Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

trotz großer Fortschritte in der Entwicklung der operativen Frakturbehandlung in den letzten Jahrzehnten kommt es immer noch bei einer erheblichen Anzahl von Patienten zu Heilungsverzögerungen und Pseudarthrosen. Neben der Verletzungsschwere gibt es vor allem operationstechnische, biologische und biomechanische Ursachen. Die Operationstechnik und die eingesetzten Implantate bestimmen die Stabilität der Osteosynthese und beeinflussen den Knochenheilungsverlauf. Obwohl die Bedeutung der Osteosynthesestabilität für die Frakturheilung generell anerkannt ist, war ihr Einfluss im Verlauf der Entwicklung des Verfahrens unterschiedlich.

Am Anfang der Entwicklung (1958) war es das Ziel, vor allem der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen, eine maximale Stabilität der Frakturfixation zu erreichen, um eine schnelle, direkte Knochenheilung zu erzielen. Dies war häufig nur mit einem massiven Einsatz von Implantaten und einer erheblichen intraoperativen Weichteiltraumatisierung zu erreichen. Das führte in vielen Fällen zu Heilungsverzögerungen durch eine verminderte Durchblutung und damit beeinträchtigter biologischer Heilungskapazität. In der Folge wurde die minimalinvasive Osteosynthese seit den 1990er-Jahren unter Schonung der Vaskularität und mit einem möglichst geringen Einsatz von Implantaten propagiert. Zudem wurde anerkannt, dass die flexible Fixation einer Fraktur, wie z. B. mit dem Marknagel, zu einer guten Knochenheilung durch Kallusbildung führen kann. Bei den neueren Implantaten, wie z. B. dem dünnen unaufgebohrten Marknagel, wurde dem Erhalt einer guten Durchblutung Vorrang vor einer guten Stabilität gegeben, was bei vielen Patienten zu einer kritisch-geringen Stabilität, erhöhten Komplikationsraten und Heilungsverzögerungen führte. Die biologischen Vorteile einer geringeren Vaskularitätsbeeinträchtigung konnten in solchen Fällen die Nachteile von instabilen Fixationen nicht kompensieren.

Das Ziel einer Verbesserung der Osteosynthese muss es deshalb sein, eine gewebeschonende Operationstechnik mit einer geeigneten Stabilität der Osteosynthese zu verbinden.

Was ist nun aber eine geeignete Stabilität und wie kann man sie erreichen? Um diese Fragen zu beantworten, fehlten bisher ausreichende wissenschaftliche Kenntnisse und Methoden. Begriffe wie Stabilität und Flexibilität sind nicht geeignet, eine Korrelation zwischen den biomechanischen Bedingungen und dem biologischen Prozess der Knochenheilung herzustellen. Zudem ist es nicht möglich, aus klinischen Studien Informationen zum Einfluss der biomechanischen Situation auf die Knochenheilung zu erhalten, weil die biomechanische Situation nicht quantitativ erfasst wird und die Knochenheilung ein multifaktorieller Prozess ist. Es bleiben deshalb nur experimentelle Methoden, um den Zusammenhang zwischen Stabilität und Knochenheilung zu erforschen. Dieser Zusammenhang wird als Mechanobiologie bezeichnet und beschreibt den Einfluss von quantifizierbaren biomechanischen Größen, wie interfragmentäre Bewegung oder interfragmentäre Gewebedehnung, und der dadurch hervorgerufenen Zellreaktion und Gewebedifferenzierung im Knochenheilungsgebiet.

Im Teil 1 des Beitrags zur Mechanobiologie der Frakturheilung werden die Grundlagen dargestellt. Interfragmentäre Bewegungen oder Gewebedehnungen sind klinisch jedoch nicht erfassbar und es ist deshalb erforderlich, diese Größen in biomechanische Faktoren zu transferieren, die an Osteosynthesen bestimmbar sind.

Im Teil 2 des Beitrags wird dargestellt, wie moderne numerische Verfahren eingesetzt werden können, um die Kenntnisse aus den Grundlagenuntersuchungen auf die Osteosynthese anzuwenden. Für die wichtigsten Osteosyntheseverfahren wie Marknagelungen, Plattenosteosynthesen und Fixateur-externe-Stabilisierungen wird erläutert, welche Verbesserungen in der Steifigkeit heute üblicher Implantate empfehlenswert sind und wie dadurch die Knochenheilung verbessert werden kann.

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Prof. em. Dr. L. Claes