Zusammenfassung
Gut bekannt ist, dass Helmut Bauer ab 1963 als Ordinarius die Klinik für Neurologie an der Universität Göttingen leitete und einer der deutschen Pioniere der Multiple-Sklerose-Forschung war. Ferner wirkte er in den Jahren 1971 bis 1972 als Vorsitzender, später Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Zuvor war er bereits zum Ehrenmitglied ernannt worden. Nahezu unbekannt ist jedoch sein Lebensabschnitt, der ins „Dritte Reich“ und die unmittelbare Nachkriegszeit fällt. 1932 aus den USA zum Medizinstudium ins Deutsche Reich zurückgekehrt, nahm er 1940 wieder die deutsche Staatsbürgerschaft an, was als Bekenntnis zum NS-Regime gewertet werden muss. Zunächst in der Auslandsabteilung der Reichsärztekammer tätig, trat er 1941 der SS bei und wirkte als Angehöriger des SS-Sonderkommandos Künsberg in Frankreich, Griechenland und Italien sowie von 1941 bis 1943 im Baltikum und in der Sowjetunion. Als Sachbearbeiter für Medizin gehörte die Beschlagnahmung medizinischer Materialien und Unterlagen, auch von Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und aus jüdischem Privatbesitz, zu seinen Aufgaben. 1943 und 1944 arbeitete er, zuletzt als SS-Hauptsturmführer, an der „Forschungsstelle für Auslandsmedizin“ sowie am Institut für Mikrobiologie auf Schloss Sachsenburg bei Frankenberg/Sachsen, einer gemeinsamen Einrichtung von Wehrmacht, Reichsinnenministerium und Robert-Koch-Institut in Kooperation mit der SS. Neben der Arbeit an einem Pestimpfstoff und der Beteiligung an Kriegspropaganda war die statistische Auswertung „rassischer Prüfungen“ von Umsiedlern eine der Hauptaufgaben der Forschungsstelle. Nach kurzer Internierung gelang es Bauer, das Entnazifizierungsverfahren 1948 als „Entlasteter“ abzuschließen und seine medizinische Karriere erfolgreich fortzusetzen. Demgegenüber ist festzustellen, dass Bauer in seinen diversen Funktionen in die politischen, militärischen und rassenhygienischen Verbrechen der Nationalsozialisten involviert war, und somit zu jener Gruppe von Personen gehörte, die das politische System mittrugen.
Abstract
It is well-known that from 1963 Helmut Bauer was head of the department of neurology at the University of Göttingen and was one of the German pioneers in research into multiple sclerosis. During the years 1971–1972 he acted as president, later honorary president of the German Neurological Society (DGN), of which he also became honorary member in 1982. Almost unknown, however, is his career during the “Third Reich” and immediately after the war. After returning from the USA in 1932, he completed his medical studies in the German Reich. In 1940 he again acquired German citizenship, which has to be interpreted as an acknowledgement of the Nazi regime. He was initially active in the Foreign Department of the Reich Medical Council. In 1941 he joined the SS and served as member of the so-called Künsberg special commandos of the SS in France, Greece, and Italy as well as in the Baltic states and the Soviet Union (1941–1943). As a medical case officer, he was in charge of the confiscation of medical material and documents, even of healthcare institutions and of Jewish property. In 1943 and 1944 he worked as SS Captain (Hauptsturmführer) at the Research Center for Medicine in Foreign Countries and Settlement Biology and the Institute for Microbiology at Sachsenburg Castle near Frankenberg in Saxony, a joint establishment of the Wehrmacht, the Ministry of the Interior and the Robert Koch Institute in cooperation with the SS. In addition to the search for a vaccine against Yersinia pestis and the participation in war propaganda, Bauer’s research unit was mainly concerned with the statistical evaluation of “racial examinations” of resettlers. After a short time as a prisoner of war (POW), Bauer had to undergo a denazification trial where he succeeded in being exonerated enabling him to pursue his medical career. Recent historical investigations have revealed that he was involved in military and racial hygiene (eugenics) crimes of the Nazis and therefore belonged to the group of persons who were active supporters of the political system.
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Wir danken unserem Kollegen Jens Westemeier für zahlreiche Hinweise und die Unterstützung bei der Archivrecherche.
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Schmidt, M., Martin, M. & Groß, D. SS-Hauptsturmführer Helmut J. Bauer (1914–2008). Nervenarzt 91 (Suppl 1), 71–79 (2020). https://doi.org/10.1007/s00115-019-00845-4
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-019-00845-4
Schlüsselwörter
- Geschichte der Neurologie
- Geschichte der Multiplen Sklerose
- Medizin im Nationalsozialismus
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie
- Entnazifizierung