Hintergrund
Die globale SARS-CoV-2(„severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“)-Pandemie hat weltweit zu mehr als 222 Mio. bestätigten Infektionen und knapp 4,6 Mio. Todesfällen beigetragen [11]. Es bestehen infolge COVID-19 („corona virus disease 2019“) relevante direkte und indirekte Auswirkungen auf die Behandlung neurologischer Erkrankungen. Eine SARS-CoV-2-Infektion geht mit einer erhöhten Inzidenz neurologischer Manifestationen wie Enzephalopathie und Enzephalomyelitis, ischämischem Schlaganfall und intrazerebralen Blutungen, Anosmie und neuromuskulären Erkrankungen einher [1, 7]. Jede neurologische Manifestation ist mit einem erhöhten Risiko für einen längeren Krankenhausaufenthalt und einer höheren Morbidität und Mortalität im Vergleich zu Patienten ohne neurologische Manifestationen verbunden [7].
Die Schwere der Pandemie hat zu einer beispiellosen Anstrengung geführt, mehrere wirksame Impfstoffe zu entwickeln. Aufgrund hervorragender Sicherheits- und Wirksamkeitsdaten aus klinischen Versuchen wurden mittlerweile mehrere Impfstoffe zugelassen und weltweit knapp 5,6 Mio. Impfdosen appliziert [11]. Neben lokalen und systemischen Nebenwirkungen des ChAdOx1 nCoV-19-Impfstoffs (AZD1222) des Pharmaunternehmens AstraZeneca ohne größere klinische Relevanz erregten in jüngster Zeit immer mehr Berichte über autoimmuninduzierte Thrombozytopenien mit anschließender Thrombose Besorgnis [3, 5, 9]. Kürzlich wurden die ersten drei Fälle postvakzinaler Enzephalitiden beschrieben [10], die im engen zeitlichen Zusammenhang mit einer ChAdOx1 nCoV-19-Impfung auftraten.
Fallbeschreibung
Die Patienten (2 Frauen, 1 Mann) im Alter von 21 bis 63 Jahren zeigten das klinische Bild einer Enzephalitis mit Aufmerksamkeits‑/Konzentrationsstörungen, Vigilanzstörung, epileptischem Anfall, Aphasie sowie einem Myoklonus-Opsoklonus-Syndrom. Im Liquor zeigte sich eine lymphozytäre Pleozytose und die MR-Tomographien des Neurokraniums zum Zeitpunkt der Diagnosestellung sowie bei 3‑monatiger Verlaufskontrolle ergaben einen Normalbefund. Eine Übersicht der einzelnen Fälle ist in Tab. 1 dargestellt.
Die Diagnosestellung wurde gestützt durch: 1. den zeitlichen Zusammenhang zwischen Impfung und Symptombeginn, 2. die charakteristischen Symptome, 3. den Ausschluss anderer Ätiologien und 4. das Ansprechen auf eine immunsuppressive Therapie mit Kortikosteroiden.
Nach Ausschluss einer erregerinduzierten Enzephalitis durch umfangreiche Laboruntersuchungen wurden zwei Patienten immunsuppressiv behandelt mit rascher klinischer Besserung. Der dritte Patient lehnte eine immunsuppressive Behandlung ab und besserte sich spontan. Alle Fälle waren charakterisiert durch insgesamt gutartige Verläufe ohne Folgeerscheinungen.
Diskussion
Die Fallserie ist durch das Auftreten von Enzephalitissymptomen innerhalb von 7 bis 11 Tagen nach Impfung gegen SARS-CoV‑2 mit dem Vakzin ChAdOx1 nCoV-19 gekennzeichnet. Postvakzinale Enzephalitiden stellen eine bekannte Entität dar. In einem Erhebungszeitraum von 20 Jahren wurden in den Vereinigten Staaten 1396 Fälle postvakzinaler Enzephalitis nach Impfungen gegen Hepatitis B (354 Fälle), Influenza (208 Fälle), Masern, Mumps und Röteln (208 Fälle) und Haemophilus influenzae Typ B (120 Fälle) berichtet [8]. Bei 708 Patienten (50,7 %) trat die Enzephalitis innerhalb von 14 Tagen nach der Impfung auf. Als Ursache der postvakzinalen Neuroinflammation wird die starke Expression proinflammatorischer Zytokine sowie eine T‑Zell-Reaktion vermutet. Dies wurde auch für den Impfstoff ChAdOx1 nCoV-19 nachgewiesen [2]. Nach der Impfung werden Antigene als potenzielle Krankheitserreger erkannt. Induktion und Transkription zahlreicher Zielgene führt zur Synthese und Freisetzung pyrogener Zytokine in den Blutkreislauf. Diese imitieren die Reaktion einer natürlichen Infektion. Nach Stimulation setzt das Immunsystem eine komplexe Kaskade des genuinen Immunsystems in Gang. Entzündungsmediatoren und -metabolite im Blutkreislauf können andere Körpersysteme beeinträchtigen und systemische Nebenwirkungen hervorrufen. Schließlich wird durch Aktivierung der Mikroglia eine Neuroinflammation verursacht [6].
Über das Auftreten von Enzephalitiden nach einer Impfung mit ChAdOx1 nCoV-19 wird in mehreren öffentlich zugänglichen Datenregistern berichtet (Tab. 2). Insgesamt wurden bisher 102 Enzephalitisfälle bei 106,2 Mio. Impfdosen ChAdOx1 nCoV-19 gemeldet. Anhand der gemeldeten Ereignisse und der in diesem Zeitraum verabreichten Impfungen kann die Inzidenz auf etwa 10 pro 10 Mio. Impfdosen geschätzt werden.
Eine vergleichbare Analyse des mRNA-Impfstoffs des Pharmaunternehmens Pfizer-BioNTech (Comirnaty) ergab nur 32 gemeldete Enzephalitisfälle bei 90,4 Mio. verabreichten Impfdosen. Die geschätzte Inzidenz liegt damit bei etwa 4 von 10 Mio. Impfdosen, signifikant niedriger im Vergleich zu ChAdOx1 nCoV-19 (ChAdOx1 nCoV-19 vs. Comirnaty; Pearson’s χ2 = 26,4; p < 0,001).
Es erfolgte eine Gegenüberstellung der Inzidenzen der möglichen postvakzinalen Enzephalitiden mit spontan auftretenden Enzephalitiden ungeklärter Ätiologie. Dafür war die Definition einer vergleichbaren Zeitspanne erforderlich. In den gemeldeten Impfregisterdaten wurde durch das Robert-Koch-Institut ein Auftreten innerhalb von maximal 91 Tagen nach Impfung berichtet, während die EMA und die englischen Registerdaten keine Zeitspanne benannten. Entsprechend der US-Erhebung von 1396 Enzephalitisfällen mit 50,7 % aller aufgetretenen Fälle innerhalb von 14 Tagen [8] definierten wir dieses Intervall als relevanten Zeitraum nach erfolgter Impfung. Dies entsprach für die in den öffentlich zugänglichen Datenregistern gemeldeten Fälle nach Impfung mit ChAdOx1 nCoV-19 einer Inzidenz der möglichen postvakzinalen Enzephalitis von 5 pro 10 Mio. Impfdosen.
Dieser Anzahl wurde die zu erwartende Anzahl spontan auftretender Enzephalitiden ungeklärter Ätiologie entsprechend der britischen Studie mit 75 Fällen pro 5 Mio. Einwohner in einem Zeitraum von 2 Jahren gegenübergestellt [4]. Berechnet auf ein Zeitintervall von 14 Tagen und 10 Mio. Personen wäre somit eine Rate spontan auftretender ungeklärter Enzephalitisfälle von 2,9 pro 10 Mio. Personen zu erwarten.
Ein Vergleich zwischen erhobenen Fällen öffentlich zugänglicher Impfregisterdaten mit den Daten einer Studie zu spontan auftretenden Fällen einer Enzephalitis ungeklärter Ätiologie kann als Schätzung der Fälle angesehen werden (Abb. 1). Diese stellt aufgrund der Methodik allerdings keine genaue Analyse dar, was als Limitation dieser Analyse anzusehen ist.
Anzunehmen ist aber, dass nicht alle Fälle gemeldet wurden und daher die tatsächliche Inzidenz der postvakzinalen Enzephalitis höher ist. Eine systematische Erhebung und Meldung mutmaßlicher postvakzinaler Enzephalitiden wäre für eine belastbarere Datenanalyse wünschenswert.
Fazit
Die Komplikation einer Enzephalitis nach einer ChAdOx1 nCoV-19-Impfung ist auf der Basis vorliegender Daten sehr selten. Es finden sich Hinweise, dass das Risiko, eine postvakzinale Enzephalitis zu entwickeln, nach einer Impfung mit ChAdOx1 nCoV-19 leicht erhöht ist. Auch wenn bisher nur der zeitliche Zusammenhang zwischen Impfung und Enzephalitis dargelegt werden kann, sind das gehäufte Auftreten einer Enzephalitis sowie eine unterschiedliche Inzidenz in Abhängigkeit des verwendeten Impfstoffs erkennbar. Eine systematische Erhebung und Meldung auftretender Fälle einer mutmaßlich postvakzinalen Enzephalitis wäre für eine belastbarere Datenanalyse wünschenswert. Der Nutzen der Impfung überwiegt eindeutig die Risiken.
Literatur
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F. Zuhorn, T. Graf, R. Klingebiel, W.-R. Schäbitz und A. Rogalewski geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Von allen drei Patienten erhielten wir die schriftliche Einverständniserklärung, dass die Beschreibungen der Erkrankung und die Abbildungen anonym veröffentlicht werden dürfen.
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Zuhorn, F., Graf, T., Klingebiel, R. et al. Seltene Enzephalitis nach Impfung gegen SARS-CoV-2. Nervenarzt 93, 620–623 (2022). https://doi.org/10.1007/s00115-021-01205-x
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