = 1,32, sowie eine Reduktion des Wissensscores von der Post- zur Follow-up-Messung (p < 0,001) mit einem mittleren Effekt, d = 0,49, erkennen. Zwischen der Prä- und der Follow-up-Messung blieb ein signifikanter Unterschied (p < 0,001) mit einem großen Effekt, d = 1,13.

Tab. 3 Mittelwerte und (Standardabweichung) der Wirksamkeitsevaluation der Broschüre für Wissenszuwachs (n = 190), Stigmawerte (n = 122) und die Wahrscheinlichkeit der Bereitschaft zur Aufnahme einer Psychotherapie (n = 190) zu 3 Messzeitpunkten

Die Ergebnisse der MANOVA mit Messwiederholung bezüglich Stigma zeigten einen signifikanten Effekt für Stigmawerte über die 3 Messzeitpunkte hinweg, F(2, 122) = 13,16, p = 0,01. Post-hoc-Analysen ergaben einen signifikanten Effekt für Stigmabewusstheit, F(2, 122) = 6,87, p = 0.01, und Stigmaanwendung, F(2, 122) = 1,38, p = 0.04, aber nicht für Stigmazustimmung F(2, 122) = 1,39, p = 0,21. In den Bonferroni-korrigierten paarweisen Vergleiche wurde eine signifikante Reduktion von Stigmabewusstheit zum zweiten Messzeitpunkt (p = 0,03) mit einem kleinen Effekt, d = 0.38, ersichtlich; dieser blieb aber in der Follow-up-Erhebung nicht stabil und stieg im Vergleich zur Postmessung mit einem kleinen, nichtsignifikanten Effekt, d = 0,26 (p = 0,01), wieder an, ohne signifikanten Unterschied im Vergleich zum ersten Messzeitpunkt (p = 1,00). Bei der Stigmaanwendung war ebenfalls eine Reduktion von prä zu post (p < 0,001) mit einem kleinen Effekt (d = 0,42), aber kein Unterschied zwischen Prä- und Follow-up-Zeitpunkt (p = 0,31) zu verzeichnen.

Die Intention, im Fall von psychischen Problemen eine Psychotherapie aufzunehmen, unterschied sich signifikant zwischen den 3 Messzeitpunkten, F(2, 122) = 19,29, p < 0,001. Post-hoc-Tests wiesen auf eine signifikante Steigerung der Intention zwischen der Prä- und Postmessung (p > 0,001) mit einem mittleren Effekt (d = 0,58) sowie der Prä- und Follow-up-Messung (p > 0,001) mit einem kleinen Effekt (d = 0,33) hin. In Bezug auf Unterschiede zwischen der analogen und der digitalen Version fanden sich ein Effekt für die Version, F(2, 190) = 21,88, p > 0,001, und ein Interaktionseffekt zwischen Version und Messzeitpunkt, F(2, 190) = 10,24, p > 0,001. Post-hoc-Analysen zeigten Unterschiede beim Wissenszuwachs, F(2, 190) = 130,42, p > 0,001, aber nicht bei der Bereitschaft, eine Psychotherapie aufzunehmen, F(2, 190) = 0,58, p = 0,75. Mithilfe der analogen Version stellten sich ein signifikanter Wissenszuwachs zwischen der Prä- (M = 6,2, SD ± 1,9) und der Postmessung (M = 8,5, SD ± 2,4; p > 0,001) in einem mittleren Effekt (d = 0,72) sowie ein Wissenszuwachs zwischen der Prä- und der Follow-up-Messung (M = 8,7, SD ± 1,9; p > 0,001) in einem großen Effekt (d = 0,82) ein. Mithilfe der digitalen Version wurde ebenfalls ein Wissenszuwachs zwischen der Prä- (M = 4,2, SD ± 1,9) und der Postmessung (M = 9,3, SD ± 1,1) mit einem großen Effekt (d = 1,62) sowie zwischen Prä- und Follow-up-Messung (M = 7,4, SD ± 1,3; p > 0,001) mit einem großen Effekt (d = 1,36) erzielt. Zusätzlich gab es zwischen der Post- und Follow-up-Messung eine Wissensverringerung (p > 0,001) mit einem großen Effekt (d = 2,04). Betrachtet man die Messzeitpunkte, hatten die Teilnehmer:innen mit der analogen Version ein geringeres Ausgangswissen, t(190) = 6,66, p < 0,001, im Vergleich zu den Teilnehmer*innen mit der digitalen Version. Zum Postzeitpunkt wurde ein höheres Wissen (und höherer Wissenszuwachs) in der Gruppe mit digitaler Version, t(190) = 2,96, p < 0.01, verzeichnet; zum Follow-up-Zeitpunkt ergab sich allerdings ein umgekehrter Vorteil mit einem höheren Wissenswert bei der analogen Version, t(180) = 5,17, p < 0,001, im Vergleich zur digitalen Version.

Akzeptanz

Die Akzeptanz der Broschüre, eingeschätzt durch die Jugendlichen (M = 1,8, SD ± 0,6) und der Expert:innen (M = 1,9, SD ± 0,6) lag mit der Vergabe von Schulnoten im sehr guten bis guten Bereich. Die Schulnote unterschied sich nicht zwischen der analogen (M = 1,8, SD ± 0,6) und der digitalen Version (M = 1,9, SD ± 0,6, t(180) = 1,28, p = 0,20). Die Ergebnisse für die Einzelitems der Akzeptanzbefragung finden sich in Tab. 2. Insgesamt wurde mit Ausnahme von 3 Items (Konzentration, Textmenge und Titel) eine gute Akzeptanz deutlich.

Diskussion

Ziel der Studie war die Evaluation der Broschüre Normal? Was ist das schon!. Konsistent mit den Ergebnissen von Allgaier et al. (2011) zeigte sich ein Wissenszuwachs in Bezug auf psychische Störungen und Psychotherapie, der auch zum Follow-up-Zeitpunkt erhalten geblieben ist. Ebenfalls hat sich die Bereitschaft, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, nach dem Lesen der Broschüre erhöht, sowohl zum Post- als auch zum Follow-up-Zeitpunkt. Dies verdeutlicht, dass bereits eine niedrigschwellige Intervention das Potenzial hat, durch eine gezielte Wissensvermittlung zu psychischen Störungen und Psychotherapie Hemmschwellen zur Aufnahme einer Psychotherapie abzubauen. Die digitale Version hatte kurzfristig (Postzeitpunkt) einen Vorteil gegenüber der analogen Version, nach 4 Wochen war allerdings das Wissen in der Gruppe mit analoger Version signifikant höher. Die digitale Version bietet u. a. eine schnellere Verfügbarkeit und geht mit geringeren finanziellen Ressourcen einher, die Ergebnisse bestätigen aber auch den langfristigen Nutzen von analogen Formaten.

Keinen nachhaltigen Effekt hatte die Broschüre auf stigmatisierende Einstellungen, die explorativ erhoben wurden. Hier stellt die Broschüre keine Erweiterung zu Intervention zur Entstigmatisierung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen dar, und es sollten zusätzliche Maßnahmen zur Steigerung der Inanspruchnahme von Psychotherapie angeboten werden, z. B. schulbasierte Interventionen mit Kontakt zu Menschen, die von psychischen Störungen betroffen sind, oder entstigmatisierende Psychoedukation (z. B. Conrad et al. 2010; für eine Übersicht: Aguirre Velasco et al. 2020).

Die Broschüre erzielte, vergleichbar mit anderen Studien zur Akzeptanz von Broschüren, ein gutes diesbezügliches Ergebnis sowohl bei Jugendlichen als auch bei Psychotherapeut:innen. Rückmeldungen der Jugendlichen (z. B. eine geringere Akzeptanz für die ausgewählten Fotos) wurden in einer revidierten Version der Broschüre angepasst. Der Text wurde aufgrund der niedrigeren Akzeptanzwerte zur Textmenge und zur Aufrechterhaltung der Konzentration beim Lesen übersichtlicher strukturiert und ansprechender aufbereitet (z. B. mit Zwischenbotschaften und farbiger Hervorhebung von Kernaussagen). Der Titel wurde eher als neutral bewertet, ggf. könnte eine Ausschreibung zur Gestaltung eines ansprechenderen Titels unter Jugendlichen vorgenommen und der Titel daraufhin ausgetauscht werden.

Als Limitationen sind die geringe Anzahl der männlichen Teilnehmer und die große Zahl der Teilnehmer:innen mit hohem Bildungshintergrund (Gymnasium) zu nennen. Es hatten hauptsächlich Schulklassen mit einem hohen Mädchenanteil zur Studienteilnahme gemeldet. Die Anzahl von Teilnehmer:innen mit psychischen Auffälligkeiten (Selbstbericht) war höher und ist nicht repräsentativ, im Vergleich zu Prävalenzzahlen von psychischen Auffälligkeiten in Deutschland (Ravens-Sieberer et al. 2021). Hier sollte eine zukünftige Evaluation auch die Akzeptanz und Wirksamkeit in einer repräsentativeren Stichprobe anstreben. Im Gegensatz zum Trial von Sharpe et al. (2017) wurde keine tatsächlich in Anspruch genommene Hilfe erfasst. Für deren Selbstmanagementbroschüre zeigte sich kein gesteigertes hilfesuchendes Verhalten nach der Bearbeitung der Broschüre. Zukünftige Studien sollten auch die didaktische Aufbereitung von Interventionen zur Steigerung von Wissen zu psychischen Störungen und Psychotherapie und Entstigmatisierung von psychischen Störungen untersuchen. Dies gilt es, insbesondere vor dem Hintergrund einer geringeren Akzeptanz in Bezug auf die Textmenge und begrenzte Aufrechterhaltung der Konzentration beim Lesen einer Broschüre zu berücksichtigen. Insgesamt weisen die Ergebnisse der Broschüre auf ein gutes Disseminationspotenzial hin. Der Mehrwert der Aufklärungsbroschüre liegt sowohl in der spezifischen Konzeption für das Jugendalter als auch auf dem Fokus der Wissensvermittlung zu Psychotherapie und psychischen Störungen.

Fazit für die Praxis

  • Das Lesen der vorgestellten Aufklärungsbroschüre zu psychischen Störungen und Psychotherapie Normal? Was ist das schon! kann bestehende Wissenslücken zu den Themen Psychotherapie und psychische Störungen unter Jugendlichen schließen.

  • Nach dem Lesen der Broschüre steigt die Bereitschaft, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen.

  • Das Durcharbeiten der Broschüre allein reicht nicht aus, um stigmatisierende Einstellungen gegenüber Menschen mit psychischen Störungen und Selbststigma abzubauen.

  • Sowohl im Expert:innen-Rating als auch innerhalb der Gruppe der Jugendlichen ist die Akzeptanz für die Broschüre gegeben. Dies zeigt das große Disseminationspotenzial der Aufklärungsbroschüre.