Zusammenfassung
Trotz jahrzehntelanger wissenschaftlicher Bemühungen ist es bis zum heutigen Tage nicht gelungen, den von Crowe [6] im Jahr 1928 geprägten Begriff des „Schleudertraumas“ (engl. „whiplash“) mit Inhalt, also einem klar definierten Verletzungsbild eigener Entität zu füllen. Die Diskussion ist bisher über hypothetische Ansätze nicht hinausgekommen, und diese besonders für die Betroffenen so eindrucksvolle Begrifflichkeit somit inhaltsleer geblieben. Diese klaffende Lücke gab genügend Raum für vielfältige hypothetische Erklärungen, warum die Beschwerden bei einem Teil der betroffenen Personen trotz anfänglich fehlender objektiver Verletzungsmerkmale übergehen in ein chronifizierendes subjektives Beschwerdebild, welches nur allzu häufig in eine ausufernde haftpflicht-rechtliche Auseinandersetzung – nicht zuletzt gestützt mit nachhaltigen ärztlichen Attestierungen und ganz unterschiedlichen gutachtlichen Beurteilungen – einzumünden pflegt. Im nachfolgenden Beitrag werden die wesentlichsten dieser Hypothesen samt ihrer historischen Wurzeln thematisiert. Im Weiteren wird aufgezeigt, wie vor dem Hintergrund beweisrechtlicher Vorgaben, aber auch gesicherter pathophysiologischer Erkenntnisse der Heilung die Kausalitätsfrage in einer nüchternen analytischen Betrachtungsweise beantwortet werden kann.
Abstract
In 1928, more than 80 years ago, Crowe [6] coined the term “whiplash”. Since then, there have been numerous scientific attempts to make a clearly defined profile of this injury. Unfortunately, these have all been unsuccessful. The discussion has not yet progressed beyond hypothetical approaches. The term “whiplash”, which is such an impressive concept for those affected, still lacks any content. This gaping hole has provided enough scope for varied hypothetical explanations of why some people who have sustained whiplash, despite an initial absence of objective injury characteristics, develop a subjective complaints profile which becomes chronic! All too often, this profile tends to develop into an escalating third party legal dispute – further supported by sustained medical certificates and quite diverse expert assessments. The present article discusses the most important of these hypotheses and their historical origins. Furthermore, against the background of legally substantiated evidence and proven pathophysiological findings of healing, the article will consider the issue of causality from a sober and analytical perspective.
Literatur
Arlen A (1979) Röntgenologische Röntgenfunktionsanalyse der HWS. Manuelle Medizin 17:24
Bär E, Kiner B (1998) Asymmetrie der Halswirbelsäule: Auswirkungen auf die Diagnostik von Bandverletzungen. Suva – Medizinische Mitteilungen 70:5–11
Bleuler E (1921) Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, 5. Aufl. Springer, Berlin
Castro WHM, Schilgen M, Meyer S et al (1997) Do „whiplash injurys“ occur in low speed rear impacts? Europ Spine J 6:366–375
Claussen C (2003) Neurootologische Aspekte des HWS-Schleudertraumas. forum HNO 5:9–20
Crowe H (1928) A new diagnostic spine of neck injurys. Calif Med 100:12–13
Eisenmenger W (2008) Die Distorsion der Halswirbelsäule: Anmerkungen zur Rechtssprechung aus biomechanischer und rechtsmedizinischer Sicht. Med Sach 104:56–69
Erdmann H (1973) Schleuderverletzung der Halswirbelsäule. Band 56: Die Wirbelsäule in Forschung und Praxis. Hippokrates, Stuttgart
Erdmann H (1975) Schleudertrauma der Halswirbelsäule. BG-Schriftenreihe 25:215–220 u. 245,246
Erichsen JE (1882) Concussion of the spine: nervous shock. Longmans, Green and Co., London
Friedburg H, Nagelmüller T (1997) Welchen Beitrag vermögen CT und MRT zur posttraumatischen Beurteilung der Kopf-Halsregion zu liefern? In: Graf-Baumann T, Lohse-Busch H (Hrsg) Weichteildistorsionen der oberen Halswirbelsäule: Anatomie, Neurophysiologie, Diagnostik, Therapie und Begutachtung. Springer, Heidelberg, S 135–151
Fritzsche M (1997) Dokumentation des Bewegungsablaufes bei der ergokinetischen Untersuchung. Manuelle Medizin 35:136–140
Gay JR, Abbott KH (1953) Common whiplash injuries of the neck. J Am Med Assoc 152:1698–1704
Hein MF, Castro WHM, Meyer SJ et al (2000) Gibt es ein „HWS-Schleudertrauma“ ohne biomechanische Belastung? Ergebnisse einer interdisziplinären Studie. Osteologie 9:36
Helliwell BS, Stevans BF, Wright V (1994) The straight cervical spine. Does it indicate muscle spasme? J Bone Joint Surg 76-B:103–106
Hinz P (1970) Die Verletzung der Halswirbelsäule durch Schleuderung und durch Abknickung. Band 47: Die Wirbelsäule in Forschung und Praxis. Hippokrates, Stuttgart
Hinz P, Plaue R (1972) Die Begutachtung von Schleuder- und Abknickverletzungen der Halswirbelsäule. Akt Orthop 4:1–20
Hülse M, Hölzl M (2000) Vestibulospinale Reaktionen bei der cervicogenen Gleichgewichtsstörung. HNO 48:295–301
Keidel M et al (1993) Zervikozephales Beschleunigungstrauma. Nervenheilkunde 12:239–242
Kügelgen B, Kügelgen C (2001) HWS-Schleudertrauma: muskuläre Funktionsstörungen und Therapiekonzepte. Trauma und Berufskrankheit 3(Suppl 3):334–343
Kuklinski B (2006) Das HWS-Trauma. Aurum in Kamphausen, Bielefeld
Lindner H (1986) Zur Chronifizierung posttraumatischer Zustände der Halswirbelsäule und der Kopfgelenke. Manuelle Medizin 24:77–80
Malleson A (2002) Whiplash and other usefull illnesses. McGill-Queen’s University Press, Montreal
Montazem A (1999) Auswirkung eines Schleudertraumas auf die oberen Halswirbel einhergehend mit Instabilität am craniocervicalen Übergang und deren Folgen sowie Behandlungsmöglichkeiten. Schriftenreihe der Sozialversicherung Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg, Band 18:38–43
Neuhuber WL, Bankoul S (1994) Besonderheiten der Innervation des Kopf-Hals-Überganges. Orthopädie 23:256–261
Neuhuber WL, Bankoul S (1998) Besonderheiten der Innervation des Kopf-Hals-Bereiches. Orthopädie 27:794–801
Novak D, Buchholz P, Lindner H, Spall W (1994) CT-Untersuchung der occipitocervikalen Region nach Beschleunigungsverletzung (Schleudertrauma). Medizin im Bild 3:7–13
Panjabi MM, Dvorak J, Crisco J et al (1991) Instabilität bei Verletzung der Lig. Alaria: ein biomechanisches Modell. Orthopäde 20:112–120
Pfirrmann CWA ua (2001) MR morphology of alar ligaments and occipitoatlantoaxial joints: study in 50 asymptomatic subjects. Radiology 218:133–137
Poeck K (1999) Kognitive Störungen nach traumatischer Distorsion der Halswirbelsäule? Dtsch Ärztebl 96:A-2596–A-2601
Psczolla M (1997) In: von Dvorak J, Dvorak V, Tritschler T (Hrsg) Manuelle Medizin – Therapie. Thieme, Stuttgart
Schnabel M, Weber M, Vassiliou P et al (2004) Diagnostik und Therapie akuter Beschwerden nach „HWS-Distorsion“ in Deutschland. Unfallchirurg 107:300–306
Schöps P, Siebert U, Schmitz U et al (2000) Reliabilität nicht invasiver, diagnostischer Untersuchungsmethoden zur Erfassung schmerzhafter Halswirbelsäulensyndrome. Manuelle Medizin 38:17–32
Schulz M (2008) Der Schrauber aus Schwaben. Spiegel 7:132–134
Senn E (1999) Das Symptommosaik nach einem Halswirbelsäulen (HWS-) Distorsionstrauma. Phys Rehab Kur Med 9:190–196
Stevens A (2006) Das Halswirbelsäulen-Schleudertrauma in der Begutachtung: die neurologisch-psychiatrische Sicht. Med Sach 102:139–146
Thomann KD, Rauschmann M (2001) Begutachtungs- und Rehabilitationsprobleme bei Halswirbelsäulenschäden: aus orthopädischer Sicht. Med Sach 97:86–96
Thomann KD, Rauschmann M (2003) Von der „railway spine“ zum Schleudertrauma: Geschichte und aktuelle Bedeutung seelischer Störungen nach entschädigungspflichtigen Ereignissen. Z gesamte Versicherungswiss 92:533–577
Unterharnscheidt F (1992) Die indirekten Verletzungen von Kopf und Hals/Nacken (whiplash-, Schleuder- oder Peitschenschlagverletzung) bei verschiedenen Sektoren der einwirkenden Gewalt. In: Doerr W, Seifert G, Ühlinger E (Hrsg) Spezielle pathologische Anatomie. Band 13/VII: Pathologie des Nervensystemes – Traumatologie von Hirn- und Rückenmark. Springer, Berlin, Heidelberg, S 227ff
Volle E (1997) Strukturdefekte der Ligamenta alaria in der offenen Funktions-Kernspintomographie. Manuelle Medizin 35:118–193
Volle E, Kreissler P, Wolff HD et al (1996) Funktionelle Darstellung der Ligamenta alaria in der Kernspintomographie. Manuelle Medizin 34:9–13
Walz F (1994) Biomechanische Aspekte der HWS-Verletzungen. Orthopäde 23:262–267
Widder B, Hausotter W, Marx P et al (2002) Dauerhafte Muskelfunktinsstörungen nach HWS-Schleudertrauma? Akt Neurologie 29:469–470
Wiesner H, Mumenthaler M (1975) Schleuderverletzungen der Halswirbelsäule: eine katamnestische Studie. Arch Orthop Unfallchir 81:13–36
Interessenkonflikt
Der Autor ist überregional als Gutachter für Gerichte und Versicherungen tätig und hat die dabei gewonnenen Erfahrungen eingebracht in zahlreiche Vorträge, Veröffentlichungen und Fortbildungsseminare, Letzteres in Zusammenarbeit mit Richtern und Anwälten, gesetzlichen und privaten Unfallversicherern. Der Autor ist Leiter der Arbeitsgruppe „Gutachtliche Fortbildung“ der Kommission „Gutachten“ der DGU, ist gleichzeitig stellvertretender Leiter dieser Kommission und vertritt die zivilrechtliche Begutachtung als Lehrbeauftragter der Universität zu Köln in der studentischen Ausbildung.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Schröter, F. „HWS-Schleudertrauma“ nach geringfügigen Unfällen. Orthopäde 39, 276–284 (2010). https://doi.org/10.1007/s00132-009-1545-0
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00132-009-1545-0