Zusammenfassung
Mit Luhmann wird das Gewissen als wertneutrale Funktion zur Identitätsbildung verstanden. Es ist biologisch grundiert, erhält aber seine Inhalte aus dem normativen Kontext von Familie und Gesellschaft. Evolutionsbiologisch könnte ein gruppengemäßes Verhalten einen Überlebensvorteil bieten, das durch emotionale Gruppenbindung nachhaltig stabilisiert wird. Diese Bindung macht das Individuum abhängig vom soziokulturellen Kontext, also auch von dessen normativen Gehalt und vom Wandel desselben.
Deutlich wird dieser soziokulturelle Einfluss in individuell wie auch zeithistorisch unterschiedlicher Beurteilung eines bestimmten moralischen Problems in multikulturellen Gesellschaften und im Wandel des Zeitgeistes. Solche Einflüsse werden mit zahlreichen Beispielen illustriert. Sie führen zu der Frage, ob überhaupt und anhand welcher Kriterien Wandlungen des Gewissens von Betroffenen selbst erkennbar sind? Ziel der Ausführungen ist die Sensibilisierung für Fragen der Bildung und Veränderbarkeit des Gewissens.
Summary
According to Luhmann conscience is understood as a value-neutral function for forming identity. Its background is biological in nature but receives its values from the normative context of family and society. In an evolutionary perspective group congruent behavior could offer a survival advantage that will be stabilized by an emotional bonding to a group. This bonding makes the individual dependent on the sociocultural context, including its normative content and its change.
This influence becomes clear in different individual as well as time-dependent judgments of a specific moral problem in multicultural societies and with changes of the zeitgeist. Such influences are illustrated by numerous examples and lead to the question whether at all and by which criteria changes of conscience will be recognized by the person concerned. This article aims at a sensitization for questions of formation and vulnerability of the conscience.
Notes
Fortführung der „Endlösung“ gegen Himmlers Befehl 1944 zur Einstellung derselben (um Verhandlungen mit den Westalliierten zu erreichen).
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Interessenkonflikt. H. Helmchen gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
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Für Hanns Hippius zum 18. April 2015 in dankbarer Erinnerung an Jahrzehnte konstruktiver Zusammenarbeit.
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Helmchen, H. Ärztliches Gewissen und Zeitgeist. Nervenarzt 86, 340–345 (2015). https://doi.org/10.1007/s00115-014-4166-8
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