Nach Besserung ihrer Beschwerden haben viele Patient:innen den Wunsch, ihr Antidepressivum abzusetzen. Dieser Absetzwunsch wird oftmals durch mögliche Nebenwirkungen der Antidepressivaeinnahme wie Gewichtszunahme, emotionale Abgestumpftheit oder sexuelle Probleme verstärkt. Gleichzeitig sorgen sich Betroffene vor unangenehmen Absetzeffekten wie Kopfschmerzen und Stromschlaggefühlen. Erfahrungsberichte auf einschlägigen Internetseiten zu lang andauernden Beschwerden, die teils als Entzugssymptome beschrieben werden, tragen zur Verbreitung negativer Erwartungen bei. Dieser Beitrag fast die aktuelle Datenlage zu Absetzsymptomen zusammen und stellt psychotherapeutische Strategien vor, die beim Umgang mit Erwartungseffekten und bei der Begleitung von Patient:innen mit einem Absetzwunsch hilfreich sein können.

Placebo- und Noceboeffekte bei Antidepressiva

Die Wirksamkeit von Antidepressiva wird, wie bei allen Medikamenten, in randomisierten kontrollierten Studien über den Vergleich mit wirkstofffreien Placebopräparaten geprüft. In zahlreichen solcher Studien der letzten 30 Jahre sowie in großangelegten Metaanalysen zeigte sich eine statistische Überlegenheit der Antidepressiva gegenüber Placebo (Cipriani et al. 2018). Antidepressiva sind also wirksamer als Placebos. Aber wie groß ist ihr Effekt, und ist er neben der statistischen Signifikanz als klinisch bedeutsam anzusehen? Zu diesen Fragen entspann Anfang der 2000er-Jahre eine angeregte Debatte (Mora et al. 2011). Es zeigte sich, dass Effektstärken für Antidepressiva im Vergleich zu Placebo nach Berücksichtigung der sog. Publikationsverzerrung („publication bias“), also einer Vielzahl nichtveröffentlichter Studien sowie Studienteilergebnissen mit nichtsignifikanten Resultaten, lediglich als klein bis maximal mittel einzuschätzen sind (Kirsch et al. 2002). Die durchschnittliche Reduktion der Depressivität unter Einnahme eines Antidepressivums betrug 2 Punkte auf der Hamilton-Depressionsskala, einem etablierten, strukturierten klinischen Interview. Als klinisch relevante Besserung wird allerdings erst eine Mindestdifferenz von 3 bis 6 Punkten bewertet. Nach zusätzlicher Betrachtung des Schweregrads der Depression erwiesen sich Antidepressiva bei schweren depressiven Episoden als klinisch wirksam, nicht so jedoch bei leichten oder mittelgradigen depressiven Episoden (Kirsch et al. 2008). Insgesamt ist die Wirkdifferenz zwischen Antidepressivum und Placebo als klein zu bezeichnen; oder anders ausgedrückt: Unspezifische Effekte machen bis zu 80% der Wirksamkeit von Antidepressiva aus (Rief et al. 2009a). Teilnehmende Personen in den Placebogruppen klinischer Studien berichten neben den genannten positiven Effekten auch Nebenwirkungen, sog. Noceboeffekte. Interessanterweise sind diese Nebenwirkungen in den Placebogruppen sogar spezifisch für das jeweilige untersuchte Antidepressivum. Eine Metaanalyse ermittelte 3‑ bis 6‑mal so häufig Noceboeffekte in Form von Sehstörungen oder Mundtrockenheit in den Placebogruppen von Studien zu trizyklischen Antidepressiva im Vergleich zu Studien mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI; Rief et al. 2009b). Augenscheinlich haben spezifische Erwartungshaltungen einen Einfluss auf die berichteten Nebenwirkungen in den Placebogruppen. Dies unterstreicht die Bedeutung von Vorerfahrungen, Beobachtungen aus dem sozialen Umfeld sowie Informationen von Behandler:innen und aus den Medien, die zu unterschiedlichen Erwartungen an Medikamente beitragen (Rheker et al. 2017; Zilcha-Mano et al. 2019). Individuelle Behandlungserwartungen haben einen starken Einfluss sowohl auf die Wirksamkeit als auch auf die Verträglichkeit von Antidepressiva.

Langzeiteinnahme von Antidepressiva

Gesteigerte Einnahmedauer bei fehlender Indikation

Seit den 1990er-Jahren ist ein stetig steigender Verschreibungstrend für Antidepressiva in Industrienationen weltweit zu beobachten (Mojtabai und Olfson 2013). In Deutschland haben sich die seit dem Jahr 2000 verschriebenen Tagesdosen an Antidepressiva nahezu verdreifacht (Statista 2021). Dies trifft insbesondere für SSRI und selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) zu. Dieser Trend widerspricht den dargestellten Daten zur Wirksamkeit, die übereinstimmend mit der S3-Leitlinie (GPPN et al. 2015) eine Therapie mit Antidepressiva nur für schwere oder mittelgradige depressive Episode empfehlen. Neben einer verbesserten Diagnostik und einer Ausweitung der Indikation für Antidepressiva scheint insbesondere eine gesteigerte Einnahmedauer für diesen Anstieg verantwortlich zu sein. Untersuchungen zeigen, dass die Hälfe aller Personen, die mit Antidepressiva behandelt werden, diese länger als 2 Jahre und nahezu die Hälfte sogar länger als 5 Jahre einnehmen (Moore et al. 2009). Ein aktuelles Cochrane Review kommt zu dem Schluss, dass die Langzeiteinnahme in 30–50% der Fälle ohne Indikation stattfindet (Van Leeuwen et al. 2021; Ambresin et al. 2015). Viele Betroffene nehmen ihr Antidepressivum also weiter ein, obwohl keine klinische Notwendigkeit mehr besteht.

Was spricht dafür und was dagegen?

Nach erzielter Remission ist die Rückfallprophylaxe ein zentrales Ziel der Erhaltungstherapie mit Antidepressiva. Deutsche und internationale Leitlinien empfehlen eine Weitereinnahme nach erfolgter Remission mit gleichbleibender Dosierung von 4 bis 9 Monaten im Fall einer einzelnen depressiven Episode, oder wenn weitere leichte Episoden über 5 Jahre zurückliegen. Ab der dritten Episode bzw. bei rezidivierender Depression wird eine konstant dosierte Weitereinnahme von 24 Monaten empfohlen (Moore et al. 2009). Viele Studien zeigen einen Benefit der Erhaltungstherapie mit Antidepressiva gegenüber dem abrupten oder ausschleichenden Absetzen bei Personen mit remittierter Depression; durch eine Weitereinnahme können 50–60 % der beim Absetzen auftretenden Rückfälle verhindert werden. Erhöhte Rückfallraten zeigen sich ebenso beim Absetzen von Antipsychotika und weiteren psychiatrischen Medikamenten (Baldessarini und Tondo 2019), was generell als Argument für die Erhaltungstherapie bzw. teilweise für eine lebenslange Medikation angesehen wird. Die erhöhten Rückfallraten beim Absetzen sprechen für eine Langzeiteinnahme. Eine aktuelle Studie vergleicht ein ausschleichendes Absetzen mit anschließender Umstellung auf Placebo mit einer Weitereinnahme bei 478 Personen mit Absetzwunsch und erfüllten diagnostischen Kriterien für das Absetzen ihres Antidepressivums (Lewis et al. 2021). Nach einem Jahr waren in der Gruppe derjenigen, die abgesetzt und anschließend Placebo eingenommen hatten, knapp 20 % mehr Rückfälle aufgetreten, als in der Gruppe, die ihr Antidepressivum weitereingenommen hatte. Rückfälle wurden mithilfe von Selbstberichten retrospektiv über einen Zeitraum von jeweils 12 Wochen erfasst. Jeder fünfte Rückfall, der mit einem Wiederansetzen des ursprünglichen Antidepressivums verbunden war, ereignete sich in den ersten 12 Wochen nach dem Absetzen (Lewis et al. 2021). Unklar bleibt jedoch, welcher Anteil der Rückfälle auf ein tatsächliches Wiederauftreten der depressiven Erkrankung zurückgeht, und welcher Anteil auf Absetzsymptome, die als Anzeichen eines Wiederaufflammens der Depression fehlklassifiziert wurden, zurückzuführen ist (Hengartner und Plöderl 2021). Die Gefahr, Symptome eines depressiven Rückfalls mit Absetzbeschwerden zu verwechseln, entsteht zum einen dadurch, dass sich die Beschwerden ähneln und überlappen können, und zum anderen dadurch, dass sie rasch nach dem Absetzen oder Herunterdosieren auftreten und somit vorhandene Ängste vor einem Rückfall verstärken können. Die Mehrheit der in Absetzstudien registrierten depressiven Rückfälle ereignete sich innerhalb der ersten Wochen nach dem Absetzen. Mithilfe einer Zeitreihenanalyse an 3874 Personen, die an Absetzstudien teilgenommen haben, konnten Forschende in einer aktuellen Reanalyse zeigen, dass der prophylaktische Effekt der Erhaltungstherapie hauptsächlich in den ersten 3 bis 6 Wochen nach dem Absetzen auftritt. Die Wirkdifferenz der Erhaltungstherapie im Vergleich zum Absetzen bzw. zu Placebo war bereits nach 6 Wochen zu 50 % und nach 12 Wochen zu 70 % erreicht. Nach 24 Wochen ergab sich im Zeitverlauf kein weiterer Benefit der Weitereinnahme, obschon diese über den einjährigen Studienzeitraum insgesamt mit signifikant weniger Rückfällen verbunden war (Hengartner und Plöderl 2021). Es mutet seltsam an, dass die Schutzwirkung der Erhaltungstherapie ihren Effekt lediglich in den ersten Wochen nach dem Absetzen zeigt und der Benefit gegenüber Placebo nach 12 Wochen nicht mehr nachweisbar ist. Folgerichtiger erscheint es zu vermuten, dass es sich bei diesen frühen Rückfällen überwiegend gar nicht um solche handelt, sondern um missverstandene und somit fehlklassifizierte Absetzsymptome. Die Autoren diskutieren insbesondere die Rolle des Absetzzeitraums und vermuten, dass Absetzsymptome verstärkt auftreten können, wenn dieser zu kurz gewählt wird (Hengartner und Plöderl 2021). Gegen eine Langzeiteinnahme sprechen neben der fehlenden Indikation zur Weitereinnahme bei Personen mit ausreichend lang remittierter Depression auch die Zweifel an der rückfallpräventiven Wirkung der Erhaltungstherapie. Weiterführende Untersuchungen zum Zeitverlauf der depressiven Beschwerden und der Absetzsymptome bei Personen, die die Anwendung eines Antidepressivums beendet haben, sind angezeigt. Besonders relevant für künftige Forschung erscheint die Analyse der Wechselwirkungen von pharmakologischen und psychologischen Faktoren im Sinne von Erwartungen und Ängsten.

Absetzsymptome

Beschwerdebild und Erwartungseffekte

Beim Herabdosieren oder beim abrupten Absetzen von Antidepressiva treten regelmäßig belastende Beschwerden auf, die als Absetzsymptome bezeichnet werden. Davon sind bis zu 56 % der Personen, die ein Antidepressivum absetzen, betroffen (Davies und Read 2019). Das Beschwerdebild ist eher heterogen und umfasst grippeähnliche Symptome wie Schwäche, Schwindel, Abgeschlagenheit und Schlafstörungen. Ebenfalls beschrieben werden Übelkeit, Schmerzen, Ohrgeräusche und andere Sensibilitätsstörungen wie das Gefühl von Stromschlägen im Kopf und im Körper („brain“ und „body zaps“). Es können aber auch Reizbarkeit, Ängste, gedrückte Stimmung und andere Beschwerden auftreten, die der Symptomatik ähneln, aufgrund derer Antidepressiva zunächst verschrieben wurden. Die Absetzsymptome treten in der Mehrzahl der Fälle rasch auf, sind von milder Intensität und klingen nach wenigen Tagen bis Wochen wieder vollständig ab (Henssler et al. 2019).

Ängste vor belastenden Absetzeffekten können dazu beitragen, dass Personen mit einer remittierten Depression, die ihr Antidepressivum absetzen könnten, dieses weitereinnehmen und sich somit möglichen Langzeitnebenwirkungen aussetzen. Eine langfristige Antidepressivaeinnahme kann bei Personen höheren Alters zu einer erhöhten Mortalität führen (Coupland et al. 2011). Mögliche Langzeitnebenwirkungen in allen Altersgruppen sind zudem Gewichtszunahme, emotionale Veränderungen wie ein gestörtes Ich-Gefühl oder emotionale Abstumpfung, sexuelle Probleme und weitere Beeinträchtigungen (Carvalho et al. 2016). Diese Beschwerden können den Absetzwunsch wiederum deutlich verstärken. Es kann ein Teufelskreis aus negativen Erwartungen und Beschwerden entstehen. Kontrollierte Studien zur Prüfung der empirischen Evidenz für dieses hypothetisierte Model sind nötig. Einige Betroffene beschreiben in einschlägigen Internetforen eindrücklich ihre teils jahrelangen Erfahrungen mit missglückten Absetzversuchen und beeinträchtigenden Absetzphänomenen. Dies zeigt eine klare klinische Versorgungslücke auf. Zur Unterstützung von Personen, die ihr Antidepressivum absetzen möchten, werden evidenzbasierte, ärztliche und psychotherapeutische Interventionen sowie angepasste Richtlinien benötigt.

Anzeichen eines Entzugs?

Besondere Beachtung erlangten diese Phänomene beim Absetzen von SSRI und SNRI. Hier scheint es einen relevanten Anteil bis zu einem Drittel der Betroffenen zu geben, die deutlich länger als 4 bis 6 Wochen unter Absetzsymptomen leiden. Diskutiert wird die Frage, ob es sich um Entzugssymptome handeln kann (Baldessarini und Tondo 2019). Da es bei der Einnahme von Antidepressiva nicht zu einer Toleranzentwicklung kommt und auch kein Suchtdruck („craving“) entsteht, kann eine klassische Abhängigkeit im Sinne einer möglichen Substanzkonsumstörung ausgeschlossen werden. Antidepressiva machen nicht süchtig. Dennoch entsteht durch die lange Einnahme einer psychopharmakologischen Substanz fraglos eine Gewöhnung, die sowohl psychische als auch körperliche Aspekte umfassen kann. Auf der pharmakologischen Ebene ist die Sensitivierung von Rezeptoren zu nennen. Eine Theorie postuliert einen hyperbolischen Zusammenhang zwischen Dosis und antidepressiver Wirkung. Im Sinne einer Exponentialfunktion entwickelt sich die Wirkung stark ansteigend (exponentiell) bis zur Sättigung und, so die Annahme, am anderen Ende der Verteilung auch das Absetzen exponentiell. Diese Annahme kann das Auftreten von Entzugssymptomen beim Herunterdosieren erklären. Die Autoren schlussfolgern daraus, dass der Absetzprozess in kleinen Schritten sehr langsam und ausgedehnt stattfinden sollte, um Absetzphänomen vorzubeugen, mindestens bei der Subgruppe der Personen, die zu Absetzeffekten von längerer Dauer oder untypisch hoher Belastung neigen (Horowitz und Taylor 2019). Wissenschaftlich erscheint es äußert interessant herauszufinden, ob und wie sich diese Personengruppe vor Behandlungsbeginn identifizierten lässt. Eine Hypothese könnten dysfunktionale Behandlungserwartungen sowie negative Vorerfahrungen sein. Gegen die Annahme von spezifischen Entzugssymptomen beim Absetzen von SSRI spricht sich die aktuell neu überarbeitete Behandlungsleitlinie aus Großbritannien (NICE 2021) aus. Hier wird konstatiert, dass Absetzsymptome sowohl innerhalb als auch zwischen Betroffenen sehr heterogen ausfallen und keine Vorhersagen zum Auftreten von Entzugssymptomen zulassen. Insgesamt wird geschlussfolgert, dass die Evidenz zu spezifischen Entzugssymptomen uneindeutig sei. Zudem wird in der NICE-Leitlinie eine Aufklärung über mögliche längerfristige Absetzbeschwerden empfohlen (National Collaborating Centre for Mental Health 2020). Die entsprechende Überarbeitung der deutschen S3-Leitlinie zur Behandlung der unipolaren Depression steht noch aus. Im Gespräch über mögliche belastende Absetzbeschwerden sollten Erwartungseffekte beachtet werden. Wie auch bei der Aufklärung über mögliche Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie sollen Patient:innen gestärkt und informiert werden, um eine autonome Entscheidungsfindung zu fördern und gleichzeitig potenziellen Schaden im Sinne von Noceboeffekten abzuwenden (Nestoriuc 2015). Strategien wie Psychoedukation, Framing, Kontextualisierung, Anregung von Coping-Mechanismen und generell Erwartungsmanagement können sinnvoll eingesetzt werden (Tab. 1; Nestoriuc 2015).

Erwartungsmanagement im Umgang mit Absetzsymptomen

Die Beschäftigung mit negativen Absetzerfahrungen fördert die Ausbildung negativer Erwartungen und begünstigt somit über den Noceboeffekt das Auftreten weiterer belastender Beschwerden. In einem qualitativen Review zu förderlichen und hinderlichen Faktoren im Absetzprozess wurde die Angst vor einem Rückfall als zentrale Barriere beim Absetzen herausgestellt (Bowers et al. 2020). Eine besondere klinische Herausforderung ist die Differenzialdiagnostik von Rückfällen und Absetzphänomenen. Der zeitliche Verlauf mit einem eindeutigen Beginn in der Absetzphase sowie ein Abklingen innerhalb weniger Tage bis Wochen sind wertvolle differenzialdiagnostische Kriterien zur Abgrenzung vom depressiven Rückfall. Um zu klären, welchen Beitrag Erwartungen im Absetzprozess leisten, und wie dies mit möglichen Rückfällen zusammenhängt, werden experimentelle Studien benötigt, die Erwartungen systematisch modulieren. Psychotherapeutisch kann die patientenzentrierte Aufklärung zur Optimierung individueller Erwartungen an den Absetzprozess genutzt werden. Zusätzlich zu den 5 ethischen Prinzipen der informierten Aufklärung (Entscheidungsfähigkeit der Person, Informationsvermittlung, Freiwilligkeit, Verstehen bzw. Einsicht sowie die explizite Entscheidung bzw. Einverständniserklärung) berücksichtigt eine kontextualisierte Aufklärung psychologische Faktoren wie die individuelle Vorerfahrung und Erwartungen zur Adaptierung der Informationen (Wells und Kaptchuk 2012). Die explizite Aufklärung über den Placebo- und den Noceboeffekt als dessen „böser Zwilling“ kann eine hilfreiche Strategie darstellen, um die Relevanz eigener Erwartungen für den Behandlungsprozess zu verdeutlichen (Bingel 2014). Ein Verständnis für die nichtpharmakologischen Wirkmechanismen der Therapie mit Antidepressiva kann vermittelt werden. In einer Umfragestudie gaben verschreibende Ärzt:innen an, dass Wissen zum Einfluss von Erwartung eine sinnvolle Ergänzung der subjektiven Wirksamkeitsmodelle von Antidepressiva sein kann (Kampermann et al. 2017). In diesem Zuge kann auch die mögliche Rolle von Noceboeffekten in der Verstärkung unerwünschter Effekte besprochen werden (Nestoriuc et al. 2021). Bei Personen mit chronischen Schmerzen erwies sich diese Aufklärung als effektiv zur Reduktion experimentell induzierter Noceboeffekte (Pan et al. 2019). Personen, die Antidepressiva einnehmen, berichteten nach einer Noceboaufklärung ein geringeres Informationsbedürfnis zu potenziellen Nebenwirkungen und zeigten sich signifikant häufiger einverstanden, eine angepasste, kontextualisierte, informierte Aufklärung zu Antidepressiva zu erhalten (Nestoriuc et al. 2021).

Die präventive kognitive Therapie setzt an den dargestellten Erwartungseffekten sowie an generellen kognitiven Techniken an, um Absetzeffekten und depressiven Rückfällen vorzubeugen. Sie arbeitet mit Einstellungen und Erwartungen sowie mit Vorerfahrungen, mit dem Ziel, positive Emotionen zu aktivieren und Präventionsstrategien aufzubauen. Die präventive kognitive Therapie sowie die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie erwiesen sich in mehreren klinischen Absetzstudien sowie in einer aktuellen Metaanalyse als wirksam zur Prävention von Rückfällen beim Absetzen von Antidepressiva (Breedvelt et al. 2021; Bockting et al. 2018). Konkret gab es keinen Unterschied in den Rückfallraten zwischen Personen, die ihr Antidepressivum absetzten und an einer präventiven oder achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie teilnahmen, und Personen, die eine medikamentöse Erhaltungstherapie fortführten. Es lässt sich schlussfolgern, dass Psychotherapie eine effektive Alternative zur langfristigen Erhaltungstherapie mit Antidepressiva sein kann. Kritisch zu beachten, gilt es allerdings, dass keine „Non-inferiority“-Hypothesen zur Prüfung der Unterschiede in den Rückfallraten aufgestellt wurden und insofern die Schussfolgerungen als vorläufig betrachtet werden müssen.

In Tab. 1 sind Interventionsstrategien zur Förderung von positiven Erwartungshaltungen und Patientenzentrierung im Absetzprozess zusammenfassend aufgeführt und den verschiedenen Phasen der Therapie mit Antidepressiva zugeordnet. Diese Strategien können in der Beratung von Personen, die Antidepressiva einnehmen, relevant werden und als begleitende Psychotherapie in der Absetzphase eingesetzt werden. Wenn es gelingt, Erwartungen über eine therapeutische Begleitung, angepasst an individuelle Vorerfahrungen, zu optimieren, können verfrühte Abbrüche des Absetzprozesses möglicherweise verhindert werden, Absetzverläufe positiv beeinflusst und Absetzeffekte reduziert werden.

Tab. 1 Erwartungsmanagement und Patientenzentrierung im Umgang mit möglichen Absetzeffekten bei Antidepressiva

Fazit für die Praxis

  • Erwartungen, die Patient:innen an ihr Antidepressivum haben, beeinflussen die Wirksamkeit, das Nebenwirkungsprofil und auch die Beschwerden, die beim Absetzen auftreten können.

  • Bei 30–50 % der Personen, die Antidepressiva länger als 2 Jahre lang einnehmen, besteht keine Indikation zur Einnahme mehr; diese könnten über ein begleitets Absetzen nachdenken.

  • Antidepressiva machen nicht abhängig. Gleichwohl können bei jeder zweiten Person, die die Anwendung absetzt, belastende Beschwerden auftreten.

  • Die klinische Diagnostik von Absetzeffekten ist konfundiert mit der Erfassung von Rückfällen und Rezidiven.

  • Für viele Betroffene gilt es, einen Teufelskreis aus negativen Absetzerwartungen, Absetzbeschwerden, missglückten Absetzversuchen und (Angst vor) langfristigen Nebenwirkungen des Antidepressivums zu durchbrechen.

  • Es besteht eine Versorgunglücke in der Betreuung von Personen mit Absetzwunsch.

  • Psychotherapeutische Elemente wie präventive kognitive Therapie, achtsamkeitsbasierte Interventionen und Erwartungsmanagement können den Absetzprozess optimieren und Rückfällen vorbeugen.