Aus Schaden wird man klug,

lautet eine dieser Volksweisheiten, die uns schon im Kindesalter vermittelt wird. Ob dies dann auch noch im ärztlichen Berufsleben gelten soll?

Wir denken schon. Schließlich arbeiten wir in einem sog. Hochrisikobereich. Schäden bei unseren Patienten werden prinzipiell auftreten; eine „Vision Zero-Harm“ wird immer eine Schimäre sein.

Allerdings gilt auch: Jeder vermeidbare Schaden ist ein Schaden zu viel. Natürlich liegt die Zahl der festgestellten ärztlichen Behandlungsfehler, gemessen an den 19,5 Mio. Behandlungsfällen im Krankenhaus und den rund 1 Mrd. Arztkontakten pro Jahr, im Promillebereich. Dies geht aus den Zahlen der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern hervor, wo in 2018 10.839 Anträge behandelt und 1499 als fehlerhaft beschieden wurden (Deutsches Ärzteblatt [DÄ], Mai 2019). Aber Unfallchirurgen und Orthopäden sind daran am häufigsten beteiligt, und schwere Dauerschäden oder sogar der Tod eines Patienten sind eine große Belastung für Angehörige und Behandler gleichermaßen. Und es ist nicht die gesamte Sachlage. Nach der jüngsten Umfrage des Berufsverband Deutscher Chirurgen (BDC; Passion Chirurgie, Sept. 2019) waren rund 60 % der befragten niedergelassenen Kollegen und Belegärzte seit 2013 mindestens einmal mit einem Haftpflichtschaden konfrontiert, bei 73 % erhöhten sich die Haftpflichtprämien in den letzten 5 Jahren z. T. erheblich, und überhaupt einen Haftpflichtversicherer zu finden, war für 20 % ein Problem. Der weitgespannte Themenkomplex Schaden- und Risikomanagement bleibt also aktuell.

Das vorliegende Themenheft ist nicht das Erste seiner Art. Seit der britische Psychologe und Sicherheitsforscher James Reason 1990 seine Arbeit zu „human error“ veröffentlichte und der Bericht des Committee on Quality of Health Care in America „To err is human“ im Jahr 2000 das Thema Patientensicherheit und Fehler im Gesundheitswesen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte, hat sich viel getan.

Um nur einige Eckdaten zu nennen

Die World Health Organisation (WHO) gründete 2004 die World Alliance for Patient Safety. Die Europäische Union (EU) zog 2006 nach. In Deutschland wurde 2005 das Aktionsbündnis Patientensicherheit gegründet. Die ärztliche Selbstverwaltung und die wissenschaftlichen Fachgesellschaften waren seither intensiv bemüht, eine Fehlervermeidungskultur zu etablieren. Erinnert sei an die Einführung des Critical Incident Reporting System oder an standardisierte Algorithmen wie die WHO-Checkliste zum Team-Time-Out vor Beginn einer Operation. 2013 hat der Gesetzgeber mittels des Patientenrechtegesetzes explizite Regelungen zum Behandlungsvertrag in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) aufgenommen. 2014 wurde das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) gegründet, das im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses an Maßnahmen zur Qualitätssicherung arbeitet und die Versorgungsqualität im Gesundheitswesen darstellen soll. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G‑BA) hat schließlich seit 2014 entsprechende Systeme zum Qualitäts- und Risikomanagement für Krankenhäuser verpflichtend vorgeschrieben und jetzt im April 2019 erstmals auch Strafmaßnahmen dargelegt.

Publizistisch wurde diese Herausforderung einer neuen Leitkultur begleitet von zahlreichen Artikeln in Deutsches Ärzteblatt und in den Zeitschriften unserer wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Berufsverbänden. Erinnert sei etwa an die „Safety Clips“ in Passion Chirurgie, dem Informationsorgan des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen. Auch Der Unfallchirurg hat schon 2011 und 2013 Themenhefte der Patientensicherheit gewidmet. An diese Tradition wollen wir heute anknüpfen und Ihnen ein Update zum klinischen Schaden- und Risikomanagement anbieten.

Aus Schaden wird man klug …

Deshalb haben wir den Beitrag von Dr. Jörg Heberer und Marcus Eicher aus der renommierten Münchner Anwaltskanzlei zum Schadenmanagement aus Sicht des Juristen an den Anfang gestellt. Dr. Heberer dürfte Ihnen allen als Justitiar des BDC und des Berufsverbands der Orthopäden und Unfallchirurgen (BVOU) bekannt sein. Die Autoren schildern als Resümee ihrer mehr als 30-jährigen Erfahrung als Berater und Anwälte für Leistungserbringer im Gesundheitswesen die TOP 7 der Fehler im Arzthaftungsrecht und stellen die jeweiligen juristischen Konsequenzen klar verständlich und praxisnah dar. Wir selbst hätten nicht gedacht, dass Aufklärungsfehler und Dokumentationsfehler nach wie vor an 1. und 2. Stelle dieser Fehlerliste rangieren. Darum möchten wir Ihnen die Ausführungen dazu besonders ans Herz legen. Und Sie werden die Hinweise wertschätzen, wie man rechtzeitig und richtig mit zivilrechtlichen Haftungsansprüchen umgeht und wie man sich bei strafrechtlichen Ermittlungen verhalten sollte.

Andreas Meyer und Prof. Josef Zacher von der Helios Kliniken GmbH stellen dann komplementär das Schaden- und Risikomanagement aus Sicht der Kliniker dar. Sie verweisen zunächst darauf, dass das Schadenmanagement häufig gar nicht in den Händen der Ärzte bzw. der Kliniken liegt, und dass die Helios Kliniken daraus schon vor 10 Jahren die Konsequenz gezogen haben, eine „Inhouse“-Schadenbearbeitung zu etablieren. Ein interessantes Modell! Aus der medizinischen und juristischen Analyse der Schadensfälle mithilfe einer zentralen Datenbank werden Schlüsse für das Risikomanagement gezogen, was anschaulich anhand dreier konkreter, aus dem Ruder gelaufener Fälle demonstriert wird. „Aus Schäden lernen, Schäden zu vermeiden“ unter dieser Überschrift hat der Konzern z. B. ein internes Gremium geschaffen, in dem bei klinikübergreifenden Schadensauffälligkeiten interne Zweitmeinungen eingeholt, gezielt Maßnahmen ergriffen und deren Wirksamkeit weiterverfolgt werden. Das erfordert, so ein Fazit ihrer Arbeit, eine von den Führungsebenen gelebte nachhaltige Sicherheitskultur.

Wie sieht eine solche Sicherheitskultur idealerweise aus? Damit setzt sich Dr. Alexander Euteneier in seinem Beitrag auseinander. Als Herausgeber des Handbuch Klinisches Risikomanagement (Springer 2015) ist er mit der Materie bestens vertraut. Er definiert zunächst Merkmale einer fehlerresistenten Sicherheitskultur und belegt deren positive Effekte auf die Patientensicherheit, die Mitarbeiterzufriedenheit und Mitarbeitermotivation. Zudem werden Argumente für die Wirtschaftlichkeit eines klinisches Risikomanagement an den Beispielen einer OECD(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)-Metastudie (OECD 2017) und den Schätzungen der Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ 2019) hinsichtlich entstehender Kosten im Falle von vermeidbaren Komplikationen aufgeführt. Damit sich eine solche Sicherheitskultur entwickeln kann, benennt und diskutiert er 10 Aktionsfelder des klinischen Risikomanagements, die wesentlich für deren Erfolg sind. Auch er kommt zu dem Schluss, dass ohne Vorbildfunktion der Führungskräfte und ihr proaktives Handeln das Risikomanagement nicht funktionieren kann. Eine fehlerresistente Sicherheitskultur ist letztendlich ein Korrektiv für das tägliche risikobehaftete Handeln und zeigt sich am Vertrauen in die Mitarbeiter, am Kommunikationsstil und an der Kooperationsfähigkeit der Behandlungsteams.

Um Ihnen einen besseren Zugang zu der doch elaborierten Fachsprache im Schaden- und Risikomanagement zu bieten, rundet ein Glossar der wichtigsten Stichworte diese Einführung zum Thema ab. Es soll auch dazu dienen, die unterschiedlich definierten Begrifflichkeiten in der englischsprachigen und deutschsprachigen Literatur zu verdeutlichen und Unschärfen oder Widersprüchlichkeiten aufzulösen.

Es fällt sicherlich nicht jedem leicht, nach diesem umfassenden Höhenflug in die komplexe Materie der Sicherheitskultur in die tägliche Praxis zurückzukehren. Weil, wie A. Euteneier gut herausgearbeitet hat, eben die „Schauseite der Kultur“, die auf Glanzpapier formulierten Leitbilder, mit der „formalen Seite der Kultur“, den z. T. überbordenden Zertifizierungen und Vorschriften und unklaren Zuständigkeiten mit der „informalen Seite“, der gelebten Praxis, allzu oft nicht übereinstimmen. Der Frust über zusätzliche Aufgaben in Zeiten der Personalverknappung und des Sparzwangs, fehlende Unterstützung aus den diversen Führungsebenen aus Sorge um die Gefährdung etablierter Hierarchien, fehlende formale Weisungsbefugnisse der klinischen Risikomanager und nicht zuletzt die fehlende Abbildung der Kosten im DRG-System führen nicht selten zu einer brisanten Mischung aus Wut oder Desinteresse, Resignation und bloßem Symbolhandeln. Trotzdem, Risikomanagement durch geschulte Mitarbeiter ist unumgängliche Pflicht und langfristig in jeder Hinsicht lohnend.

Wir danken den Autoren für ihre Beiträge dazu und schließen mit einem Zitat von Hartwig Bauer, dem langjährigen Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, aus o. a. Buch (S. 67): „Begrifflichkeiten, verantwortungsethische Gesichtspunkte, Teamverständnis, Fehler – und Risikomanagement … und ein multiprofessioneller Ansatz als Voraussetzung einer gelebten Sicherheitskultur sind zwar schon lange im Bewusstsein führender Akteure vorhanden, aber bezüglich Verantwortlichkeiten und Werten im Gesamtkonzept des klinischen Risikomanagements besteht noch erheblicher Nachhol- und Umsetzungsbedarf.“

Wir würden uns freuen, wenn wir mit diesem Themenheft dazu beitragen, den Informationsbedarf zu befriedigen und die wertvolle und oft noch nicht gewürdigte Arbeit der klinischen Risikomanager zu unterstützen. Gerade hat die WHO zum ersten Mal am 17.09.2019 den Welttag der Patientensicherheit ausgerufen. Denn darum geht es doch letztlich: Das Wohl der Patienten und das wichtigste ethische Prinzip der Medizin „primum nil nocere“ im Rahmen der heutigen Hochleistungsmedizin neu zu verorten.

Prof. Dr. Wolf Mutschler, München

Dr. med. Alexander Euteneier, Herrsching