Zusammenfassung
Im Rahmen von Begutachtungen zu möglichen Folgen von Folterhandlungen fiel mehrfach der Befund gleichartiger Gruppierungen von über den Rücken verteilten, strichförmigen Narben auf. Ein ähnlich imponierendes, frischeres Verletzungsbild wurde bei einem weiteren Fall festgestellt und konnte auf „Hijama“ (blutiges Schröpfen) zurückgeführt werden. Die dargestellten Fälle zeigen, wie wichtig die Kenntnis von durch alternative Behandlungsmethoden provozierten Befunden ist.
Abstract
Multiple cases with grouped, linearly arranged scars on the back, bearing a striking resemblance to each other, were seen during assessments of reported torture. More recent injuries of a similar type were also noted in a further case and could be traced back to treatment with Hijama (wet cupping). The cases presented illustrate the importance of a correct understanding of typical findings following alternative treatment methods.
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Bei der Beurteilung von Verletzungen ist die Kenntnis möglicher, auch ungewöhnlicher Differenzialdiagnosen von großer Bedeutung. In Zeiten von Migration und Flucht zählen hierzu auch Heilmethoden bzw. rituelle Behandlungen anderer Kulturkreise, darauf wurde bereits von anderer Seite hingewiesen [6]. Die Folgen solcher Behandlungen müssen als solche erkannt werden und von Misshandlungsfolgen abgegrenzt werden – auch, wenn sie lange zurückliegen.
Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden 5 einschlägige Fälle dargestellt, die im Kontext einer interdisziplinären Sachverhaltsaufklärung nach dem Istanbul-Protokoll [5] zu Folgen angegebener Folterhandlungen in unserem Institut vorgestellt wurden (Projekt in: Fo, www.folterfolgen-erkennen.de).
Fälle mit auffälliger Narbenkonstellation (Fall 1 bis 4)
Im Rahmen der genannten Begutachtungen fielen zunächst 4 Probanden mit gleichartig konfigurierten, am Rücken lokalisierten Narben auf.
Fall 1: Bei einem aus Eritrea stammenden Probanden wurden über den gesamten Rücken sowie teils das Gesäß verteilte, bis etwa 6,5 × 6,5 cm messende Gruppierungen zahlreicher feiner, strichförmiger, bis maximal 11 mm langer, reizloser, alter Narben (Abb. 1) gesehen. Die Narben der einzelnen Gruppierungen verliefen dabei jeweils annähernd parallel zueinander, mit einer Ausrichtung der Narben der meisten Gruppierungen von scheitelnah-links nach fußsohlennah-rechts. Der Proband gab an, etwa 10 Jahre vor der Untersuchung im Gefängnis misshandelt worden zu sein. Hierbei sei er über mehrere Monate alle 3 bis 4 Tage mit gefesselten Extremitäten auf eine Stange gebunden und von mehreren Männern im Wechsel über Stunden mit einem bruchfesten Holzstab geschlagen worden, wodurch die Narben verursacht worden seien.
Fall 2: Am oberen Rücken eines aus Afghanistan stammenden Probanden fand sich körpermittig eine etwa 5 × 5 cm messende Gruppierung zahlreicher feiner, strichförmiger, schräg gestellter und parallel zueinander ausgerichteter, maximal 12 mm langer, reizloser, alter Narben (vergleichbar zu Abb. 1 bzw. 2a, b). Der Proband gab an, etwa 5 Jahre vor der Untersuchung durch die Taliban misshandelt worden zu sein. Dabei habe er sich bäuchlings auf den Boden legen müssen und sei mit Ästen eines „weidenartigen Baumes“ auf den Rücken geschlagen worden. Hierbei sei sein Oberkörper mit einem Hemd bekleidet gewesen.
Fall 3: Ein aus Syrien stammender Proband wies am unteren Rücken zwei bis 4 × 3,5 cm messende Gruppierungen zahlreicher feiner, strichförmiger, überwiegend parallel zur Körperlängsachse ausgerichteter und maximal 5 mm langer, reizloser, alter Narben auf (Abb. 2a, b). Der Proband machte zu den Befunden keine näheren Angaben, ein direkter Zusammenhang zu etwaigen Misshandlungen wurde nicht vorgebracht.
Fall 4: Ein aus dem Iran stammender Proband zeigte am oberen Rücken leicht links der Mittellinie eine etwa 8 × 7 cm messende Gruppierung zahlreicher feiner, strichförmiger, annähernd parallel zur Körperlängsachse ausgerichteter und maximal 30 mm langer, reizloser, alter Narben (vergleichbar zu Abb. 1 bzw. 2a, b). Der Proband machte zu den Befunden zunächst keine näheren Angaben, ein direkter Zusammenhang zu etwaigen Misshandlungen wurde aber nicht vorgebracht.
Ein weiterer Fall (Fall 5)
Im Verlauf stellte sich ein aus Tschetschenien stammender Proband ebenfalls anlässlich einer rechtsmedizinischen Begutachtung von Folterfolgen vor. Der Proband gab Misshandlungen in seinem Heimatland im Zeitraum von ca. 10 bis 5 Jahren vor der Untersuchung an.
Bei der körperlichen Untersuchung fielen nebenbefundlich am oberen und unteren Rücken mehrere runde bis ovale, ca. 6 × 6 cm große Areale mit zentral gleichmäßig angeordneten, rotbraun verkrusteten, ca. 2–5 mm langen, kratzerartigen Hautläsionen auf (Abb. 3a–c), die durch den Probanden explizit nicht auf Misshandlungen zurückgeführt wurden. Die Befunde wiesen dabei unterschiedlich ausgeprägte, teils flächige, teils nur im Randbereich lokalisierte, gelbliche Hautunterblutungen auf. Im Randbereich zeigten sich zum Teil auch ringförmige, mehrfach unterbrochene, rotbraune, älter imponierende Schürfungen.
Hierauf angesprochen, gab der Proband an, dass er sich bei einem Bekannten einer alternativen Behandlungsmethode „für Männer“ unterzogen habe. Aus seinen Beschreibungen ging hervor, dass es sich dabei um das sog. „blutige Schröpfen“ gehandelt haben dürfte.
Diskussion
In den Fällen 1 bis 4 zeigten sich jeweils zahlreiche feine, gruppiert angeordnete, in der Regel parallel zueinander ausgerichtete, überwiegend 5 bis ca. 12 mm lange, vereinzelt bis 30 mm lange, reizlose, alte Narben. Die genannten Narben waren dabei ausschließlich am Rücken, teils übergehend auf das Gesäß, gelegen.
Der in Fall 1 bzw. 2 genannte Entstehungsmechanismus war dabei nicht geeignet, die Verletzungen plausibel zu erklären, und steht insofern im Widerspruch zu den jeweils gemachten Angaben. In Fall 3 und 4 wurde kein Entstehungsmechanismus benannt; die Verletzungen wurden darüber hinaus nicht auf Misshandlungen zurückgeführt, sodass entsprechend keine Plausibilitätsprüfung erfolgen konnte.
Die aufgeführten Verletzungsbilder der Fälle 1 bis 4 wiesen auffallende Gemeinsamkeiten mit den Verletzungen aus Fall 5 auf, wenngleich sich teils Unterschiede in der Länge und Ausrichtung der Einzelnarben zeigten. Es war davon auszugehen, dass die Heilung der noch vergleichsweise frischen Verletzungen zu einem Narbenbild führen würde, das den in den Fällen 1 bis 4 festgestellten Befunden in etwa entsprechen würde.
Der Befund im Fall 5 wiederum ließ sich, passend zu den gemachten Angaben, über ein „blutiges Schröpfen“ erklären, das entsprechend auch als möglicher Entstehungsmechanismus für die in Fall 1 bis 4 festgestellten gruppierten Narben zu diskutieren wäre.
Im Gegensatz zum klassischen Schröpfen (auch: „trockenes Schröpfen“), wird beim „blutigen Schröpfen“ die Haut mittels eines Stich- oder Schnittwerkzeugs (beispielsweise Rasierklinge, Lanzette, Skalpell, Spezialwerkzeug wie die sog. „Plum Blossom Needle“ etc.) mehrfach eröffnet, bevor die für das Schröpfen typischen Unterdruckbehälter angebracht werden. Die so gesetzten Verletzungen können dabei hinsichtlich Länge, Tiefe und Anzahl variieren. Zum Teil wird initial auch mit einer ersten Unterdruckbehandlung begonnen, um bereits vor der Hauteröffnung die Durchblutung lokal anzuregen.
Durch den einwirkenden Sog wird die Blutung aus den Hautläsionen verstärkt; seitens der Befürworter der Methode wird dem Prozess, ähnlich dem Aderlass, eine heilende Wirkung für zahlreiche Beschwerden zugeschrieben. So helfe das „blutige Schröpfen“ u. a. bei Schmerzen, kardiovaskulären Erkrankungen, Tumorleiden und Autoimmunerkrankungen [3]. An Nebenwirkungen werden neben der Narbenbildung insbesondere Verbrennungen und durch den Unterdruck erzeugte Hautblasen angegeben, in Einzelfällen wurden auch Hämophilie A, Herzhypertrophie und ein hämorrhagischer Hirninfarkt auf die Methode zurückgeführt [3, 7].
Die Praktik ist dabei insbesondere in der alternativen bzw. volkstümlichen Heilkunde muslimischer Kulturkreise verbreitet und ist hier als „Hijama“ bekannt. Passend hierzu stammten alle 5 Probanden aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern, entsprechend der Verbreitung der „Hijama“-Methode. Eine entsprechende Rückfrage an die Probanden aus den Fällen 1 bis 3 erbrachte im Nachgang leider keine Rückmeldung. Im Fall 4 bestätigte der Proband auf gezielte Nachfrage den Zustand nach Anwendung von Hijama; er habe sich – vor seiner Ankunft in Deutschland und damit Monate vor der hiesigen Untersuchung – zweimalig in der Türkei einer solchen Behandlung unterzogen.
Die vorgestellten Fälle sollen dafür sensibilisieren, dass bestimmte Verletzungsbilder – insbesondere wenn kein anderer plausibler Entstehungsmechanismus benannt wird – durch alternative Behandlungsmethoden entstanden sein können. Entsprechende Fälle aus der klinisch-forensischen Praxis sind u. a. für das „blutige Schröpfen“ [2] und das klassische Schröpfen [1, 4] vorbeschrieben. Die Kenntnis solcher Verletzungsbilder ist umso wichtiger, als die ursächlichen Heilmethoden auch bei diversen Ärzten, Heilpraktikern etc. in Deutschland angeboten, sowie – als traditionelle Volksmedizin – sicherlich auch durch Privatpersonen durchgeführt werden. Dementsprechend besteht die Möglichkeit, dass derartige Befunde auch in einem anderen Kontext als der interdisziplinären Sachverhaltsaufklärung bei angegebener Folter gesehen werden.
Literatur
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Jühling, M., Mahlke, N.S., König, L.M. et al. Differenzialdiagnose „Zustand nach Hijama“. Rechtsmedizin 31, 59–61 (2021). https://doi.org/10.1007/s00194-020-00414-z
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