Zusammenfassung
Dargestellt wird der aktuelle Stand der Diskussion um die ethische und rechtliche Klärung der Verbindlichkeit und Reichweite von Patientenverfügungen (PV), die einen Behandlungsverzicht bei Verlust der Selbstbestimmbarkeit infolge persistierender oder progredienter Hirnkrankheiten fordern. Am Beispiel von Demenz und „Wachkoma“ – Zustände mit zunehmender Bedeutung für den Psychiater – wird die Verbindlichkeit der PV in all jenen Fällen relativiert, in denen Irreversibilität und Vollständigkeit des Verlustes von Wachbewusstsein nicht sicher prognostiziert werden können. Unklarheit besteht auch in Bezug auf ihre Reichweite, da rechtlichen Vorschlägen zu ihrer Beschränkung auf todesnahe Krankheitszustände andere Vorschläge gegenüber stehen, die eine solche Beschränkung ablehnen; hinzu kommt medizinisch die Unsicherheit, das Kriterium der unmittelbaren Nähe des Todes bei irreversiblen und lebensbegrenzenden Krankheiten eindeutig feststellen zu können. Ethisch steht das höchstrichterlich bestätigte Selbstbestimmungsrecht des Kranken, der mit seiner PV eine lebenserhaltende und einwilligungspflichtige Behandlung bei den genannten Zuständen ablehnt, der ärztlichen Pflicht gegenüber, Leben zu erhalten und zum Wohl des Kranken zu handeln. Dadurch bedingte Gewissenskonflikte bei beteiligten Ärzten, Pflegepersonen, Angehörigen oder Nahestehenden, insbesondere auch bei Bevollmächtigten, sollten durch eine eingehende Diskussion zwischen allen an der Entscheidung Beteiligten einer möglichst konsensuellen Lösung zugeführt werden, die dem in der Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachten Willen möglichst nahe kommt.
Summary
A short overview is given of the current debate on ethics and legal clarification of the range and binding force of so-called living wills demanding interruption of treatment in case of loss of autonomy due to persistent or progressive brain disease. Using the examples of dementia and persistent vegetative states – conditions with growing significance for psychiatrists – the binding force of living wills is examined for cases in which the irreversibility and extent of consciousness loss cannot be predicted with certainty. The range of living wills’ authority appears also unclear. Legal proposals for limiting them to disease conditions near death are confronted by other proposals that reject such limitations. Added to this is the medical uncertainty of assessing the criterion nearness to death in irreversible and life-limiting diseases. The patient’s right of self-determination, confirmed by high court decisions, to refuse in advance treatments that are life-prolonging but require consent is opposed to the medical obligation to save life and act in the patient’s best interest. Moral dilemmas caused by this situation on the part of physicians, carepersons, and relatives or others, particularly authorized persons, should be solved by an exhaustive discussion with all persons who are involved in such decisions, and in a way that comes as near as possible to the patients living will.
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Lauter, H., Helmchen, H. Vorausverfügter Behandlungsverzicht bei Verlust der Selbstbestimmbarkeit infolge persistierender Hirnerkrankung. Nervenarzt 77, 1031–1039 (2006). https://doi.org/10.1007/s00115-006-2117-8
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-006-2117-8
Schlüsselwörter
- Patientenverfügung
- Behandlungsverzicht
- Verbindlichkeit einer Patientenverfügung
- Reichweite einer Patientenverfügung
- Demenz
- „Wachkoma“
- Irreversibler Verlust der Selbstbestimmbarkeit