Der “pathologische Rausch”Diagnostische Fehlkonstruktion oder zuverlässige psychiatrische Diagnose?

Zusammenfassung

Ausgehend von der paradoxen Situation, daß einerseits in psychiatrischen Gutachten der Feststellung eines “pathologischen Rausches” traditionell eine hohe forensische Wertigkeit beigemessen wird, daß aber andererseits vielfach empfohlen wird, aufgrund von terminologischen und diagnostischen Problemen auf diesen Begriff ganz zu verzichten, wollten wir die diagnostische Praxis in einem vorgegebenen dreijährigen Zeitraum (1991 bis 1993) mittels einer empirischen Umfrage erfassen. Zu diesem Zweck wurde ein Fragebogen an sämtliche psychiatrische Einrichtungen (n=541) in der Bundesrepublik Deutschland versandt. Bei einer Rücklaufquote von 69,5% konnten 338 Fragebögen (62,5%) hinsichtlich der Anzahl der Diagnosen und der zugrunde gelegten diagnostischen Kriterien ausgewertet werden. In mehr als der Hälfte der rückgesandten Fragebögen war der “pathologische Rausch” als “notwendige” diagnostische Kategorie eingeschätzt worden. Fast zwei Drittel der psychiatrischen Einrichtungen hatten angegeben, zwischen 1991 und 1993 keine “pathologischen Räusche” diagnostiziert zu haben; 210 von insgesamt 456 Diagnosen entfielen dagegen auf nur 13 Einrichtungen. 71 der mitgeteilten “pathologischen Räusche” waren Gutachten-Diagnosen; 385 Diagnosen (84,4%) waren im klinischen Kontext gestellt worden. Bei den diagnostischen Kriterien dominierten vor allem unspezifische und differentialdiagnostisch wenig trennscharfe Merkmale wie “aggressiver Erregungszustand” oder “Persönlichkeitsfremdheit des Verhaltens”. Die Ergebnisse unserer Umfrage legen nahe, daß insbesondere bei der Erstattung forensisch-psychiatrischer Gutachten auf die diagnostische Kategorie “pathologischer Rausch” verzichtet werden sollte. Die forensisch tradierte enge Koppelung von diagnostischer Feststellung eines “pathologischen Rausches” und impliziter Annahme aufgehobener strafrechtlicher Verantwortlichkeit stellt sich insgesamt als außerordentlich problematisch dar. Sie sollte aufgegeben werden zugunsten einer differenzierteren Einschätzung, die sich an den konkreten körperlichen und psychopathologischen Auffälligkeiten des jeweiligen Einzelfalles zu orientieren hat.

Summary

“Pathological intoxication” has been a matter of controversial discussions during the last years. On one hand diagnosis of “pathological intoxication” in forensic expertise often is associated with the assumption of legal insanity. On the other hand it has been suggested that the term “pathological intoxication” should be abandoned in favor of more accurate clinical diagnosis, and recently “alcoholic idiosyncratic intoxication” was canceled as a separate diagnosis in DSM-IV. In order to register the diagnostic habits connected with “pathological intoxication” we had sent a questionnaire to all psychiatric institutes (n=541) in Germany. We were then able to evaluate 338 questionnaires (62,5%) relating to number of diagnoses and diagnostic criteria. In synopsis diagnostic habits turned out to be very inhomogeneous. Nearly two third of psychiatric institutes reported not to have used the diagnostic category between 1991 and 1993, whereas nearly 50% of diagnoses (210 out of 456) were reported by only 13 (3,9%) institutes. Diagnosis of “pathological intoxication” is based predominantly on vague and non-distinct criteria, such as “violent excitation” or “strange unusual behavior”. In accordance to DSM-IV we therefore suggest that the diagnostic term “pathological intoxication” should be abandoned, especially in the context of forensic psychiatric expertise. Instead, assessment of intoxication must be based on individual somatic and psychopathological symptoms.