Einführung

Die rassistisch motivierten Gewalttaten gegen Walter Lübcke (2019), von Halle (2019) und Hanau (2020) sind uns noch präsent. Allerdings sind diese medial besonders sichtbaren Ereignisse nur die „Spitze des Eisberges“. Aktuelle Statistiken, die in der medialen Öffentlichkeit weniger sichtbar sind, geben uns ein differenzierteres Bild des Ausmaßes der aktuellen Situation rechter, rassistisch und antisemitisch motivierter Angriffe und Gewalttaten in den letzten 30 Jahren. Seit 1990 wurden in einem Langzeitprojekt von Frankfurter Rundschau, Tagesspiegel und Zeit-online mindestens 169 Todesopfer rechter Gewalt registriert, von denen nur etwa die Hälfte in den offiziellen Statistiken erscheint [88]. Im Jahr 2019 wurden mindestens fünf Menschen Opfer rechter Gewalt und rund zwei Drittel aller Angriffe (841 Fälle) waren rassistisch motiviert. Sie richteten sich vornehmlich gegen schwarze Deutsche und Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung [79]. Bisher liegen keine umfänglichen Studien zu den psychischen Folgen rassistisch motivierter Gewalterfahrungen auf die davon Betroffen in Deutschland vor. Die generellen Folgen von Diskriminierung und Ausschluss für die psychische Gesundheit sind jedoch bekannt, wie im Folgenden ausgeführt werden wird.

Dem Zusammenhang zwischen rechter und rassistisch motivierter Gewalt widmete die Zeitschrift Trauma-Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendung zu Beginn 2020 ein Schwerpunktheft [47]. Die Autor*innen diskutieren darin die gesellschaftlichen, biographischen und psychischen Langzeitfolgen rechter und rassistisch motivierter Gewalt und formulieren als zentrales Anliegen die Notwendigkeit, die Stimmen der von rechter Gewalt Betroffenen in der Öffentlichkeit hörbar zu machen. Diese Erfahrungsberichte, wie sie beispielsweise in der Podcast-Serie von NSU Watch und VBRG e. V. „Vor Ort – gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt“ (siehe: https://www.verband-brg.de/podcast/) zusammengetragen wurden, verweisen nicht nur auf die Notwendigkeit der gesamtgesellschaftlichen Solidarität mit den Opfern, sondern sind zugleich Zeugnisse der Auswirkungen rassistischer Gewalt auf die Erfahrungswelten und damit die psychische Gesundheit der Opfer.

Für eine differenzierte Debatte in der Psychiatrie und zum Umgang mit von Rassismus Betroffenen werden wir im folgenden Beitrag drei Stränge des aktuellen Diskussionsstandes genauer beleuchten:

  1. I.

    Rassismusdiskurse und eine kritische Betrachtung der Begriffe „Rasse“ und „race“,

  2. II.

    die Auswirkungen von Rassismus und Diskriminierung auf Wohlbefinden und psychische Gesundheit und abschließend

  3. III.

    Umgang mit Rassismus und Diskriminierung in Versorgungsstrukturen.

Rassismusdiskurse und eine kritische Betrachtung der Begriffe „Rasse“ und „race“

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etablierte sich in Europa und Deutschland der Eindruck (oder auch die Hoffnung), dass „rassi(sti)sche“ Kategorisierungen und Etikettierungen der Vergangenheit angehören (vgl. [48]). Es mag daher verwundern, dass der Begriff „Rasse“ bis heute im deutschen Grundgesetz verankert ist [23]. Neben „Abstammung“ und „Sprache“ wird er erwähnt – in einer Reihe von Kategorien, anhand derer Menschen in Deutschland nicht diskriminiert werden sollen. Es scheint also nötig, noch einmal eine historische und zeitgemäße Verortung des Begriffes vorzunehmen.

In der Anthropologie, die sich als naturwissenschaftlicher Zweig aus der Ethnographie entwickelt hatte, beschäftigte man sich bereits im 17. Jahrhundert mit dem Konzept der „Rasse“ zur Klassifizierung von Menschen (vgl. [31]). Das naturwissenschaftliche Konzept der „Rassen“ diente vor allem im 19. und 20. Jahrhundert dazu, das in Europa vorherrschende Klischee einer vermeintlich überlegenen weißen „Rasse“ wissenschaftlich zu untermauern. Politisch folgte daraus eine Vermischung von Nationalismus und Rassismus mit den bekannten verhängnisvollen Konsequenzen. Die Hypothese lautete, dass es weltweit zumindest drei „Menschenrassen“ (Europäer, Asiaten und Afrikaner) unterschiedlichen örtlichen und zeitlichen Ursprungs gäbe, die eindeutig voneinander abgrenzbar seien. Diese Wahrnehmung fungierte auch als ideologische Säule für den Kolonialismus (vgl. [49]).

Heutige Theorien zu Wanderungsbewegungen der Menschen gehen demgegenüber aber davon aus, dass der Homo sapiens vor etwa 200.000 Jahren in Afrika entstand und sich von dort über Wanderungsbewegungen nach Europa, Asien und schließlich Amerika ausgebreitet hat. Dementsprechend findet sich die höchste genetische Varianz bei Menschen südlich der Sahara in Afrika, wo die ursprüngliche Population vermutet wird [20, 51]. Im Zuge der Wanderungsbewegungen nimmt die genetische Varianz ab. Das ist offenbar darauf zurückzuführen, dass die einzelnen Individuen in eher kleinen Menschengruppen, die die Wanderung antraten, nur einen Teil der Varianz des ursprünglichen Genpools „mitbrachten“ (vgl. [7, 41]). Das heißt, dass die Varianz zwischen zwei Personen südlich der Sahara größer sein kann als zwischen einer Person aus Afrika und einer zweiten aus Asien oder Europa [78].

Es handelt sich dabei allerdings um Unterschiede in der Häufigkeit der Ausprägung von Genvarianten, also von Allelen und ihren Kombinationen und nicht um qualitativ „andersartige“ Gene oder um Allele, die ausschließlich in einer „Rasse“ vorkämen [16, 73]. Da der Begriff der „Rasse“ aber auf kategoriale Unterschiede zwischen menschlichen Populationen hinweist, wurde er als biologisch fehlleitend abgelehnt [3, 59]. Stattdessen wird auf die genetische und phänotypische Vielfalt und die gleitenden Übergänge zwischen verschiedenen Populationen verwiesen ([51]; Livingston 1960).

Das Konzept der „Rasse“ ist nicht Voraussetzung, sondern Folge von Rassismus

Dieses Verständnis konstatiert auch die Jenaer Erklärung, die von Forscher*innen aus Zoologie und Anthropologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Jahr 2019 zum Anlass des 100. Todestages Ernst Haeckels verabschiedet wurde und die darlegt, dass das Konzept der „Rasse“ nicht die Voraussetzung, sondern die Folge von Rassismus ist [29].

Folgen wir diesem Verständnis, können wir mit Delgado und Stefanic davon ausgehen, dass es sich bei den Begriffen „Rasse“ und „Rassen“ um sozial konstruierte Macht- und Dominanzkategorisierungen handelt [25, S. 7]. So gesehen umfasst Rassismus dann viel mehr als individuelle Vorurteile, Stereotypen und daraus resultierendes Verhalten, sondern ist eingeschrieben in soziale und politische Strukturen und trägt dazu bei, dass rassistisch determinierte Ungleichheit vielfach als natürlich (biologisch) gegebener Prozess konstruiert und wahrgenommen wird und nicht als Ergebnis von Macht- und Herrschaftsstrukturen [13].

Sozialkonstruktivistische Konzeptionen der „Rassifizierung“ und des dadurch entstehenden Begriffs der „Rasse“ unterstreichen hingegen die sozial determinierte hierarchische Einteilung von Menschen in Gruppen basierend auf Phänotypen oder anderen sichtbaren Merkmalen als Teil eines Systems, welches „Rassen“-basierte Ungleichheit und Hierarchie rechtfertigt. So zeigt sich beispielsweise die strukturelle Benachteiligung von Schwarzen in den USA anhand der ausgeprägten Disparitäten im sozioökonomischen Bereich zwischen schwarzen und weißen Amerikanern [28]. Aber auch für Deutschland zeigen Studien für diverse Lebensbereiche Ungleichheiten, die sich entlang der Zuschreibungen einer anderen ethnischen Herkunft, Hautfarbe oder Religion ergeben. Aktuelle empirische Studien weisen darauf hin, dass entsprechend kategorisierte Gruppen rassistischer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt [1], im Bildungsbereich [9, 11], auf dem Arbeitsmarkt [50] und im Gesundheitssystem [5] ausgesetzt sind.

Im angloamerikanischen Raum hat sich eine kritische Bewegung etabliert, die das soziale Konstrukt der „race“ aktiv nutzt, um die Personen nennbar und sichtbar zu machen, die besonders von derartiger rassistischer Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen sind, ohne dabei von biologischen Kategorien auszugehen. Im medizinischen Kontext überwiegt allerdings beim Gebrauch dieses Begriffs die traditionelle Kategorisierung in biologisch verstandene Gruppen (Pubmed-Abfrage am 21.07.2020: 77.953 Ergebnisse zu „race/genetic“, 1696 zu „race/social construct“ und 6623 zu „race/discrimination“). Die Übertragung des Begriffs in den deutschen medizinischen Kontext läuft damit Gefahr, biologisch falsche Dichotomisierungen, die traditionell mit dem Begriff der „Rasse“ verbunden waren, zu reproduzieren [42].

Rassismus ist ein historisch gewachsenes Phänomen

Das Dilemma besteht darin, sich einerseits von dem Konstrukt „Rasse“ als biologische Kategorie zu verabschieden, zugleich aber dessen Wirkmacht anzuerkennen. Guillaumin formuliert dazu: „Rassen gibt es nicht und doch töten sie“ [35, S. 7]. Es scheint daher nötig, zu realisieren, dass Rassismus ein historisch gewachsenes Phänomen ist, welches Machtstrukturen ausdrückt, in deren Folge betroffene Gruppen strukturell benachteiligt sind [12, 45, 75].

Eine solche Perspektive ermöglicht es, Rassismus sowohl auf der individuellen als auch strukturellen Ebene als eine zentrale Facette von Gesundheit und Ungleichheit ins Zentrum empirischer Forschung zu rücken [30]. Dies erlaubt es zu untersuchen, wie über „Rasse“-Zuschreibungen Mitglieder der Gesellschaft aufgrund ihrer individuellen körperlichen Merkmale kategorisiert und etikettiert werden und wie dies wiederum den Zugang zu Gesundheitsstrukturen und -privilegien beeinflusst [33]. Es gibt jedoch bislang keinen Konsens zur Konzeptualisierung und Operationalisierung von Rassismus in epidemiologischer und medizinischer Forschung [55]. Einen solchen zu etablieren, bleibt eine Herausforderung. Allerdings wurden in den letzten Jahrzehnten Modelle zu den verschiedenen Ebenen von Rassismus entwickelt, um Diskurse und Forschung zu „Rassen“-bedingten Ungleichheiten besser strukturieren zu können [36, 45].

Rassismus und Diskriminierung – Auswirkungen auf Wohlbefinden und psychische Gesundheit

Es gibt eine Vielzahl an Studien, die zeigen, dass sozial marginalisierte Gruppen besonders von psychischen Belastungen und psychischen Erkrankungen betroffen sind. Personen, die einer ethnischen Minderheit angehören, bzw. wie in Deutschland gefasst, einen Migrationshintergrund haben, gehören in besonderem Maße zu dieser Gruppe [18, 40, 61, 72]. Die spezifischen negativen Auswirkungen von Diskriminierung und Ausgrenzung auf psychische Gesundheit wurden in den letzten Jahrzehnten für diverse soziale und ethnische Gruppen unter Berücksichtigung der jeweiligen Kontexte gezeigt [2, 8, 10, 65, 66, 87]. Dabei ist wichtig zu betonen, dass diesbezüglich sowohl für typische stressassoziierte Belastungsreaktionen [66] als auch für schwere psychische Störungen wie Psychosen Evidenz gefunden wurde [46, 80,81,82]. Eine umfassende metaanalytische Übersichtsarbeit von Cantor-Graae und Selten [18] wies u. a. auf ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen wie Schizophrenie bei Personen mit eigener Migrationserfahrung als auch deren Kindern hin.

Strukturelle Diskriminierung beeinflusst die frühe psychische Prägung

Während Diskriminierung auf der individuellen Ebene in Form alltäglicher Mikroaggressionen [64] bis hin zu außergewöhnlich belastenden Ereignissen mit potenziell traumatisierender Auswirkung erfolgen und sich individuell krankheitsfördernd auswirken kann, muss zugleich die Bedeutung struktureller Diskriminierung betont werden. Strukturelle Diskriminierung beeinflusst über die Lebensspanne sowohl frühe psychische Prägungen, die Verteilung psychischer Ressourcen, Bildungs- und Arbeitsmarktchancen als auch umweltbezogene Risikofaktoren (z. B. Wohnen, Exposition zu Umweltgiften etc.). Die Diskriminierungsforscherin Nancy Krieger argumentiert deshalb für ein sozialökologisches Modell für die Analyse von Rassismus und Gesundheit, in welchem vor allem ökonomische und soziale Deprivation, Exposition gegenüber Umweltgiften, soziales Trauma, gesundheitsschädigendes Verhalten in Reaktion auf Diskriminierung, genauso wie gruppenspezifisch zielgerichtetes Marketing und unzureichende medizinische Versorgung Berücksichtigung finden sollen [52, 53]. Sozialökologische Betrachtungsweisen und Analysen weisen auf ein komplexes Zusammenspiel zwischen individuellen Risikofaktoren und sozialen Rahmenbedingungen über die Lebensspanne hin [62], durch welches manche Gruppen einem höheren Risiko unter Risiko ausgesetzt sind, durch solche Risikofaktoren gefährdet zu werden („increased risk of risks“; [58]).

Rassistische Diskriminierung erhöht das Risiko für eine psychotische Episode

Eine Vielzahl solcher sozialer Ausschlussmechanismen zeigt sich beispielsweise in Studien zu sozialem Kapital in Migrant*innenpopulationen. Deutlich wird dabei, dass Migrant*innen zwar häufig über engere soziale Netzwerke innerhalb der eigenen migrantischen Gemeinschaft verfügen, aber ihre Netzwerke in die Majoritätsgesellschaft oft deutlich geringer sind [70]. Aber gerade Netzwerke in die Majoritätsgesellschaft, z. B. in Form von Nachbarschaftskontakten, scheinen sich nicht nur förderlich auf Interaktionen zwischen ethnisch diversen Gruppen auszuwirken, sondern auch Diskriminierung und Ausgrenzung entgegenzuwirken [57]. Darauf verweisen auch Forschungsergebnisse zu Vorurteilen, Stereotypen und psychischen Belastungen. Vorurteile gegenüber Minoritäten stellen Unterstützung und Solidarität infrage und können dementsprechend zu Diskriminierung und sozialer Isolation beitragen und damit psychische Gesundheit negativ beeinträchtigen [6, 43]. Zudem können in sozialen Interaktionen auftretende „ethnische“ und rassistische Stereotype und Vorurteile, die sich gegen Minoritäten richten, zu hohen psychischen Belastungen bei den davon betroffenen Personen führen [27, 42].

So zeigen Untersuchungen zum Psychoserisiko bei Migrant*innen erhöhte Psychoseraten in Nachbarschaften, in denen wenige andere Migrant*innen gleicher Herkunft lebten [14, 84]. Hierbei ist weiterhin Gegenstand aktueller wissenschaftlicher Debatten, inwieweit Diskriminierung eine kausale oder mediierende Rolle spielt [80]. In jedem Fall kommt rassistischer Diskriminierung als sozialem Stressor eine zentrale Rolle in den betroffenen Gruppen zu, welcher das Risiko für eine psychotische Episode erhöht [83]. Auch neurobiologische Erkenntnisse zum Einfluss sozialen Stresses auf psychische Verarbeitungsprozesse könnten diese Hypothese stützten. So zeigte eine Reihe von Studien, dass sozialer Stress, z. B. in Form aversiver sozialer Ausgrenzung, die dopaminerge Neurotransmission verstärken kann [76, 77].

Dass die spezifische migrantische bzw. postmigrantische Lebenssituation einen Moderatoreffekt für den Zusammenhang von sozialer Ausschließung, Armut und psychischer Gesundheit haben kann [72], bestätigen neuere Studien zur psychischen Gesundheit Geflüchteter deutlich [15]. So konnte gezeigt werden, wie sich unsichere Lebensbedingungen, gesellschaftlicher Ausschluss und das Wohnumfeld auf psychische Belastungen auswirken [22, 39]. Gerade für Geflüchtete kommt noch eine weitere spezifische Ausschlusserfahrung – der unsichere Aufenthaltsstatus – hinzu, die wesentlichen Einfluss auf die psychische Gesundheit bei Geflüchteten hat [54].

Rassismus und Diskriminierung in Versorgungsstrukturen

Ethnokulturelle Minderheiten und Migrant*innen erfahren bei der Inanspruchnahme medizinischer Versorgung vielfach Diskriminierung [38]. Diese Erfahrungen können von subtilen Formen der Ausgrenzung bis hin zu expliziten Formen der Diskriminierung reichen. Sie manifestieren sich im direkten Kontakt mit anderen Patient*innen ebenso wie mit dem Gesundheits- oder Servicepersonal. Studien zeigen, dass wahrgenommene Diskriminierung mit Verzögerungen bei der Suche nach einer Behandlung verbunden ist [17, 85], die die Motivation für Präventionsbemühungen senkt [37] und die Compliance gegenüber ärztlichen Empfehlungen beeinträchtigt [19]. Eine kürzlich in Deutschland durchgeführte Umfrage ergab, dass wahrgenommene ethnische Diskriminierung und Rassismus im Gesundheitswesen häufig mit sozialer Diskriminierung verbunden war und dabei häufiger mit Herabsetzungen als mit explizitem Ausschluss von Gesundheitsdienstleistungen einhergeht [5].

Menschen erfahren in Krankenhäusern Diskriminierung allerdings nicht nur wegen ihrer Migrationsgeschichte, sondern auch weil ihre Lebensbedingungen mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit verschränkt sind. Sie haben beispielsweise schlechtere Bildungschancen und häufig ein geringeres Einkommen, was wiederum zu Nachteilen im Gesundheitswesen führt [26, 60].

Corona macht soziopolitisch determinierte Gesundheitsrisikofaktoren deutlich

Dass Gesundheitsrisikofaktoren soziopolitisch determiniert sind, wurde auch im Zusammenhang mit der aktuellen Corona-Situation deutlich. Es zeigten sich auch hier die Auswirkungen von Diskriminierung und strukturellem Rassismus. Ähnlich wie bei der Influenzapandemie A (H1N1; [24, 74]) weisen zahlreiche Studien und national veröffentliche Statistiken auf eine stark erhöhte Infektions‑, Hospitalisierungs- und Sterberate durch COVID-19 bei Schwarzen und ethnischen Minderheiten im Vergleich zu Weißen in den USA und Großbritannien hin [4, 21, 32, 44, 56, 68]. Eine Reihe von Risikofaktoren, die von biologischen bis hin zu sozialen und systembedingten Elementen reicht, wurde als Haupterklärungsansätze für die Ungleichheiten bei den Gesundheitsfolgen von COVID-19 identifiziert [4, 32, 34, 56, 71]. So weisen Studien darauf hin, dass ethnische Minderheiten häufiger unter Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, chronischen Lungenerkrankungen und Bluthochdruck leiden, die diese Gruppen einem höheren Risiko für eine schwere Folgeerkrankung durch COVID-19 auszusetzen [4, 32, 71]. Biologische Risikofaktoren können dabei nicht isoliert von anderen sozialen und strukturellen Faktoren betrachtet werden, die eine maßgebliche Auswirkung auf Krankheitsprävention und Gesundheitsfolgen haben [69]. Strukturelle Ungleichheiten wie geringerer sozioökonomischer Status [71], beengte Wohnverhältnisse [56], höherer Beschäftigungsanteil in systemrelevanten Berufen ohne ausreichende Möglichkeiten zu „social distancing“ [63] sowie ein geringerer Anteil an Krankenversicherten [21, 34] erhöhen offenbar die Risiken für COVID-19-Erkrankungen und erschweren den Verlauf der Krankheit bei ethnischen Minderheiten, Schwarzen und anderen „people of color“.

Es muss sich eine offene Diskussionskultur über den Abbau von Diskriminierung etablieren

In den letzten Jahren haben die Forderungen nach einer interkulturellen Öffnung im deutschen Gesundheitswesen zugenommen und auch die Bemühungen zu deren Umsetzung sind verstärkt worden, um eine gleichberechtigte Teilhabe aller Gruppen und Communitys im System zu erreichen [67]. Allerdings ermöglicht dies nicht automatisch, diskriminierungs- und rassismusbedingte Ungleichheiten beim Zugang zu und in der Gesundheitsversorgung abzubauen. Für eine rassismus- und diskriminierungssensible Forschung und Versorgung bedarf es der Etablierung einer offenen Diskussionskultur über Diskriminierungserfahrungen und mögliche Wege zum Abbau von Diskriminierung und eines institutionellen Bewusstseins für diskriminierendes Verhalten. Nur in einem solchen Prozess können schrittweise und dauerhafte Änderungen der jeweiligen Praxen herbeigeführt werden. Wünschenswert wäre zukünftig eine intersektionale Perspektive, die eine Verschränkung der verschiedenen Dimensionen sozialer Ungleichheit und Ausschließungsprozesse berücksichtigt, um uns mit den vielfältigen Formen sozialer Benachteiligung und Mehrfachdiskriminierung auseinanderzusetzen. So können Menschen in ihrer Komplexität wahrgenommen und Verbindungen und Solidaritäten erleichtert werden.

Im Jahr 2017 erkannte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die umfassenden Auswirkungen verschiedener Formen der Diskriminierung im Gesundheitswesen an und forderte ein Ende der Diskriminierung im Gesundheitswesen [86]. Zudem hat die WHO die Empfehlungen der UN befürwortet, die eine Priorisierung folgender Bereiche im Gesundheitswesen formulieren: Unterstützung der Beschäftigten im Gesundheitswesen, die zum Teil selbst von Diskriminierung betroffen sind, sodass sie ihre Rechte geltend machen können, die Entwicklung eines stabilen rechtlichen Rahmens und Antidiskriminierungsbemühungen sowohl im Gesundheitswesen als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu stärken.

Fazit für die Praxis

  • „Rasse“ und „Rassen“ sind soziale Konstruktionen, die keine biologische Entsprechung haben, sondern menschengemachte Macht- und Dominanzkategorien repräsentieren. Dabei ist Rassismus ein historisch gewachsenes Phänomen, welches sich u. a. in einer strukturellen Benachteiligung bestimmter Gruppen ausdrückt. Zu den davon betroffenen Personengruppen gehören in besonderem Maße Personen, die einer ethnischen Minderheit angehören bzw. einen Migrationshintergrund haben.

  • Es wurde in vielen Studien dokumentiert, dass sich Exklusion und Diskriminierung negativ auf die psychische Gesundheit auswirken können. Ausschlaggebend sind dabei nicht nur individuelle Diskriminierungserlebnisse, sondern in starkem Maße auch strukturelle Diskriminierung.

  • Strukturelle Diskriminierung führt dazu, dass ethnische Minderheiten, „people of color“ und Menschen mit Migrationshintergrund über die Lebensspanne hinweg zahlreichen indirekten und direkten Benachteiligungen ausgesetzt sind, die wir auch im Gesundheitswesen beobachten können.