Die Genersatztherapie mit Onasemnogene Abeparvovec verspricht erstmals eine kausale Therapieoption für kleine Kinder mit spinaler Muskelatrophie (SMA) in Form einer einmaligen intravenösen Anwendung. Es liegen keine Langzeitergebnisse über die Nachhaltigkeit der Wirkung und möglicher unerwünschter Wirkungen inklusive potenzieller „Off-target“-Effekte vor. Die Anwendung dieser neuen Therapieform muss daher unter strengen Sicherheitsauflagen und von entsprechend qualifizierten und erfahrenen neuromuskulären Behandlungszentren erfolgen. Die Wirksamkeit und Sicherheit der Behandlung und ein Vergleich gegenüber Nusinersen, der einzigen bisher zugelassenen Therapie, und ggf. im Verlauf anderen genmodulierenden Therapien, muss auch in der „Real-world“-Anwendung systematisch in einem wissenschaftlich fundierten, krankheitsspezifischen Register dokumentiert und evaluiert werden. Mit den neuen Therapien entstehen neue Herausforderungen an Diagnostik, Patientenversorgung und das Gesundheitssystem. Das vorliegende Konsensuspapier gibt konkrete Empfehlungen für die Anwendung dieser Gentherapie in der klinischen Praxis.

Hintergrund

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist mit einer Inzidenz von ca. 1 auf 7500 Lebendgeburten in Deutschland und einer Überträgerfrequenz von 1 zu 50 historisch die führende genetisch bedingte Ursache für Säuglingssterblichkeit [14]. Onasemnogene Abeparvovec (im Folgenden AVXS-101, nach Marktzulassung in Deutschland geplanter Handelsname Zolgensma®) ist ein Genersatztherapeutikum für die kausale Therapie der 5q-assoziierten SMA, bei der es durch biallelische Mutationen im SMN1(Survival Motor Neuron1)-Gen zu einem Mangel an SMN-Protein in den α‑Motoneuronen kommt. Das SMN-Protein spielt eine grundlegende Rolle in der Regulation der Zellhomöostase und der Biogenese von Ribonukleoproteinen. Neuere Studien haben gezeigt, dass SMN-Protein auch an anderen „House-keeping“-Prozessen beteiligt ist, darunter mRNA-Trafficking und lokale Translation, Zytoskelettdynamik, Endozytose und Autophagie. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass das SMN-Protein Mitochondrien und bioenergetische Wege beeinflusst und die Funktion des Ubiquitin-Proteasom-Systems reguliert [3]. Der Mangel an SMN-Protein führt durch fortschreitende Degeneration der motorischen Vorderhornzellen (α-Motoneurone) im Rückenmark und Hirnstamm zu einer progressiven Muskelatrophie. AVXS-101 ist ein Adeno-assoziierter viraler Vektor (AAV) der eine funktionstüchtige Kopie des humanen SMN1-Gens mit einem β‑Aktin-Promotor enthält (Abb. 1; [13, 15]). Das Genkonstrukt wird nach intravenöser Gabe über den Blutstrom verteilt und kann in den ersten 2 Lebensjahren die noch unreife Blut-Hirn-Schranke überwinden. Nach Erkennung und Bindung von Oberflächenmolekülen des AAV durch glykosylierte Zelloberflächenrezeptoren der motorischen Vorderhornzelle erfolgt die Internalisierung durch Endozytose. Es folgt die Überführung des AAV-Kapsids in endosomal-lysosomale Abbauwege und die Freisetzung des selbstkomplementären Vektorgenoms und des SMN-Transgens in den Zellkern. Im Zellkern persistiert das Vektorgenom mitsamt dem funktionsfähigen SMN-Transgen als ringförmiges extrachromosomales Episom. Eine Integration des Vektorgenoms in die Wirts-DNA ist theoretisch denkbar und wäre mit potenziellen Risiken wie einer onkogenen Transformation der transduzierten Zelle (sog. insertionellen Mutagenese) verbunden. Dieses Phänomen kann erst im Langzeitverlauf abschließend beurteilt und eingeschätzt werden [10, 12]. Nach Gabe kommt es zu einer raschen Expression des gewünschten SMN-Zielproteins durch das Transgen. In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen im Tiermodell ergaben eine stabile transgene Expression nach einmaliger Gabe, insbesondere in den α‑Motoneuronen des Hirnstamms und Rückenmarks, aber auch in den Neuronen des motorischen Kortex. Früh appliziert zeigten tierexperimentelle Analysen im transgenen SMA-Tiermodell, dass die Motoneurone nicht nur erhalten bleiben, sondern dass diese auch eine normale morphologische Struktur und Funktion haben [5].

Abb. 1
figure 1

Wirkungsprinzip der AAV-basierten Gentherapie. ① Intravenöse Applikation der AAV-basierten Gentherapie. ② Ansteuerung des Zielgewebes, in diesem Falle der motorischen Vorderhornzellen im Rückenmark. ③ Off-target-Effekte durch Ansteuerung weiterer Gewebe wie der Leber (Transaminasenerhöhung), des Herzens (potenzielle Kardiotoxiziät) und des blutbildenden Systems (Blutbildveränderungen, insbesondere Thrombopenie). ④ Erkennung und Bindung von Oberflächenmolekülen des AAV-Kapsids durch glykosylierte Zelloberflächenrezeptoren der motorischen Vorderhornzelle und Internalisierung durch Endozytose. ⑤ Überführung der AAV in endosomal-lysosomale Abbauwege. ⑥ „Escape“ der AAV, Translokation an die Zellkernmembran und Verschmelzung des AAV-Kapsids mit der Zellkernmembran. ⑦ Freisetzung des selbstkomplementären Vektorgenoms in den Zellkern und Persistenz des Vektorgenoms mitsamt Transgen im Zellkern als ringförmiges extrachromosomales Episom. ⑧ In 0,1–1 % der Fälle Integration des Vektorgenoms in die Wirts-DNA mit potenziellen Risiken wie einer malignen Transformation der transduzierten Zelle (insertionelle Mutagenese). ⑨ Expression des gewünschten Zielproteins durch das Transgen

Neben der Wirkung in der Zielzelle müssen im kurzfristigen Intervall nach Gabe vor allem sog. „Off-target“-Effekte berücksichtigt und regelmäßig überwacht werden. Diese fasst Abb. 1 zusammen. Sie entstehen in erster Linie durch Ansteuerung weiterer Gewebe wie der Leber (Transaminasenerhöhung durch Abbau des AAV mit anschließender Antigenpräsentation und Aktivierung des Immunsystems an der Hepatozytenoberfläche), des Herzens (potenzielle Kardiotoxiziät wie z. B. Myokarditis mit Erhöhung von Troponinwerten) und des blutbildenden Systems (Blutbildveränderungen, insbesondere Thrombozytopenie; [1, 6]).

Die Firma AveXis/Novartis legte im 2. Halbjahr 2018 die Daten der abgeschlossenen Phase-1/2-Studie (START; [8]) sowie die Zwischenauswertungen der noch laufenden Phase-3-Studien (STR1VE-US, STR1VE-EU, SPR1NT) zu Nebenwirkungen, Dosisfindung und Wirksamkeit bei mit AVXS-101 behandelten, <6 Monate alten SMA-Typ 1-Patienten vor. Aufgrund dieser Daten wurde im Mai 2019 von der FDA die beschleunigte „Orphan-Drug“-Zulassung für die Behandlung von SMA-Kindern unter 2 Jahren mit biallelischen Mutationen im SMN1-Gen erteilt. Auch für den europäischen Bereich beantragte AveXis die Zulassung von AVXS-101. Momentan läuft das Zulassungsverfahren bei der europäischen Zulassungsbehörde (European Medicines Agency, EMA) noch. AVXS-101 ist das erste Genersatztherapeutikum für diese Indikation und in den USA mit einem Nettopreis von 2,1 Mio. US-Dollar für eine einmalige Applikation auch das bisher weltweit teuerste Medikament.

Wie bei anderen Medikamenten für seltene Erkrankungen sind die Daten in Bezug auf Sicherheit und Wirksamkeit zum Zeitpunkt der Zulassung noch äußerst begrenzt. Es ist deshalb unerlässlich, nach der Zulassung durch eine systematische Erfassung weitere Evidenzen zur langfristigen Wirksamkeit und Sicherheit der Therapie zu sammeln. Hierzu wurde in Deutschland von den DGM-zertifizierten Neuromuskulären Zentren das SMArtCARE-Register als krankheitsspezifische Datenbank für Patienten mit SMA etabliert (www.smartcare.de; [11]).

Teilnehmer und Ablauf der Konsensusfindung

Das vorliegende Konsensuspapier fasst die Ergebnisse von zwei unabhängig von der Industrie initiierten Konsensustreffen am 21.08.2019 und 18.11.2019 in Frankfurt/Main auf Einladung der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e. V. (DGM) zusammen.

Angeschrieben wurden alle neuropädiatrischen Kliniken und Abteilungen und alle sozialpädiatrischen Zentren, die sich im Jahr 2017 für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit SMA mit Nusinersen (Spinraza®) bei der DGM registrieren ließen (www.dgm.org/muskelerkrankungen/spinale-muskelatrophie; Datei: Liste der mit Spinraza behandelnden Kliniken für Kinder). Während des ersten Treffens am 21.08.2019 wurden die Anforderungen definiert, die Behandlungszentren erfüllen müssen, um sich als Gentherapiezentrum zu qualifizieren. Des Weiteren wurden die prästationären, stationären und poststationären Prozeduren bestimmt, die für eine sichere und nachhaltige Therapie mit AVXS-101 notwendig sind. Daraus definieren sich unmittelbar die strukturellen und personellen Anforderungen sowie der Finanzierungsaufwand zusätzlich zu den Kosten des Medikaments. Im Oktober 2019 wurde ein erster Entwurf an alle Teilnehmer versandt mit der Bitte um Kommentierung und Rückmeldung bis zum zweiten Treffen am 18.11.2019. An diesem Tag wurde der Text von den anwesenden Teilnehmern gesichtet und unter Berücksichtigung der zuvor eingegangenen Kommentare gewichtet. Nach der Finalisierung wurde der Text zwecks Freigabe nochmals an die federführenden Autoren versandt.

Anforderungen an die Qualifikation der Behandlungseinrichtung

Die Besonderheiten der Therapie mit AVXS-101 (Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder mit einem potenziell großen Spektrum an klinischer Symptomatik und Verlaufsdynamik; innovatives Genersatzwirkprinzip mit einem viralen Vektor mit nur begrenzten Erfahrungen weltweit; hochpreisige Therapiekosten; Notwendigkeit einer mehrjährigen und komplexen Nachsorge; Monitoring auf unerwartete unerwünschte Wirkungen im Verlauf u. a. m.) stellen besonders hohe Anforderungen an die Struktur und die personelle Ausstattung der behandelnden Kliniken. Im Rahmen der Konsensusfindung wurden für die Behandlung von SMA-Patienten Kriterien formuliert, die ein Behandlungszentrum mindestens vorweisen muss, um die Anforderungen an die komplexe Vor- und Nachsorge unter Gentherapie mit AVXS-101 hinreichend erfüllen zu können. Tab. 1 fasst die wichtigsten Empfehlungen zu den Struktur- und Personalvoraussetzungen zusammen. Gegebenenfalls sind weitere Vorgaben durch die zuständigen Behörden im Rahmen des Zulassungsverfahrens im Verlauf zu beachten.

Tab. 1 Konsensusempfehlungen für die fachlichen, organisatorischen, infrastrukturellen und personellen Voraussetzungen der Gentherapie-Behandlungszentren in Deutschland

Mit der Zulassung von AVXS-101 in den USA wird in mehrerer Hinsicht Neuland betreten [16]. Die hohen Kosten für ein einmal zu applizierendes Arzneimittel erfordern neue Abrechnungsformen durch die Kostenträger. Weitere Kosten fallen an für die Vorbereitung der Therapie, den (theoretisch einmaligen) stationären Aufenthalt, aber vor allem für die anschließende ambulante Weiterbehandlung und Verlaufsuntersuchungen der behandelten Patienten über mindestens 5 Jahre. Dieses Konsensuspapier ist im Rahmen eines durch die DGM initiierten Treffens mit den VertreterInnen der neuropädiatrischen Kliniken und sozialpädiatrischen Zentren, die in Deutschland Kinder und Jugendliche mit SMA ambulant und stationär behandeln, konzipiert worden. Unter Berücksichtigung der aktuellen Empfehlungen des US-amerikanischen Zentrums für Gentherapie in Columbus, Ohio [2] fasst es die medizinisch notwendigen Voraussetzungen für eine verlässliche und sichere Therapie mit AVXS-101 inkl. der ambulanten Nachsorge zusammen und beziffert den dafür erforderlichen strukturellen, personellen, zeitlichen und finanziellen Aufwand. Unberührt von den hier vorgestellten Empfehlungen müssen nach erfolgter Zulassung die Informationen und Vorgaben der aktuell noch nicht vorliegenden Fachinformation zur Anwendung von AVXS-101 beachtet werden. Das Konsensuspapier ist ausdrücklich auch an die bei der Zulassung involvierten Gremien und Verbände adressiert. Die notwendige Vergütung des im Folgenden dargestellten Behandlungsalgorithmus wurde bereits im Deutschen Ärzteblatt vorgestellt [17].

Praktische Durchführung der Therapie mit AVXS-101

Die Therapie mit AVXS-101 setzt einen AAV9-Antikörper-Titer in einer Höhe von max. 1:50 voraus [2, 7]. Dieser muss im Vorfeld in einem Speziallabor bestimmt werden. Rund 5 % aller rekrutierten SMA-Kinder konnten aufgrund erhöhter AAV-Titer an den klinischen Studien zu AVXS-101 nicht teilnehmen. Die Therapie erfolgt nach Ausschluss von Kontraindikationen stationär unter einer fortlaufenden Prednisolontherapie, die 24 h vor Gabe begonnen sein, über mindestens 30 Tage durchgeführt und dann langsam ausgeschlichen werden muss. Etwa ein Drittel aller behandelten Kinder zeigte in den klinischen Studien zwar asymptomatische, teilweise aber erhebliche Erhöhungen der Lebertransaminasen bis über das 20-Fache der oberen Normgrenzen. Diese erforderten in den Studien oftmals eine Verlängerung, gegebenenfalls auch eine Intensivierung der immunsuppressiven Therapie. Ein individuelles Vorgehen wird damit notwendig. Die Erfahrungen aus den klinischen Studien zeigen, dass die ambulante Nachbeobachtung der Patienten wegen potenzieller Nebenwirkungen, aber insbesondere auch zur Erfassung der gewünschten Wirkungen umfassend, anfangs engmaschig und vor allem langfristig sein muss. Sowohl im Rahmen der sog. STR1VE-US Studie als auch in der europäischen STR1VE-EU-Studie traten nach Gentherapie mit AVXS-101 jeweils ein Todesfall auf, beide wurden als nicht behandlungsbezogen eingestuft. Allerdings werden unerwünschte Ereignisse wie erhöhte Transaminasen, Thrombozytopenie sowie Hypotonie des Blutdrucks, die zeitlich mit Atemwegsinfektionen in Verbindung stehen, als nicht vollkommen auszuschließende Ereignisse im Zusammenhang mit der Anwendung von AVXS-101 eingeschätzt.

Die notwendigen und im Konsensus vorgeschlagenen Untersuchungen für die ambulante Vorbereitung, stationäre Gabe und anschließende ambulante Nachbetreuung der Kinder mit SMA unter Gentherapie mit AVXS-101 fasst Tab. 2 zusammen. Zur besseren Übersicht werden drei wesentliche Phasen der spezialisierten Betreuung unterschieden: (1) die prästationäre Phase mit entsprechender Vorbereitung, Indikationsstellung und Beantragung der Gentherapie, (2) die stationäre Phase mit der tatsächlichen Gabe und entsprechend engmaschiger Überwachung und (3) die wichtige Phase der poststationären Langzeitnachbeobachtung nach erfolgter Gentherapie.

Tab. 2 Vorgeschlagener Behandlungsalgorithmus für die Genersatztherapie mit Onasemnogene Abeparvovec, AVXS-101 (Zolgensma®): dargestellt sind die vorgeschlagenen Zeitintervalle und Untersuchungen vor, während und nach der Gabe von AVXS-101

1. Prästationäre Phase (Aufklärung, Planung und Beratung)

Der erstmalige Kontakt mit dem spezialisierten Neuromuskulären Zentrum sollte ohne Zeitverzug bereits beim ersten Verdacht auf das Vorliegen einer SMA erfolgen. Alternativ kann zum Ausschluss bzw. zur Bestätigung der Diagnose direkt in der kinderärztlichen Praxis eine molekulargenetische Diagnostik auf das Vorliegen einer spinalen Muskelatrophie eingeleitet werden. Viele humangenetische Labore bieten die MLPA-Analytik auf das Vorliegen einer SMA an. In den Bundesländern, in denen bereits das Pilotprojekt für das SMA-Neugeborenenscreening läuft, erfolgt bei positivem Befund eine direkte Übergabe an das spezialisierte Behandlungszentrum. Ansonsten halten die akkreditierten Behandlungszentren entsprechende Ressourcen vor, damit sich neu diagnostizierte Patienten mit SMA unter 2 Jahren innerhalb von 3 Werktagen nach Kontaktaufnahme mit dem Zentrum vorstellen können, um die Therapieeinleitung und Beratung der Familie umgehend einzuleiten. Die Indikationsstellung und Überwachung der Therapie muss durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie und mehrjähriger Erfahrung in der Betreuung neuromuskulärer Patienten erfolgen. Wichtige Bestandteile der dann folgenden Beratung der Familien und Planung des weiteren Vorgehens sind in Tab. 2 dargestellt. Folgende Aspekte sollten unbedingt Bestandteil der Beratung, der vorbereitenden Diagnostik und Aufklärung sein:

  • Falls bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgt, erfolgt die sofortige Einleitung einer molekulargenetischen Diagnostik (MLPA) auf das Vorliegen einer SMA inklusive Bestimmung der SMN2-Kopienzahl in entsprechend akkreditierten humangenetischen Laboratorien.

  • Ausführliche Aufklärung über das Krankheitsbild SMA, über die zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten mit einer objektiven Abwägung des individuell besten Vorgehens im Hinblick auf die Auswahl des Präparates und den zeitlichen Ablauf der geplanten Untersuchungen (symptomatisch, kausal: SMN2-Genenhancing vs. SMN1-Genersatztherapie).

  • Aufklärung und Einschluss in das SMArtCARE-Projekt zur longitudinalen Sammlung erforderlicher Evidenzdaten.

  • Standardisierte motorische Funktionsdiagnostik gemäß den SMArtCARE-Empfehlungen.

  • Vorbereitende Diagnostik (Tab. 2). Die Untersuchungen können nach Maßgabe des Zentrums auch im stationären Rahmen erfolgen.

  • Überprüfung des Impfstatus: Impfungen nach STIKO-Empfehlungen und saisonale Impfungen bis eine Woche vor Beginn der Gentherapie (Patient und ggf. Bezugspersonen) – die aktualisierten Empfehlungen sowie vorgeschlagene Sicherheitsabstände vor und nach Gentherapie bzw. unter Prednisolontherapie müssen der zukünftigen deutschen Fachinformation des Herstellers entnommen werden.

  • Für betroffene Kinder unter 2 Jahren wird in den Wintermonaten eine RSV-Prophylaxe mit Palivizumab empfohlen (für alle „non-sitters“).

  • Einleitung einer multidisziplinären Betreuung und Beratung der Familien inklusive Sozialberatung (Schwerbehindertenausweis, Pflegegrad, Fahrkostenerstattung u. a.), Verordnung von Physiotherapie und ggf. Hilfsmitteln, orthopädische, pneumologische Anbindung und Ernährungsberatung, ggf. palliativmedizinische Exploration und Schlafmedizin [4, 9].

  • Nach Indikationsstellung erfolgt die Sicherstellung der Kostenübernahme durch den Kostenträger.

  • Im Vorfeld der stationären Aufnahme muss eine Evaluation des AAV9-Titers (Dauer der Bestimmung etwa 5 Werktage) erfolgen: Dieser darf maximal 1:50 betragen; bei höherem Titer wird eine einmalige Kontrolle nach frühestens 2 Wochen empfohlen. Bei Neugeborenen und jungen Säuglingen kann auch ein erhöhter maternaler Titer vorliegen. In diesem Fall kann individuell eine weitere AAV9-Titer-Verlaufskontrolle in Abhängigkeit von der Symptomatik erwogen werden.

  • Es wird ein professionelles Case-Management oder die Betreuung durch Patientenlotsen an den jeweiligen Standorten empfohlen. Im Rahmen des komplexen Planungs- und Nachsorgeprozesses brauchen die Familien einen verlässlichen Ansprechpartner, der die anstehenden Termine und die multidisziplinäre Betreuung der Familien organisiert.

2. Stationäre Phase (Durchführung der Therapie mit AVXS-101)

Nach erfolgter Indikationsstellung für die Gentherapie durch das spezialisierte Neuromuskuläre Zentrum, Ausschluss von Kontraindikationen, vorliegender schriftlicher Kostenübernahmeerklärung durch die Krankenkasse und ausführlicher Aufklärung der Familien mit Einholung einer schriftlichen Einverständniserklärung erfolgt die stationäre Aufnahme im Behandlungszentrum. Der stationäre Aufenthalt sollte folgende wesentliche Aspekte beinhalten und entsprechend im Vorfeld geplant werden (Tab. 2):

  • Jedes Behandlungszentrum besitzt eine schriftliche Standardarbeitsanweisung (SOP) zur Planung und Durchführung der intravenösen Genersatztherapie mit AVXS-101. Diese wird regelmäßig aktualisiert, mindestens alle 12 Monate. Die Inhalte der Konsensusempfehlungen sowie zukünftige Vorgaben der Fachinformation sind darin implementiert.

  • Bestellung von AVSX-101 durch den betreuenden Arzt und die Klinikapotheke im Vorfeld der stationären Aufnahme. Empfehlungen für den Bestellprozess und regelmäßig aktualisierte Formulare werden vom Hersteller Avexis zur Verfügung gestellt.

  • Die stationäre Unterbringung soll entsprechend den lokalen Hygienerichtlinien bezüglich des Umgangs mit Erregern, die der biologischen Schutzstufe 1 entsprechen, erfolgen. Es sollte vermieden werden, dass andere Patienten mit SMA, die möglicherweise für eine Therapie zu einem späteren Zeitpunkt in Betracht kommen, oder akut infektiöse Patienten in unmittelbarer Nähe untergebracht sind. Nach Maßgabe des lokalen Behandlungszentrums kann ggf. eine Aufnahme auf eine pädiatrische Intensivstation erwogen werden.

  • Tag 1 des stationären Aufenthaltes:

    • Beginn der enteralen (oral oder via Sondierung) Einnahme von Prednisolon (1 mg/kg/Tag) als Einzeldosis 24 h vor AVXS-101-Therapie, Fortsetzung über mindestens 30 Tage, dann Ausschleichen nach Maßgabe der pädiatrischen Endokrinologie (Näheres siehe Tab. 3); ein begleitender Magenschutz, z. B. mit Esomeprazol, wird empfohlen.

    • Gegebenenfalls Wiederholung oder Erstbefund der motorischen Funktionsdiagnostik (entsprechend der SMArtCARE-Empfehlungen).

    • EKG, Echokardiographie und weitere Diagnostik (Tab. 2).

  • Tag 2 des stationären Aufenthaltes:

    • Legen von 2 peripher-venösen Zugängen.

    • Gewichtsadaptierte Zubereitung des Zolgensma®-Präparates in der Klinikapotheke entsprechend der Fachinformation und den Vorgaben des Herstellers, Transport zum Patienten; das Präparat ist nach Zubereitung bei Raumtemperatur 8 h haltbar.

    • Intravenöse Infusion von AVSX-101 über 60 min durch geschulte MitarbeiterInnen und unter Beachtung der biologischen Schutzstufe 1 („biosafety level 1“ [BSL] nach EU-Richtlinie 2000/54/EG und Biostoffverordnung) entsprechend der Fachinformation.

    • Engmaschiges Monitoring der Patienten (Tab. 2).

    • Benutzen von Handschuhen durch Betreuungspersonen beim Windeln (Stuhlgang) bis 30 Tage nach der Infusion (besonders wichtig für Schwangere).

  • Tag 3 und Tag 4 des stationären Aufenthaltes:

    • Es wird eine stationäre Überwachung der Kinder von mindestens 48 h nach Applikation der Gentherapie empfohlen.

    • In dieser Zeit Monitoring von klinischem Status, Temperatur, Herzfrequenz, Atemfrequenz, Blutdruck und EKG- und Pulsoxymetriemonitoring.

    • Bei komplikationslosem Verlauf kann eine Entlassung frühestens 48 h nach Gabe von AVXS-101 erfolgen. Am Entlasstag werden die ambulanten Folgeuntersuchungen geplant und koordiniert.

Tab. 3 Konsensusempfehlungen zur oralen Prednisolontherapie zur individuellen Prophylaxe von AVXS-101-assoziierten immunologischen Off-target-Nebenwirkungen. Dargestellt sind die offiziellen Vorgaben der Fachinformation, ergänzt von den individuellen Anpassungsvorschlägen der Konsensus-Gruppe in verschiedenen Ausgansszenarien

3. Poststationäre Phase (ambulante Nachsorge und Verlaufskontrollen)

In den ersten 12 Monaten nach der Gentherapie wird eine engmaschige Anbindung an das spezialisierte Behandlungszentrum dringend vorausgesetzt. Die Nachsorge erfolgt nach der Darstellung in Tab. 2 wöchentlich in den ersten 4 Wochen, 2‑wöchentlich im 2. und 3. Monat nach der Gentherapie bzw. bis zur Beendigung der Prednisolontherapie. Bei unkompliziertem Verlauf kann die Nachsorge ab Monat 12 nach der Gentherapie auf ambulante Kontrollen alle 4 Monate gestreckt werden. Es wird eine standardisierte Nachsorge über mindestens 5 Jahre nach erfolgter Genersatztherapie mit regelmäßigen und systematischen ambulanten Nachkontrollen empfohlen. Der Algorithmus der vorgeschlagenen Untersuchungen und der standardisierten Befunddokumentation wird in Tab. 2 zusammengefasst. Auch nach Ablauf der 5 Jahre müssen die Patienten im den neuromuskulären Spezialzentren mindestens 2‑mal jährlich gesehen und systematisch nachkontrolliert werden.

Empfehlungen zur Immunsuppression

In der amerikanischen Fachinformation wird eine begleitende orale Prednisolontherapie zur Vermeidung einer überschießenden Immunreaktion in einer Dosierung von 1 mg/kgKG/Tag empfohlen. Diese muss 24 h vor der Gabe von AVXS-101 begonnen und mindestens 30 Tage verabreicht werden. Anschließend empfiehlt der Hersteller eine individuelle Anpassung bzw. ein langsames Ausschleichen des Prednisolons in Abhängigkeit von der Höhe der hepatischen Transaminasen. Die Empfehlungen aus der amerikanischen Fachinformation sind in Tab. 3 zusammengefasst. In der täglichen Praxis waren aber bei den wenigen bisher in Deutschland therapierten Patienten individuelle Anpassungen der Steroiddosis bereits in kurzem Abstand zur Gabe erforderlich. Tab. 3 stellt daher denkbare Ausnahmefälle aus der klinischen Praxis dar mit entsprechenden Empfehlungen zur individuellen Titration und Anpassung der Prednisolondosis. Im Falle einer wiederholten und persistierenden Erhöhung der Troponin-I-Werte wird eine vorgezogene und erweiterte kardiale Diagnostik nach Maßgabe und in Rücksprache mit der lokalen Abteilung für pädiatrische Kardiologie empfohlen. Der Ausschleichprozess des Prednisolons erfordert in Abhängigkeit von der Behandlungsdauer ein individuelles Reduktionsschema der Kortikoide und eine Umstellung auf Hydrokortison nach Maßgabe und in Rücksprache mit den lokalen Abteilungen für pädiatrische Endokrinologie.

Die dargestellten Empfehlungen stellen das Resultat des Konsensusprozesses dar, sie sind nicht in der bisher verfügbaren amerikanischen Fachinformation enthalten. Beim Auftreten nichthepatischer systemischer Nebenwirkungen muss eine Therapie entsprechend der üblichen Standards inklusive einer individuell zu erwägenden Erweiterung der immunsuppressiven Therapie erfolgen (z. B. im Falle einer Myokarditis).

Fazit und geplante Aktualisierung der Konsensusempfehlungen

Die erfolgreiche beschleunigte Zulassung von AVXS-101 in den USA ermöglicht erstmals in der Medizingeschichte eine Genersatztherapie der SMA bei Kindern unter 2 Jahren. Im Bereich neuromuskulärer Erkrankungen stellt AVXS-101 die erste AAV-mediierte Gentherapie dar. Die SMA weist einen gut charakterisierten Defekt in einem kleinen, ubiquitär exprimierten Gen mit besonderer klinischer Relevanz im ZNS auf und eignet sich somit in besonderem Maße für eine minimal-invasiv applizierbare ZNS-gerichtete AAV-Gentherapie. Die vergleichsweise kurzen Studienerfahrungen, die noch nicht bekannte Nachhaltigkeit der Einmalapplikation, die noch nicht vollständig bekannten unerwünschten Nebenwirkungen und schließlich auch die medizinhistorisch höchsten Kosten für das Arzneimittel verlangen nach einem definierten Behandlungskonzept. Die Risiken eines allmählichen Wirkungsverlustes und des Auftretens von Malignomen können auf Basis der aktuellen Datenlage nicht abschließend bewertet werden. Ebenso sind die Vergleiche sowohl bez. der Wirkung als auch der Langzeitkosten gegenüber der aktuell verfügbaren Antisense-Oligonukleotidtherapie mit Nusinersen oder dem oralen Splicing-Modifikator Risdiplam offen. Weitere Studien und eine systematische Nachbeobachtung und Erfassung der behandelten SMA-Patienten im SMArtCARE- oder äquivalenten, industrieunabhängigen Registern müssen das Potenzial und die Risiken der Gentherapie über längere Beobachtungszeiträume evaluieren. Die AAV-Gentherapie ist konzeptionell auf eine einzige intravenöse Anwendung beschränkt. Prinzipiell muss daher auch die Möglichkeit von Kombinationstherapien und einem Therapiewechsel diskutiert werden, um im besten Fall einen zusätzlichen Nutzen zu erzielen. Der Erfolg der neuen Therapien bei der SMA hängt nach den bisherigen Erfahrungen maßgeblich vom Zeitpunkt des Therapiebeginns bzw. Krankheitsstadium ab. Der maximale Therapieerfolg kann nach der aktuellen Datenlage nur in einem präsymptomatischen Stadium der SMA erzielt werden. Die Einführung eines flächendeckenden genetischen Neugeborenenscreenings zur frühzeitigen Erkennung und Behandlung der SMA wird aktuell auf Bundesebene diskutiert. Die Durchführbarkeit einer genetischen Hochdurchsatzuntersuchung als Grundlage einer zukünftigen Aufnahme der SMA in das nationale Neugeborenenscreeningpanel bestätigen erste Ergebnisse eines deutschen Pilotprojektes [14]. Durch die Möglichkeiten der kausalen Therapie der SMA werden „neue“ Phänotypen entstehen, ggf. mit prolongiertem Überleben und neuen Komorbiditäten. Dies erfordert eine besondere Expertise in der interdisziplinären Patientenversorgung und der Transition der SMA-Patienten, die nur von wenigen Kompetenzzentren aufgebracht werden kann. Dieses Papier ist das Ergebnis eines Konsensusprozesses von in der Betreuung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit SMA erfahrenen Neuropädiatern. Es werden die strukturellen und personellen Voraussetzungen definiert, um den Behandlungserfolg zu überwachen, unerwünschte Wirkungen frühzeitig zu erfassen und die Finanzierung nicht nur des Arzneimittels, sondern auch der Folgekosten zu dokumentieren. Das Konsensuspapier stellt eine Empfehlung dar, wie Kinder mit SMA nach Zulassung durch die EMA in Deutschland mit AVXS-101 behandelt und betreut werden sollen. Es ist vorgesehen, das Konsensuspapier ca. 6 Monate nach Markteinführung der Genersatztherapie im Rahmen einer erneuten Sitzung der Vertreter der pädiatrischen neuromuskulären Behandlungszentren innerhalb des medizinisch-wissenschaftlichen Beirates der DGM weiterzuentwickeln und zu aktualisieren. Unabhängig von diesen Empfehlungen sind ab dem Zeitpunkt der Zulassung die Vorgaben der Fachinformation, der EMA und ggf. des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur qualitätsgesicherten Anwendung zu beachten.

Fazit für die Praxis

  • Die neue Genersatztherapie der spinalen Muskelatrophie mit Onasemnogene Abeparvovec hat das Potenzial, den Krankheitsverlauf signifikant positiv und nachhaltig zu beeinflussen.

  • Der Erfolg der Therapie hängt nach den bisherigen Erkenntnissen genauso wie bei der zugelassenen Nusinersentherapie vor allem vom Zeitpunkt der Behandlung und damit vom Krankheitsstadium ab. Eine altersgerechte motorische Entwicklung ist allenfalls bei einer präsymptomatisch begonnen Therapie möglich.

  • Die Anwendung der Genersatztherapie der SMA muss in spezialisierten Behandlungszentren und unter strengen Sicherheitsauflagen erfolgen, definierte Qualitätskriterien sind einzuhalten.

  • Der Erfolg der Behandlung und die Erfassung möglicher Nebenwirkungen müssen systematisch, im Langzeitverlauf und im Vergleich zu anderen Therapien, insbesondere der Nusinersentherapie, in einem nationalen, industrieunabhängigen Register erfasst, dokumentiert und ausgewertet werden. In Deutschland steht mit SMArtCARE eine entsprechende Registerplattform bereits zur Verfügung.

  • Die Genersatztherapie der SMA steht exemplarisch für zahlreiche neue und innovative Gentherapeutika, deren erfolgreiche Anwendung in der klinischen Praxis neue Versorgungsstrukturen und eine adäquate Vergütung der Behandlungszentren erfordert.