Anamnese

Eine 74-jährige Rentnerin erlitt einen Stolpersturz, nachdem sie auf einer Rolltreppe in einem Einkaufszentrum das Gleichgewicht verloren hatte. Die Patientin versuchte dabei, den frontalen Sturz mit beiden Händen abzufangen und stürzte auf das Gesicht und die beidseits nach vorne gestreckten Arme. Passanten, welche den Sturz beobachtet hatten, alarmierten den Rettungsdienst, welcher einen Notarzt nachforderte. Dieser fand die Patientin sitzend in gutem Allgemeinzustand vor, jedoch mit stärksten Schmerzen im Bereich der rechten Schulter, wobei sie ihren Arm nur seitlich vom Körper abgespreizt halten konnte. Aufgrund der starken Schmerzen erfolgte eine Analgesie mittels 0,2 mg Fentanyl durch den Notarzt. Der Transport in die Klinik gestaltete sich komplikationslos; dort erfolgte die Übernahme der Patientin durch einen der diensthabenden Unfallchirurgen.

In der Übergabe durch den Notarzt wurde der Verdacht auf eine Schulterluxation der rechten Seite geäußert.

Befund

Bei Eintreffen der Patientin zeigte sich klinisch der rechte Arm in 90°-Abduktion sowie Außenrotation fixiert, mit einer sichtbaren Vorwölbung im Bereich der Axilla (Abb. 1a) Zusätzlich gab die Patientin immobilisierende Schmerzen im Bereich der linken Schulter an. Hier konnte eine Delle unter dem Schulterdach palpiert werden. Die periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität zeigten sich beidseits zu jeder Zeit intakt.

Abb. 1
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a Klinisches Bild der Luxatio erecta rechts vor Reposition; b schräge Röntgenbehelfsaufnahme der rechten Schulter bei Luxatio erecta; c CT-Bildgebung der rechten Schulter vor Reposition der Luxation erecta; d 3D-Volume-rendering-CT der rechten Schulter vor Reposition der Luxatio erecta. Der Humeruskopf zeigt sich unter dem Glenoid verhakt; e Repositionsmanöver mittels Zweistufentechnik nach Nho et al. [1] mit Zug nach kranial und lateral; f CT-Bildgebung beider Schultern post repositionem mit guter Zentrierung der Humerusköpfe im Glenohumeralgelenk

Bildgebung

Aufgrund des erlittenen Traumamechanismus, inklusive Kopfanprall, der präklinischen Gabe von Fentanyl sowie des Alters der Patientin erfolgte zur weiteren Planung des Prozederes die Durchführung einer Computertomographie des Schädels und der Halswirbelsäule. Aufgrund der Stellung der Schulter mit offensichtlicher inferiorer Schulterluxation und der geplanten Reposition wurde der Entschluss zur Computertomographie der beiden Schultern gestellt, um etwaige Repositionshindernisse oder Frakturen in Erfahrung zu bringen. Hier zeigten sich rechtsseitig eine kaudale Schulterluxation (Luxatio erecta) (Abb. 1b–d) sowie linksseitig eine anteroinferiore Schulterluxation. Als weitere Traumafolge zeigte sich eine Orbitabodenfraktur auf der rechten Seite.

Diagnose

Luxatio erecta des rechten Schultergelenks in Kombination mit einer anteroinferioren Luxation des linken Schultergelenks, Orbitabodenfraktur rechtsseitig.

Therapie

Es erfolgte die umgehende Reposition in Analgosedierung unter Gabe von 8 mg Midazolam und 7,5 mg Piritramid. Begonnen wurde zunächst mit der rechten Schulter in einer Zweistufentechnik ([1]; Abb. 1e): Hierfür wurde durch eine nach anterior gerichtete Traktion am Humerusschaft der Humeruskopf zunächst von einer inferioren in eine anteriore Position gebracht. Anschließend konnte die Reposition [2] durchgeführt werden, um die bestehende anteriore Dislokation des Humeruskopfes zu neutralisieren.

Die Reposition der linken Schulter erfolgte ebenfalls problemlos. Noch am selben Tag erfolgte die operative Versorgung der Orbitabodenfraktur durch die Kollegen der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie.

Verlauf

Die periphere Durchblutung, Sensorik und Motorik zeigten sich beidseits post repositionem intakt. Es erfolgten die Ruhigstellung in einer Armschlinge beidseits und eine CT-Untersuchung zur Bestätigung des erfolgreichen Repositionsmanövers und zum Ausschluss etwaiger neu aufgetretener Begleitverletzungen (Abb. 1f). Die Bildgebung ergab eine regelrechte Stellung beider Schultergelenke sowie eine knöcherne Bankart-Läsion rechts und Hill-Sachs-Läsionen beidseits. In der angeschlossenen Magnetresonanztomographie zeigten sich auf der rechten Seite die bekannte Bankart-Läsion sowie das Bild einer Supraspinatussehnenkomplettruptur (Patte-Grad II), inklusive Ruptur der langen Bizepssehne. In Zusammenschau des Alters der Patientin, des funktionellen Anspruchs sowie der Ergebnisse der Bildgebung wurde die Indikation zur konservativen Therapie bezüglich der Bankart- und Hill-Sachs-Läsionen gestellt. Die Versorgung der Rotatorenmanschettenruptur erfolgte im Verlauf im Sinne einer arthroskopischen Supraspinatussehnen(SSP)-Refixation in „Speedbridge“-Technik. Die lange Bizepssehne (LBS) zeigte sich nach extra-artikulär retrahiert, weshalb hier keine weitere chirurgische Intervention erfolgte.

Fallanalyse

Die inferiore Schulterluxation (Luxatio erecta) stellt mit einem Anteil von ca. 0,5 % aller Schulterluxationen eine seltene Entität dar [3]. In der klinischen Diagnostik zeigt sich diese jedoch meist sehr eindrücklich mit dem typischen klinischen Bild einer fixierten Stellung der oberen Extremität in Abduktion bei gleichzeitiger Flexion und Pronation im Ellenbogengelenk [4]. Aufgrund dieses dominierenden klinischen Bildes kann eine zusätzliche Luxation der Gegenseite leicht übersehen werden. Mit aktuell 68 publizierten Fällen einer bilateralen anteroinferioren Luxation [5] und 29 publizierten Fällen einer bilateralen inferioren Luxation [4] sind diese Verletzungen jedoch deutlich häufiger, als sie auf den ersten Blick scheinen. Eine ausführliche Anamnese des Unfallmechanismus, gefolgt von einer umfassenden klinischen Untersuchung, ist zur Detektion solcher kombinierten Verletzungen unabdingbar. Eine CT-Bildgebung vor der Reposition kann aus unserer Sicht insbesondere bei Vorliegen einer Luxatio erecta hilfreich für eine Visualisierung der Stellung des Humeruskopfes und damit für eine erfolgreiche Reposition sein [6]. Als Repositionsmanöver der Luxatio erecta wurde in diesen Fallbeispiel die Zweistufentechnik nach Nho et al. durchgeführt [1]; diese stellt aus unserer Sicht in diesem Fall eine gute Alternative zu der 1983 von Freundlich beschriebenen „Traktion-Gegentraktion“ Technik dar [7]. Nho et al. beschreiben einen geringen Kraftaufwand sowie einen geringen Bedarf an Sedierung bei Durchführung ihrer Repositionsmethode [1], wobei v. a. Letzteres in Hinsicht auf das begleitende Schädel-Hirn-Trauma bei der Patientin zur Entscheidung für diese Repositionsmethode geführt hat. Aufgrund des hohen Anteils an Nerven- (29 %) und Gefäßverletzungen (10 %) [4] bei einer Luxatio erecta sind eine schnelle Diagnostik und Reposition sowie regelmäßige Evaluationen und Dokumentationen der Durchblutungssituation, Sensibilität und Motorik insbesondere vor und nach der Reposition von entscheidender Bedeutung [8].

Fazit für die Praxis

  • Bilaterale Schulterluxationen stellen eine seltene Entität dar. Eine ausführliche Anamnese des Unfallmechanismus sowie eine umfassende klinische Untersuchung sind essenziell, um diese nicht zu übersehen.

  • Eine CT-Untersuchung vor der Reposition einer Luxatio Errata kann aufgrund der besseren Visualisierung hilfreich für eine erfolgreiche Reposition sein.

  • Die Zweistufentechnik nach Nho et al. stellt eine gute Repositionstechnik für die Luxatio erecta dar.

  • Gefäß- und Nervenverletzungen sind insbesondere bei einer Luxatio erecta eine häufige Begleitverletzung. Eine schnelle Reposition sowie regelmäßige klinischen Evaluation der peripheren Durchblutung, Sensorik und Motorik sind entscheidend, um therapiebedürftige Läsionen frühzeitig zu erkennen.