Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine autoimmun-vermittelte, in den meisten Fällen monophasisch verlaufende Polyradikuloneuritis [42, 100]. Die Inzidenz des GBS ist in den verschiedenen geographischen Regionen weltweit ähnlich und liegt bei 1,1 bis 1,8 Fällen pro 100.000 Einwohner pro Jahr [21, 29, 44, 59, 67, 80, 84]. Mit steigendem Lebensalter (> 50 Jahre) kommt es zu einem leichten Anstieg der Inzidenz [67]. Nach der fast vollständigen Eradikation des Poliovirus ist das GBS somit eine der häufigsten akuten paralytischen neuromuskulären Erkrankungen.

Anhand elektrophysiologischer und pathologischer Kriterien lassen sich mehrere Subtypen des GBS differenzieren. Die in Europa und Nordamerika häufigste Form (90–95%) ist die akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP), die elektrophysiologisch durch multifokale Demyelinisierung gekennzeichnet ist [42]. Die axonalen Formen des GBS (akute motorische axonale Neuropathie (AMAN) und akute motorisch-sensorische axonale Neuropathie (AMSAN)) sind in unseren Breiten sehr selten, haben aber in China, Japan und Südamerika einen Anteil von bis zu 30–40% aller GBS-Fälle [39, 78, 112]. Diese axonalen Varianten des GBS sind pathologisch gut abgrenzbar und durch eine primär antikörpervermittelte Axonschädigung gekennzeichnet. Neben den genannten Subtypen existieren seltenere atypische Formen wie das Miller-Fisher-Syndrom und Varianten, die durch eine überwiegende Beteiligung von Hirnnerven gekennzeichnet sind [35, 75, 76, 107].

Eine internationale Arbeitsgruppe, die Brighton Collaboration GBS Working Group, hat seit 2005 einfache klinischen Kriterien („Brighton-Kriterien“) für ein GBS (Tab. 1) bzw. ein Miller-Fisher-Syndrom (Tab. 2) entwickelt, anhand derer insbesondere GBS-Verdachtsfälle nach Impfungen und anderen Arzneimitteln standardisiert erfasst und hinsichtlich der diagnostischen Sicherheit beurteilt werden können [85].

Tab. 1 Falldefinition eines Guillain-Barré-Syndroms nach der Brighton Collaboration GBS Working Group [85]
Tab. 2 Falldefinition eines Miller-Fisher-Syndroms nach der Brighton Collaboration GBS Working Group [85]

In etwa 60% der Fälle geht dem GBS eine Infektion des Gastrointestinaltraktes oder der Atemwege voraus. Der am häufigsten nachgewiesene Erreger bei GBS-Patienten ist das gramnegative Bakterium Campylobacter jejuni, gefolgt von Zytomegalovirus (CMV), Epstein-Barr-Virus (EBV) und Mycoplasma pneumoniae [39, 46, 79].

Pathogenese des GBS

In den letzten Jahren wurden bedeutende Fortschritte bei der Aufklärung der Pathomechanismen des GBS erzielt [42, 50, 68, 100, 107, 111]. Das GBS wird als Autoimmunerkrankung aufgefasst – einerseits aufgrund der pathologischen Charakteristika [7, 30, 31, 34, 58] und andererseits aufgrund der Beobachtung, dass eine ähnliche Erkrankung, die experimentelle Autoimmunneuritis (EAN), bei Labortieren durch direkte Immunisierung mit Nervengewebe oder den passiven Transfer spezifischer T-Zellen gegen Myelinproteine induziert werden kann [37, 43, 68]. Zudem werden bei Patienten mit axonalen GBS-Varianten und Miller-Fisher-Syndrom häufig Autoantikörper gegen Ganglioside und verwandte Glykolipide (unter anderem GM1, GD1a, GD1b, GQ1b) gefunden [40, 62, 108, 117, 118, 119]. Es wird angenommen, dass Anti-Gangliosid-Antikörper durch den Mechanismus der molekularen Mimikry entstehen. Hierbei werden Antikörper gegen Epitope, die auf der Zellmembran von Mikroorganismen vorkommen, generiert, die mit molekularen Strukturen, die im Nervengewebe vorhanden sind, kreuzreagieren. Diese Hypothese wird durch Befunde gestützt, dass C.-jejuni -Stämme, die von Patienten mit axonalem GBS und Miller-Fisher-Syndrom isoliert wurden, Oligosaccharidstrukturen auf ihrer Zellmembran exprimieren, die strukturhomolog zu den Gangliosiden GQ1b und GM1 sind [9, 10, 113, 115]. In verschiedenen In-vivo- und In-vitro-Modellen konnte demonstriert werden, dass Anti-Gangliosid-Antikörper eine Schädigung an Axonen und Schwann-Zellen hervorrufen können [5, 6, 16, 17, 28, 35, 36, 60, 89, 96, 114, 116].

Influenza: Virologie und Impfung

Influenzaviren sind RNA-Viren aus der Familie der Orthomyxoviridae. Drei Typen des Influenzavirus sind bekannt (Influenza A, B und C), wobei nur die Typen A und B saisonal auftretende Epidemien verursachen [73]. Influenza-A-Viren werden auf der Basis von Unterschieden der immunogenen Epitope auf den Glykoproteinen der Virushülle (Hämagglutinin und Neuraminidase) weiter in verschiedene Serotypen unterteilt. Bislang wurden 15 Hämagglutininserotypen (H1–H15) und 9 Neuraminidaseserotypen (N1–N9) beschrieben. Influenzasubtypen, die stabile Linien beim Menschen etablieren, tragen ausschließlich Hämagglutinine vom Subtyp H1 bis H3 und Neuraminidasen vom Subtyp N1 oder N2 [73].

Das Influenzavirus nutzt Kohlenhydratanteile von Glykokonjugaten der Zellmembran, um in die Wirtszelle einzudringen. Zu den viralen Rezeptoren zählen Glykane mit unterschiedlichen Kohlenhydratsequenzen. Interessanterweise binden die Influenza-A-Hämagglutinine bevorzugt an neuraminsäurehaltige Kohlehydratstrukturen, u. a. an Ganglioside [38]. Um neu entstandene Virionen von der Zelloberfläche freizusetzen, spaltet das Enzym Neuraminidase den Kohlenhydratanteil vom Membranglykoprotein ab. Antivirale Medikamente wie Zanamivir und Oseltamivir sind Neuraminsäureanaloge, die die Aktivität der viralen Neuraminidase hemmen [70].

Die meisten Influenzaimpfstoffe in der Europäischen Union werden aus Viren hergestellt, die in Hühnereiern kultiviert und mit Formaldehyd inaktiviert wurden. Daneben gibt es auch Zulassungen für auf Verozellen oder MDCK (Madin Darby Canine Kidney) -Zellen kultivierte inaktivierte Impfstoffe. Die verschiedenen Vakzine enthalten Ganzvirus, Spaltvirus oder Oberflächenantigen von Virusstämmen, die von der WHO in jährlich erneuerten Empfehlungen genannt werden [73].

GBS nach Infektion mit Influenza

Im Vorfeld eines GBS werden häufiger Infektionen der oberen Atemwege beobachtet. Allerdings bleibt der Infektionserreger in der Mehrzahl der Fälle unbekannt. Über GBS-Fälle mit vorangegangener Influenzainfektion wurde in der Vergangenheit nur vereinzelt berichtet [103] und die Influenza zählt bislang nicht zu den häufigeren Auslösern eines GBS. Diese Auffassung wird allerdings durch eine Reihe aktueller Studien zunehmend infrage gestellt, die eine Assoziation zwischen Influenza bzw. influenzaähnlichen Erkrankungen und GBS näher untersuchten ([32, 92, 93, 94, 97, 98], Tab. 3). Diese Daten weisen darauf hin, dass Influenzaviren möglicherweise eine bislang unterschätzte Rolle als Auslöser von GBS-Fällen spielen. Infektionen mit Influenzastämmen sowohl des Subtyps A als auch B können sporadisch einem GBS vorausgehen [92, 103].

In einer monozentrischen Studie aus dem Großraum Paris verglichen Sivadon-Tardy und Kollegen klinische und serologische Hinweise für eine Influenzainfektion bei 405 GBS-Patienten mit Daten aus zwei landesweiten Überwachungsnetzwerken zur saisonalen Häufung von grippeähnlichen Erkrankungen in derselben Region [92]. Die Analyse ergab eine positive Korrelation der monatlichen Inzidenz von GBS-Fällen unbekannter Ursache mit der Anzahl der dokumentierten grippeähnlichen Erkrankungen. 14 von 73 getesteten GBS-Patienten wiesen Antikörper gegen Influenza A oder B (13,7% bzw. 5,5%) auf. Allerdings wurden im Untersuchungszeitraum insgesamt 405 GBS-Fälle beobachtet, während eine Influenzaserologie jedoch nur bei GBS-Fällen durchgeführt wurde, die während der Grippemonate auftraten und keine andere infektiöse Ursache aufwiesen. Darüber hinaus ist die Influenzaserologie diagnostisch weniger sensitiv und spezifisch als andere Methoden wie Viruskultur und Polymerasekettenreaktion (PCR) [120]. Insgesamt kann aus diesen Befunden lediglich abgeleitet werden, dass GBS sporadisch in Folge einer saisonalen Influenza auftreten kann.

Tab. 3 Guillain-Barré-Syndrom nach grippeähnlicher Infektion oder nachgewiesener Influenzaa

Dieselbe Arbeitsgruppe berichtete bereits zuvor über das gleiche Patientenkollektiv (Zeitraum 1996–2001) und fand, dass GBS-Fälle ohne serologischen Anhalt für eine stattgehabte Infektion mit C. jejuni, M. pneumoniae, CMV oder EBV vor allem in den Wintermonaten auftreten und der Neuropathie häufig influenzaähnliche Symptome vorausgehen [93].

Britische Autoren untersuchten den zeitlichen Zusammenhang zwischen GBS, Influenzaimpfung und grippeähnlichen Erkrankungen zwischen 1990 und 2005 auf der Basis einer landesweiten Datenbank zur medizinischen Primärversorgung (General Practice Research Database, GPRD) mithilfe der Methode der selbstkontrollierten Fallserie („self controlled case series“) [94]. Hierbei wird die Frequenz eines bestimmten unerwünschten Ereignisses (hier: GBS) in einer definierten Risikoperiode nach einer Exposition mit der Häufigkeit in anderen Zeiträumen verglichen, sodass die Patienten sowohl Fälle als auch Kontrollen sind, je nach zeitlichem Abstand des GBS von der Impfung. Dabei zeigte sich, dass die GBS-Inzidenz 30 bzw. 90 Tage nach einer ärztlichen Konsultation wegen einer grippeähnlichen Erkrankung signifikant höher war als in den Vergleichszeiträumen. Demgegenüber war ein Arztbesuch zur Durchführung einer Influenzaimpfung nicht von einem erhöhten Auftreten eines GBS in den gleichen Beobachtungszeiträumen gefolgt (s. unten). Diese Analyse basiert jedoch lediglich auf insgesamt 19 GBS-Fällen innerhalb von 15 Jahren. Darüber hinaus wurden die aus der Datenbank extrahierten GBS-Fälle nur teilweise nochmals klinisch validiert.

Tam und Kollegen untersuchten die GBS-Inzidenz im Gefolge von Infektionen für den Zeitraum 1990 bis 2001 auf Basis derselben Datenbank aus Großbritannien und fanden ein erhöhtes GBS-Risiko innerhalb von 2 Monaten nach grippeähnlichen Erkrankungen und akuten Atemwegsinfektionen, nicht jedoch nach Immunisierung mit Influenzaimpfstoffen [97]. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass bei dieser Fall-Kontroll („nested case-control“)-Studie die Anzahl der influenzageimpften Personen in der GBS- und in der Referenzgruppe insgesamt gering war. Darüber hinaus wird in dieser Studie nicht mitgeteilt, nach welchen Kriterien die Diagnose GBS in der Datenbank erfolgte. So wurden beispielsweise auch 16 GBS-Fälle nach einer Polio-Impfung berichtet, wobei unklar bleibt, ob in diesen Fällen differenzialdiagnostisch eine Impfpoliomyelitis ausgeschlossen wurde. Dieselbe Arbeitsgruppe teilte in einer früheren Beobachtung auch eine positive Assoziation zwischen der wöchentlichen Rate von Influenzafällen und der wöchentlichen Anzahl von Krankenhausaufnahmen wegen GBS im Zeitraum von 1993 bis 2002 in England mit [98].

Auch im Rahmen des pandemischen Influenzavirus A/H1N1/2009 wurde in der Literatur über GBS-Fälle nach Infektion mit A/H1N1/2009 berichtet [20, 53]. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Frankreich, in der GBS-Fälle in 25 neurologischen Zentren landesweit prospektiv über drei Influenzasaisons (inklusive A/H1N1/2009) erhoben wurden, fand ein statistisch erhöhtes Risiko, in einem Zeitraum von 6 Wochen nach einer influenzaähnlichen Erkrankung an einem GBS zu erkranken. Dieser statistische Zusammenhang wurde auch für den Zeitraum der H1N1-Pandemie nachgewiesen. Im Gegensatz dazu zeigte sich kein erhöhtes Risiko nach einer H1N1-Impfung [32]. Da nur ein GBS-Fall nach einer H1N1-Impfung erfasst wurde, ist das 95%-Konfidenzintervall (0,11–7,28) entsprechend weit.

Klinisches Bild und Pathogenese des GBS nach Influenzainfektion

Die wenigen verfügbaren klinischen Berichte über GBS-Fälle nach bestätigter Influenzainfektion legen nahe, dass sich das klinische Erscheinungsbild des GBS nach Influenza nicht vom GBS im Gefolge anderer viraler Infektionen unterscheidet [12, 71, 74, 103], mit der Ausnahme einer Hirnnervenbeteiligung, die einer Fallserie zufolge bei influenzaassoziiertem GBS häufiger zu sein scheint [103]. Der langfristige Verlauf ist nach aktueller Datenlage bei den meisten Patienten günstig [92]. Das Intervall zwischen der Influenzainfektion und dem Auftreten des GBS variiert zwischen 3 und 30 Tagen, der Mittelwert liegt bei etwa 15 Tagen [92, 103]. Diese Zeiträume findet man auch bei anderen Infektionen, die einem GBS vorangehen können.

Eine wesentliche Limitation epidemiologischer Studien, die einen Zusammenhang zwischen einer Influenzainfektion und dem Auftreten eines GBS untersuchen, ist der insgesamt geringe Anteil mikrobiologisch bestätigter Fälle unter den verzeichneten Influenzaverdachtsfällen. Erreger von Atemwegsinfektionen wie beispielsweise das „respiratory syncytial virus“ (RSV) können ähnliche Symptome mit vergleichbaren saisonalen Häufungen wie die Influenza verursachen, weswegen in den meisten Arbeiten der Begriff influenzaähnliche Erkrankungen gewählt wird [27].

Die derzeit favorisierte Hypothese zur Pathogenese des postinfektiösen GBS ist die molekulare Mimikry, nachdem bei Erregern Epitope gefunden wurden, die Strukturen peripherer Nerven ähnlich sind [10, 24, 113]. Für das GBS nach Infektion mit Influenza gibt es hingegen noch kaum Daten, die auf eine molekulare Mimikry hinweisen.

GBS und Influenzaimpfung

Die WHO hat zu der Frage, ob generell eine Autoimmunerkrankung durch eine Impfung verursacht werden kann, verschiedene Kriterien aufgestellt, die in die Beurteilung einfließen (Tab. 4, [4, 110]). Ob ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Auftreten eines GBS und einer vorangegangenen Impfung mit Influenza besteht, setzt zumindest die Erfüllung dreier grundlegender und allgemein akzeptierter Kriterien voraus [86, 95]. Einerseits sollte durch methodisch einwandfreie Studien eine ausreichende epidemiologische Evidenz dafür vorliegen, dass die Häufigkeit des GBS nach einer Influenzaimpfung in dem untersuchten Bevölkerungskollektiv zunimmt. Das GBS sollte innerhalb eines kritischen Zeitraums auf die Impfung folgen. Darüber hinaus werden mechanistische Daten gefordert, die plausibel die Auslösung eines GBS durch eine Impfung mit Influenzaimpfstoffen erklären könnten. Im Folgenden wird anhand dieser Prinzipien eine Übersicht über die bestehen Datenlage gegeben.

Tab. 4 Kriterien für die Beurteilung einer Assoziation von Autoimmunerkrankungen als Folge von Impfungen. (Nach [4, 110])

GBS und Impfung gegen H1N1 A/NJ/1976 in den USA 1976

Im Jahr 1976 initiierten die Gesundheitsbehörden der USA eine Massenimpfkampagne gegen den H1N1-Influenzastamm A/NJ/76, um eine befürchtete „Schweinegrippe“-Epidemie nach einem lokalen Ausbruch mit diesem Virusstamm bei US-Armee-Rekruten in Fort Dix (New Jersey) zu verhindern [25, 87]. Der Planung nach sollten sämtliche erwachsenen Einwohner der USA geimpft werden. Die Kampagne wurde jedoch vorzeitig abgebrochen, nachdem eine Häufung von GBS-Fällen bei geimpften Personen bekannt wurde [25, 33, 83]. Zwischen dem 01.10. und dem 16.12.1976 wurden 40 Mio. Dosen der Vakzine ausgeliefert. Im gleichen Zeitraum wurden den Centers of Disease Control and Prevention (CDC) insgesamt 532 Fälle von GBS bei geimpften Personen berichtet [83]. Eine Analyse der landesweiten Überwachungsdaten bestätigte, dass bei geimpften Personen die Häufigkeit eines GBS 6 Wochen nach Immunisierung mit durchschnittlich 7,2 Fällen pro 1 Mio. Personen pro Monat (7,4 bei Erwachsenen) signifikant höher war im Vergleich zu nicht geimpften Personen (0,79 Fälle pro 1 Mio. Personen pro Monat; 0,97 bei Erwachsenen) [83]. Diese Ergebnisse wurden auch in zwei epidemiologischen Studien bestätigt, die Überwachungsdaten aus den US-Bundesstaaten Ohio und Michigan/Minnesota auswerteten [64, 82]. Das zusätzliche Risiko eines GBS nach Impfung war nicht erhöht bei Personen < 18 Jahre. Auch bei Angehörigen des US-Militärs wurde kein erhöhtes Risiko gefunden, allerdings war die Zahl der Impfungen in dieser Personengruppe insgesamt gering.

GBS und Impfung gegen die saisonale Influenza

Nach 1976 wurde in verschiedenen Ländern Studien durchgeführt (Tab. 5), um den Zusammenhang zwischen GBS und Impfungen gegen die saisonale Influenza zu analysieren. Trotz erheblicher Unterschiede in den ausgewerteten Zeiträumen war mit Ausnahme von zwei Studien kein signifikant erhöhtes Risiko eines GBS nach Influenzaimpfung nachweisbar. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass einige der Studien überlappende Patientenkollektive untersuchten. Auch in Überwachungsprogrammen, die in den USA für mindestens 3 Jahre nach 1976 jeweils in der Influenzasaison durchgeführt wurden, fand sich kein erhöhtes GBS-Risiko nach Impfung mit saisonalen Influenzavakzinen [45, 48]. In einer Studie aus Großbritannien untersuchten Stowe und Kollegen das Risiko eines GBS nach Influenzaimpfung für den Zeitraum 1990 bis 2005 [94]. In dieser Studie fand sich kein erhöhtes Risiko für ein GBS im Zeitraum von 90 Tagen nach Immunisierung mit einem Influenzaimpfstoff. Berücksichtigt man die Zeitspanne der retrospektiven Erfassung, die Anwendung verschiedener Impfstoffe und Serotypen in den einzelnen Jahren und die geringe Fallzahl (n = 12), so sind die Studienergebnisse im Hinblick auf das mögliche Risiko eines GBS nach Impfung mit Vorsicht zu interpretieren.

Tab. 5 Ergebnisse aus Studien und der passiven Surveillance zum Risiko des Auftretens eines Guillain-Barré-Syndroms nach Influenzaimpfunga

Eine weitere Studie auf der Basis von Daten aus der allgemeinärztlichen Versorgung in Großbritannien fand ebenfalls keine Erhöhung des GBS-Risikos (relatives Risiko 1,03; 95%-CI 0,48–2,18) in einem Zeitraum von 42 Tagen nach Impfungen, wobei die saisonale Influenzaimpfung eingeschlossen war [41].

Eine Untersuchung von GBS-Fällen nach Influenzaimpfung in den USA für die Saisons 1992–1993 und 1993–1994 ergab für keine der beiden einzelnen Perioden eine signifikante Risikoerhöhung und lediglich eine geringfügige Erhöhung von einem zusätzlichen GBS-Fall pro 1 Mio. verimpften Dosen bei kombinierter Auswertung beider Zeiträume [54].

Autoren einer Studie aus Ontario in Kanada fanden eine geringfügige Erhöhung der GBS-Inzidenz in einem definierten Zeitraum (Woche 2 bis 7) nach einer Influenzaimpfung. Jedoch führte dies nicht zu einer Zunahme der Hospitalisierungen wegen GBS in dieser Provinz nach Einführung der allgemeinen Influenzaimmunisierung im Jahr 2000 [47].

In einer Analyse des VAERS (Vaccine Adverse Event Reporting System) der Influenzasaisonen 1990 bis 2003 [33] ging die Häufigkeit spontan gemeldeter GBS-Fälle bei Erwachsenen in den USA von 0,17 pro 100.000 geimpften Personen in der Saison 1993 bis 1994 auf 0,04 im Winter 2002 bis 2003 zurück, während die Häufigkeiten anderer im Gefolge der Impfungen gemeldeten unerwünschten Ereignisse unverändert blieben. Eine Folgestudie, die VAERS-Daten aus den Jahren 1990 bis 2005 einbezog, bestätigte diese Beobachtung [101].

Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass die Interpretation von Daten aus passiven Überwachungsprogrammen, wie dem VAERS, verschiedenen Limitationen unterworfen sind. Hierzu gehört, dass nicht alle Fälle, die in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung stehen, gemeldet werden. Die gemeldeten Fälle sind häufig unvollständig und unzureichend hinsichtlich einer Beurteilung eines kausalen Zusammenhangs. Zudem unterliegen passive Überwachungsdaten auch externen Einflüssen durch Änderungen in der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit und den Medien [25].

Grundsätzlich stellt sich die Frage, in welchem Zeitraum nach einer Impfung ein kausaler Zusammenhang eines GBS mit der Impfung plausibel erscheint. In den meisten Studien wurde als obere Grenze ein Zeitraum von 6 Wochen nach Impfung angegeben. Dieser Zeitraum basiert im Wesentlichen aus der Erfahrung der H1N1-A/NJ/1976-Impfkampagne in den USA, bei der in dieser Periode ein signifikant erhöhtes GBS-Risiko nach Influenzaimpfung dokumentiert wurde. Der zeitliche Verlauf des postinfektiösen GBS, das meist etwa 2 Wochen nach einer Infektion einsetzt, legt nahe, dass das GBS die Folge einer primären Immunantwort auf den Erreger ist [66]. Von daher erscheint ein kausaler Zusammenhang unwahrscheinlich, wenn Symptome eines GBS schon wenige Tage nach einer Impfung auftreten. Es besteht jedoch kein Konsens darüber, wo die Untergrenze eines plausiblen Zeitintervalls liegt. Zudem ist wenig über die zugrunde liegende Pathogenese des GBS nach Impfungen bekannt, sodass auch früh auftretende und qualitativ abweichende sekundäre Immunreaktionen zur Entstehung eines GBS nach Impfung beitragen könnten.

Das GBS ist im Allgemeinen eine monophasische Erkrankung. Dennoch entwickeln ca. 5% der GBS-Patienten eine zweite Episode oder ein Rezidiv [51, 52]. GBS-Rezidive im Zusammenhang mit Influenzaimpfungen wurden bei 2 Patienten beobachtet, die zuvor an GBS erkrankt waren und dann mit dem A/NJ/1976-Impfstoff immunisiert wurden [88]. Aktuelle Untersuchungen zu GBS-Rezidiven nach Impfungen (einschließlich der Vakzinen gegen die saisonale Influenza) haben kein erhöhtes Risiko aufgezeigt [51, 77]. Wijdicks und Kollegen beschreiben einen GBS-Patienten, der über 15 Jahre jährlich Impfungen gegen saisonale Influenza erhielt und kein GBS-Rezidiv entwickelte [105].

Im Gegensatz hierzu gibt es jedoch auch mehrere Fallberichte, die auf einen zeitlichen Zusammenhang mit einer Influenzaimpfung hinweisen [13, 69, 91]. Bemerkenswerterweise werden bei GBS-Fällen, die in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Influenzaimpfung auftreten, vorangegangene Infektionen weniger häufig dokumentiert als bei GBS-Fällen ohne zeitlichen Zusammenhang mit einer Influenzaimpfung. Dieser Umstand wurde erstmals bei GBS-Fällen im Zusammenhang mit dem Influenzaimpfprogramm in den USA 1976 auffällig (32,8% bei geimpften GBS-Patienten hatten zuvor Infektionen vs. 61,8% der ungeimpften GBS-Patienten) [83] und bestätigte sich in der VAERS-Analyse von Haber, der spätere Impfperioden daraufhin untersuchte [33].

GBS und saisonale Influenza Impfung: Situation in Deutschland

In Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission grundsätzlich für alle Personen über 60 Jahre eine jährliche Impfung im Herbst mit einem der zugelassenen Impfstoffe mit einer aktuellen, von der WHO empfohlenen Antigenkombination. Dazu kommen Indikationen wie Schwangerschaft (ab dem 2. Trimenon, bei erhöhter gesundheitlicher Gefährdung infolge eines Grundleidens auch ab dem 1. Trimenon) sowie chronische Erkrankungen (u. a. Multiple Sklerose) bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit generell erhöhter gesundheitlicher Gefährdung. Auch bei medizinischem Personal und Personen, die in Einrichtungen mit umfangreichem Publikumsverkehr arbeiten und als mögliche Infektionsquelle für ungeimpfte Risikopersonen fungieren können, wird eine Impfung empfohlen [104]. In Deutschland sind hierfür verschiedene Impfstoffe zugelassen (Tab. 6, einschließlich zugelassener Pandemieimpfstoffe). Die Antigenkombination wird jedes Jahr an die aktuelle epidemiologische Situation und an die Vorgaben der WHO angepasst. Diese Anpassung wird in einem Verfahren zur Änderung der Zulassung geprüft und wenn eine Genehmigung der Stammzusammensetzung vorliegt, erfolgt eine chargenweise Freigabe der Influenzaimpfstoffe. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die so in den Handel gelangten Impfstoffe auch verimpft werden. Studien, die anhand von Telefoninterviews die Impfraten gegen saisonale Influenza in Deutschland in den letzten Jahren untersuchten, kamen zu dem Ergebnis, dass zwischen 55% und 58% aller über 60-Jährigen und generell etwa 30% der Bevölkerung gegen saisonale Influenza geimpft wird [14, 18].

Tab. 6 In Deutschland zugelassene Influenzaimpfstoffe (Stand 01.12.2011)a

GBS-Fälle, die in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Influenzaimpfung auftreten, werden in Deutschland dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gemeldet. Das PEI erfasst gemäß Infektionsschutzgesetz und Arzneimittelgesetz alle ihm gemeldeten Verdachtsfälle von Impfkomplikationen bzw. Nebenwirkungen in einer zentralen Datenbank. Neben der qualitativen Analyse jedes einzelnen Falles werden im PEI quantitative Methoden eingesetzt, um sog. Signale zu erkennen. Ein Signal ist definiert als eine unerwünschte Reaktion (UAW), bei der der Verdacht vorliegt, dass ein kausaler Zusammenhang zu einem oder mehreren Arzneimitteln besteht. Dabei werden statistische Verfahren angewandt, um mögliche Signale aus der Masse der Meldungen herauszufiltern. Das PEI wendet dazu eine Methode der Disproportionalitätsanalyse, die sog. Proportional Reporting Ratio (PRR) an. Grundlage dieser Methode ist die Überlegung, dass eine von einem bestimmten Wirkstoff spezifisch verursachte Nebenwirkung (UAW) in Kombination mit diesem Wirkstoff häufiger auftritt als in Kombination mit anderen Wirkstoffen. Werte der PRR von 1 stellen kein Signal dar, da die Kombination von interessierendem Ereignis und untersuchtem Arzneimittel genauso häufig vorkommt, wie bei der Kombination des interessierenden Ereignisses mit allen anderen Arzneimitteln. Von einem Signal kann dann ausgegangen werden, wenn die PRR einen vorher definierten Schwellenwert überschreitet. Hierbei führt ein zu niedriger Schwellenwert zu vielen falsch-positiven Signalen, während ein zu hoher Schwellenwert wahre positive Signale übersieht.

Der am häufigsten verwendete Schwellenwert für PRR ist 2. Nach Evans et al. [26] besteht ein Hinweis auf ein Signal, wenn ein PRR-Wert von mindestens 2 und ein χ2-Wert von mindestens 4 vorliegen und dabei 3 oder mehr Meldungen für das zu untersuchende Ereignis in der Datenbasis vorhanden sind. Die Zahl der altersstratifizierten GBS-Meldungen (n = 139) nach allen Grippeimpfstoffen (einschließlich der A/H1N1-Impfung 2009/2010) seit dem 01.01.2001 bis zum 30.09.2011 ergibt dabei im Vergleich zu GBS-Meldungen nach allen anderen Impfstoffen kein Signal, da das PRR bei 1,7 (95%-CI 1,4–2,0, χ2 > 4) liegt (Tab. 7). Ebenfalls kein Signal ergibt sich, wenn man eine Berechnung auf Ereignis- und nicht Fallebene durchführt und nicht nur mit allen anderen Impfstoffen, sondern mit allen anderen Arzneimitteln im Zuständigkeitsbereich des PEI vergleicht. Berücksichtigt man die Zahl der pro Saison in den Verkehr gebrachten Influenzaimpfstoffe (zwischen 20–30 Mio. Dosen pro Saison), so ist die Zahl der Meldungen eines GBS bei Erwachsenen im Zeitraum von 01.01.2001 bis 30.07.2011 (Tab. 7) vergleichsweise gering und weist nicht auf ein Risikosignal hin.

Tab. 7 Altersstratifiziertes PRRa für GBS nach Grippeschutzimpfung 01.01.2001 bis 30.09.2011 im Vergleich zu den Meldungen eines GBS nach allen anderen Impfstoffen im selben Zeitraumb

GBS und A/H1N1/2009-Impfung

Im Jahr 2009 kam es ausgehend von den USA und Mexiko zu einer weltweiten Ausbreitung der Influenzavirusvariante Influenza A/H1N1/2009. Da von einer erhöhten Pathogenität dieses auch als „Schweinegrippe“ bezeichneten Influenzavirus ausgegangen werden musste, wurden nach Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO nationale Impfprogramme unter anderem auch in Deutschland initiiert. Infolgedessen wurden auch Verdachtsfälle von GBS nach Impfung gegen die Influenza A/H1N1/2009 in den USA und Frankreich bekannt, die eine hohe Resonanz in den Medien erhielten [2, 55]. Auch in der medizinischen Literatur sind seitdem mehrere Fälle eines GBS bzw. eines Miller-Fisher-Syndroms publiziert worden, die einen zeitlichen Zusammenhang mit der A/H1N1/2009-Impfung implizieren [63, 90, 99]. Die bisher veröffentlichten Zwischenergebnisse aus Studien in den USA nach Impfung mit nichtadjuvantierten Impfstoffen weisen auf eine geringfügige Erhöhung der GBS-Inzidenz im Zusammenhang mit der Impfung gegen die Influenza H1N1/2009 hin, die größenordnungsmäßig mit einzelnen Beobachtungen bei der saisonalen Influenzaimpfung vergleichbar ist [19, 54].

Dem stehen eine Reihe von epidemiologischen Studien entgegen, die bisher kein erhöhtes Risiko eines GBS nach verschiedenen monovalenten Impfstoffen gegen A//H1N1 2009/2010 nachweisen konnten. In einer retrospektiven Studie aus Schweden wurde eine Datenbankanalyse von Personen durchgeführt, die im Großraum Stockholm mit dem adjuvantierten Impfstoff Pandemrix® gegen A/H1N1/2009 geimpft wurden. Hierbei konnte kein erhöhtes Risiko für ein GBS nach Impfung gegen A/H1N1/2009 nachgewiesen werden [11]. Allerdings umfasste die geimpfte Population in dieser Studie nur etwa 1 Mio. geimpfter Personen, sodass ein gering erhöhtes Risiko nicht zuverlässig detektiert wird. Eine Studie („self controlled case series“) an GBS-Patienten aus Großbritannien fand kein erhöhtes Risiko für ein GBS in einem Zeitraum von 6 Wochen nach pandemischer Impfung [3]. In Großbritannien wurde überwiegend Pandemrix® geimpft. In dieser Studie gab es jedoch keine spezifische Falldefinition für GBS. Die Autoren weisen darauf hin, dass die GBS-Fälle wohl am ehesten dem Level 4 der Definition der Brighton Collaboration entsprechen, d. h. dass die Informationen zu den einzelnen Fällen nicht ausreichen, um sie einem höheren Grad der diagnostischen Sicherheit zuzuordnen.

Prospektiv erhobene Daten aus 25 neurologischen Zentren in Frankreich ergaben ebenfalls keinen Hinweis für ein erhöhtes Risiko eines GBS nach Influenzaimpfung [32]. In einer weiteren Fall-Kontroll-Studie aus 5 europäischen Ländern – Dänemark, Frankreich, Niederlande, Schweden und Großbritannien – ergab sich ebenfalls kein erhöhtes Risiko für ein GBS nach A/H1N1/2009-Impfung [22]. Es sollte erwähnt werden, dass die Datenquellen dieser Studie aus den einzelnen Ländern heterogen, nicht alle Fälle zweifelsfrei entsprechend der gewählten Falldefinition zuzuordnen waren und eine Adjustierung für influenzaähnliche Erkrankungen und Saisonalität nicht konsistent in allen teilnehmenden Ländern möglich war.

Pathogenese des GBS nach Influenzaimpfung

Mögliche biologische Erklärungen für das Auftreten von GBS-Fällen nach Impfung wurden erstmals im Zusammenhang mit den A/NJ/76/H1N1-Impfstoffen formuliert. Epidemiologische Daten, die während der amerikanischen Impfkampagne erhoben wurden, legen nahe, dass die Impfstoffe gegen A/NJ/76/H1N1 an sich und nicht nur bestimmte Formulierungen oder Chargen der Vakzine die impfassoziierten GBS-Erkrankungen auslösten [83]. Diese Schlussfolgerung beruht auf der Beobachtung, dass es keinen Zusammenhang des Risikos mit Impfstofftyp, Hersteller, Zeitraum der Impfung oder geographischer Region gab, obwohl mehr als 100 verschiedene Chargen monovalenter und bivalenter Impfstoffe zum Einsatz kamen [83].

Dem Konzept der molekularen Mimikry folgend könnten Antikörper gegen Ganglioside in der Pathogenese des GBS nach Influenzaimpfung eine Rolle spielen [23]. Diese Annahme wird gestützt durch Fallberichte, die zeigten, dass nach Influenzaimpfung aufgetretene Fälle von GBS und Miller-Fisher-Syndrom mit Antikörpern gegen GD1b [1, 91] und GQ1b [13] assoziiert waren. Demgegenüber fand eine kürzlich veröffentlichte Studie, dass nach Impfung mit Influenzavakzinen der Zeiträume 2007 bis 2008, 2008 bis 2009 und 1976 bis 1977 keine vermehrte Bildung von Anti-Gangliosid-Antikörper im Serum von Impflingen nachgewiesen werden konnte, jedoch wurden hier keine an GBS erkrankten Patienten mit einbezogen [102].

In einer experimentellen Studie haben Nachamkin und Kollegen das Potenzial von Influenzaimpfstoffen zur Induktion einer humoralen Immunantwort bei Mäusen untersucht [72]. Die Autoren immunisierten Mäuse mit der originalen A/NJ/1976-Vakzine oder Impfstoffen aus der Influenzasaison 1991 bis 1992 und 2004 bis 2005. Alle benutzten Impfstoffe induzierten Antikörper gegen Hämagglutinin und das Monosialogangliosid GM1. Zudem konnte mittels Dünnschichtchromatographie gezeigt werden, dass A/NJ/1976 und neuere Influenzavakzinen Glykane enthalten. Bei mindestens einer der aktuelleren Influenzavakzinen (Saison 2004–2005) wurde mittels Immunfärbungen nachgewiesen, dass diese Glykane von Antikörpern gegen GM1-artige Moleküle erkannt werden.

Diese Daten stellen eine wichtige Verbindung zu einer pathologischen Autoimmunreaktion (gegen GM1) her, von der bekannt ist, dass sie bei passivem Transfer im Tiermodell einige der pathologischen Merkmale des GBS hervorruft. Dennoch bleiben wichtige Fragen ungeklärt: So induzierten alle getesteten Vakzinen Antikörper gegen GM1, auch solche, die nicht mit einem höheren GBS-Risiko assoziiert waren. Zudem waren die Antikörpertiter niedrig und es gibt viele verschiedene Immunisierungsregime, die bei Mauslinien Gangliosidantikörperproduktion in Gang setzen [15]. Nicht zuletzt findet man GM1-Antikörper überwiegend bei axonalen GBS-Varianten. Die GBS-Fälle, die 1976 infolge der Influenzaimpfung auftraten, waren jedoch „klassische“ demyelinisierende GBS-Fälle. Des Weiteren lässt die Studie die Frage offen, wie und unter welchen Umständen Glykane mit struktureller Ähnlichkeit zu Gangliosiden in Impfstoffe gelangen. Nachamkin und Kollegen postulieren, dass virales Hämagglutinin, das unter normalen Umständen an neuraminsäurehaltige Kohlenhydrate bindet, stabile Komplexe mit Neuraminsäure bilden kann [72]. Im normalen viralen Lebenszyklus zerlegt die virale Neuraminidase diese Komplexe durch hydrolytische Abspaltung der terminalen Neuraminsäurereste. Bei geringer enzymatischer Aktivität werden die Neuraminsäurereste womöglich nicht vollständig vom viralen Hämagglutinin entfernt, sodass Strukturen entstehen könnten, die GM1-Epitopen ähnelt. Diese Hypothese wird gestützt durch Berichte, nach denen die A/NJ/1976-Vakzine nur geringe oder keine nachweisbare Neuraminidaseaktivität enthält [49].

Andere Autoren stellten die Hypothese auf, dass die A/NJ/1976-Vakzine kontaminiert war und/oder vor Zulassung unzureichend auf ihre Sicherheit und Verträglichkeit geprüft wurde [87]. Die Produktionsverfahren und Methoden der Testung vor Zulassung eines Impfstoffs sind heute weiter fortgeschritten als 1976 [109], was als Argument für die Kontaminationshypothese gelten könnte. Dennoch erscheint eine Kontamination von A/NJ/1976-Impfstoffchargen mit bakteriellen Antigenen aufgrund der experimentellen Daten von Nachamkin und Kollegen unwahrscheinlich [72]. Da die Impfstoffe des Jahres 1976 auf Hühnereiern gezüchtet wurden, die als Reservoir für pathogene Mikroorganismen fungieren können, kam die Vermutung auf, dass bakterielle Antigene den Produktionsprozess in immunogener Form überstanden haben könnten, und zwar insbesondere Antigene von C. jejuni, dem am häufigsten mit postinfektiösem GBS assoziierten Erreger, der noch dazu in einem Großteil der Fälle über Geflügelprodukte übertragen wird. Doch die untersuchten Originalchargen der A/NJ/1976-Vakzine enthielten keine DNA von C. jejuni. Diese Tatsache und die Beobachtung, dass Seren von Mäusen, die mit der Vakzine geimpft wurden, keine Antikörper gegen C. jejuni enthielten, sind starke Argumente gegen die Hypothese einer Kontamination der A/NJ/1976-Vakzinen mit C.-jejuni -Antigenen. Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass zum jetzigen Zeitpunkt kein spezifischer Biomarker verfügbar ist, um ein postvakzinelles GBS zu bestätigen oder auszuschließen [106].

Zusammenfassung

Die Sicherheit von Impfstoffen bleibt nach wie vor ein hochrelevantes Thema für Patienten, medizinisches Personal, Gesundheitsbehörden und die Öffentlichkeit. Dies wurde zuletzt 2009 im Zusammenhang mit der Diskussion zu pandemischen A/H1N1-Impfstoffen deutlich. Oftmals werden neurologische Erkrankungen wie z. B. GBS im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen von der Öffentlichkeit mit Sorge beobachtet, auch wenn ein ursächlicher Zusammenhang nicht belegt ist.

Mit Ausnahme der Impfung gegen Schweinegrippe in den USA 1976/77, bei der ein deutlich erhöhtes Risiko nach Impfung festgestellt wurde, konnte dies in späteren nachfolgenden Studien mit saisonalen bzw. pandemischen H1N1-Impfstoffen nicht konsistent gezeigt werden. Wenn überhaupt, scheint die Risikoerhöhung durch Impfung mit saisonalen trivalenten Influenzaimpfstoffen mit ca. einem zusätzlichen Fall auf 1 Mio. Impfdosen gering zu sein. Ein solch geringes Risiko zu untersuchen, ist eine methodische Herausforderung und wahrscheinlich nur im Rahmen internationaler Studien möglich, die gleiche Standards und Methodik benutzen. Dabei ist es wichtig, eine einheitliche Falldefinition wie die der Brighton Collaboration zu benutzen. Unabhängig davon, würde ein so geringfügig erhöhtes Risiko eines GBS nicht das positive Risiko-Nutzen-Verhältnis der Impfstoffe ändern.

Neuere Studien haben untersucht, ob auch eine Infektion mit dem Influenzavirus mit einem GBS assoziiert sein könnte. Einzelne Autoren haben daher in diesem Zusammenhang sogar eine mögliche protektive Rolle der Influenzaimpfung diskutiert [97].

Viele Aspekte in der Pathogenese eines GBS nach Exposition mit Influenza bzw. Influenzaimpfung sind weiterhin unklar. Zusätzliche epidemiologische und experimentelle Studien sind notwendig, um die biologischen Grundlagen des GBS im Zusammenhang mit Impfungen und nach der Wildvirusinfektion zu charakterisieren.