Einleitung: vom Molekül zur randomisierten Studie

Melatonin wurde 1958 durch Lerner entdeckt [1]. Die erste placebokontrollierte randomisierte Studie zum Einsatz von Melatonin bei Kindern und Jugendlichen mit Schlafstörungen folgte 1998 [2], nachdem 1991 schon über die Gabe von Melatonin bei einem blinden Kind berichtet worden war [3]. Illnerova et al. wiesen 1993 erstmals nach, dass auch in der Muttermilch nur nachts hohe Melatoninkonzentrationen messbar sind [4].

Intestinale Resorption und nächtliche pulsatile Synthese in der Zirbeldrüse

Melatonin wird aus der essenziellen Aminosäure L‑Tryptophan gebildet. Nach der Resorption im Darm wird L‑Tryptophan an das Trägereiweiß Albumin gebunden und muss die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Das L‑Tryptophan kann die Blut-Hirn-Schranke nur überwinden, wenn ein relativ straff eingestelltes Konzentrationsverhältnis zwischen L‑Tryptophan und den damit konkurrierenden langkettigen neutralen Aminosäuren (LNAA; Leucin, Isoleucin, Tyrosin, Phenylalanin, Valin, Histidin, Threonin und Methionin) vorliegt [5]. Die Einschlaflatenz bei Säuglingen wird verbessert, wenn das Konzentrationsverhältnis zwischen L‑Tryptophan und den LNAA in industriell hergestellter Säuglingsnahrung an den Goldstandard Muttermilch angepasst wird [6]. Bei Erwachsenen wurden vergleichbare Effekte auf ein verbessertes Verhältnis dieser beiden Substanzgruppen und auf verminderte Schläfrigkeit am Morgen nach der Gabe von Laktalbumin, das mit L‑Tryptophan angereichert war, nachgewiesen [7].

Der Zirbeldrüse (Glandula pinealis) ist die chronobiologisch-pulsatile Synthese von Melatonin aus L‑Tryptophan vorbehalten. Melatonin stellt einen fotooptischen Gegenspieler zum Vitamin D dar. Während die Synthese von Vitamin D durch UV-Licht gestartet wird, wird die pineale Melatoninsynthese durch das Signal „Licht aus“ (Dunkelheit) initiiert. Dieses Signal wird über die Retina und den Nucleus suprachiasmaticus („suprachiasmatic nucleus“, SCN) über eine mehrgliedrige Signaltransduktionskette an die Zirbeldrüse übermittelt (Abb. 1; [8, 9]).

Abb. 1
figure 1

Der Signaltransduktionsweg zwischen der Master-Clock, dem Nucleus suprachiasmaticus (SCN), und der Zirbeldrüse. Obwohl SCN und die Glandula (Gl.) pinealis in anatomischer Nähe liegen, erfolgt die Kommunikation über Nervenfasern, die zunächst bis in den Halsbereich und im weiteren Verlauf am Kleinhirn vorbeiziehen und erst nach Verschaltung im Ganglion cervicale superius zur Zirbeldrüse gelangen. NREM „non-rapid eye movement“, M1, M2 Melatoninrezeptoren, PVN „paraventricular nucleus“ (Nucleus paraventricularis), REM „rapid eye movement“. (Aus Paditz et al. [8], mit freundl. Genehmigung, © Prof. E. Paditz, alle Rechte vorbehalten)

Noradrenalin aktiviert in der Zirbeldrüse eine Gruppe von Enzymen, die für die Umwandlung von L‑Tryptophan über die Zwischenstufe Serotonin in Melatonin sorgen. Das evolutionsbiologisch alte Enzym „Timezyme“ (Arylalkylamin-N-acetyltransferase, AANAT) bildet den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt. Timezyme ist vor ca. 500 Mio. Jahren zur Synthese von Melatonin als Radikalfänger entstanden, um gegen UV-Strahlung zu schützen. Erst im Laufe der Entwicklung der Vertebraten kam die Funktion von Melatonin als Zeitgeberhormon zur Förderung des Einschlafens hinzu. Inzwischen ist weitgehend geklärt, an welchen Strukturen des Gehirns die Melatoninrezeptoren M1 und M2, die mit der Induktion des „Rapid-eye-movement“(REM)- und des „Non-rapid-eye-movement“(NREM)-Schlafs assoziiert sind, platziert sind (Abb. 1; [8, 10, 11]). Möglicherweise ist die Ausreifung des REM-Schlafs im frühen Säuglingsalter mit der Präsenz von Melatonin assoziiert [12].

Säuglinge sind in den ersten 3 Lebensmonaten auf die Melatoninzufuhr über die Muttermilch angewiesen

Da die Synthese von Noradrenalin im Rahmen der oben genannten Signalübertragung noch nicht ausgereift ist, sind Säuglinge in den ersten 3 Lebensmonaten auf die Zufuhr von Melatonin über die Muttermilch angewiesen. Für Kinder, die nicht gestillt werden, könnte in absehbarer Zeit erstmals eine Formulanahrung in Form einer Chrononutrition mit natürlichem Melatonin ohne externe Melatoninsupplementation, die aus nichtgepoolter Kuhmilch hergestellt wird, zur Verfügung stehen. Nicht gepoolt bedeutet, dass die „Nachtmilch“ mit hoher Melatoninkonzentration [13] separat zur „Tagmilch“ ohne hohe Melatoninkonzentration gesammelt und als Ausgangsmaterial für die Herstellung von Säuglingsnahrung verwendet wird [14].

Im Alter von 5 Jahren erreicht die nächtliche Melatoninsekrektion ein Maximum, das im späten Erwachsenenalter einer deutlichen Abnahme der Fähigkeit zur Melatoninbildung weicht [15].

Zu den Genen, die mit dem „Melatonin-Pathway“ in Verbindung gebracht werden, zählen jene, die für Timezyme, für das vorgeschaltete Enzym zur Synthese von Melatonin aus Serotonin sowie für die Melatoninrezeptoren M1 und M2 kodieren. Mutationen bzw. Polymorphismen in diesen Genen scheinen bei einem Teil der untersuchten Patienten mit einem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), Autismus oder intellektuellen Einschränkungen mit verminderter Melatoninsynthese und/oder -effektivität am Rezeptor assoziiert zu sein.

Zulassungen für das Kindes- und Jugendalter

In Österreich und in Deutschland liegt eine Zulassung für Kinder und Jugendliche im Alter von 2 bis 18 Jahren mit Insomnie bei Autismus bzw. Smith-Magenis-Syndrom vor (Retardpräparat 1 mg, 5 mg). In Österreich ist Melatonin zusätzlich als individuell dosierbare Lösung (1 mg/ml in alkoholischer Lösung) sowie als Tablette (0,5 mg, 1 mg, 2 mg, 3 mg, 4 mg, 5 mg in nicht retardierter Form) für Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 17 Jahren mit Insomnie bei ADHS zugelassen. Schlüter hat eine Rezeptur für Tropfen ohne alkoholisches Lösungsmittel angegeben [16] In der Schweiz sind bis zum 18. Lebensjahr keine Melatoninpräparate zugelassen; im Off-Label-Use (OLU) können die Kosten für eine Melatoninmagistralrezeptur oder für ein Retardpräparat, das für Erwachsene ab dem 55. Lebensjahr zugelassen ist, im Zusammenhang mit einigen bestätigten angeborenen Erkrankungen (Geburtsgebrechen, die mit Ziffern kodiert werden und an definierte Zugangskriterien wie z. B. fachärztliche Diagnosestellung gebunden sind) nach vorheriger Antragstellung übernommen werden. Dies sind gemäß der „Verordnung über Geburtsgebrechen“ [17]:

  • neurodegenerative Erkrankungen (z. B. GG-Ziffer 383),

  • kongenitale Epilepsien, die über den Notfall hinaus mit Antiepileptika behandelt werden (GG-Ziffer 387),

  • Hirnfehlbildungen (GG-Ziffer 381, heredodegenerative Erkrankungen des Nervensystems),

  • schwere Sehbehinderung bei Kindern, die eine frei laufende innere Uhr aufweisen (z. B. GG-Ziffer 415),

  • tuberöse Hirnsklerose (GG-Ziffer 487),

  • ADHS beim Vorliegen mehrerer Merkmale, die kumulativ vorliegen sollen (GG-Ziffer 404) und

  • Autismus-Spektrum-Störungen, die fachärztlich diagnostiziert wurden (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neuropädiatrie oder Pädiatrie mit dem Schwerpunkt Entwicklungsdiagnostik) (GG-Ziffer 405).

Methodik

In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, welche randomisierten placebokontrollierten Studien zur Behandlung von Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter mit Melatonin vorliegen. Es handelt sich um Zwischenergebnisse der in Arbeit befindlichen, durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) koordinierten S2e-Leitlinie zum Einsatz von Melatonin bei Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter [18]. Diese Leitlinie stellt eine Erweiterung und Vertiefung der Stellungnahme der Arbeitsgruppe Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) aus dem Jahr 2018 dar [19]. Zusätzlich wurde nach klinischen Fallserien gesucht, um Hinweise auf nachweisbare oder fehlende Effekte oraler Melatoningaben zu erfassen.

Zu der zeitweilig aktuellen Debatte, ob man Kindern Melatonin z. B. in Form von Gummibärchen geben sollte, ist bereits mehrfach Stellung bezogen worden [20, 21]. Aktuelle Angaben zur Pharmakokinetik und Toxikologie, einschließlich der aktuellen Berichte über einzelne Todesfälle bei Säuglingen und Kleinkindern im zeitlichen Zusammenhang mit einer Melatoninüberdosierung sowie zu Pinealistumoren im Kindes- und Jugendalter, liegen ebenfalls vor [10, 22].

Ergebnisse

Bisher sind 33 randomisierte kontrollierte Untersuchungen (RCT) zur Wirksamkeit der oralen Gabe von Melatonin in retardierter oder nichtretardierter Form im Vergleich zu Placebo zu finden [18]. Die Qualität dieser RCT ist heterogen [18]. In Tab. 1 wird ein orientierender Eindruck vermittelt, wie viele RCT pro Diagnose vorliegen (Tab. 1).

Tab. 1 Randomisierte kontrollierte Studien (RCT) zur Wirksamkeit oraler Melatoningaben bei Kindern und Jugendlichen mit Schlafstörungen, nach Diagnosen geordnet. (Vorab und verkürzt aus Paditz et al. [18])

Hinweise auf die Wirksamkeit von oralen Melatoningaben wurden in einigen Fallberichten bzw. -serien dokumentiert. Diese betrafen Patienten mit dem Smith-Magenis-Syndrom, blinde Kinder, die Nicht-24-Stunden-Schlaf-Wach-Störung (Non-24) und 2 von 10 Fällen mit „X-linked alpha thalassaemia mental retardation (ATR-X) syndrome“. Auf der Grundlage von Eltern-Reports fanden sich fragliche Hinweise bei CHARGE-Syndrom (C: Kolobom des Auges, H: Herzfehler, A: Atresie der Choanen, R: retardiertes Längenwachstum und Entwicklungsverzögerung, G: Genitalfehlbildung und E: Ohrfehlbildungen), Sanfilippo-Syndrom und Williams-Syndrom sowie bei REM-Schlaf-bezogener Bewegungsstörung („rapid eye movement behavior disorder“, RBD).

Jan et al. berichteten über ein 12-jähriges Mädchen mit Asperger-Syndrom, Schlafphasenverschiebung und heftigem Pavor nocturnus, der bereits 2 Tage nach abendlichen Gaben von 5 mg Melatonin für mehrere Monate sistierte [55]. In einem aktuellen Review zur Behandlung des Pavor nocturnus wird dieser Fallbericht erwähnt; eine Empfehlung als therapeutische Option wird daraus aber nicht abgeleitet. Bei Kindern und Jugendlichen mit „fetal alcohol spectrum disorder“ (FASD) sowie Cockayne-Syndrom liegen häufig Ein- und Durchschlafstörungen sowie Hinweise auf eine verminderte oder verzögerte Melatoninsekretion vor, sodass vorbehaltlich noch ausstehender Interventionsstudien vermutet werden kann, dass auch diese Kinder und Jugendlichen von abendlichen Melatoningaben profitieren [56,57,58,59,60,61].

Zu folgenden Diagnosen gibt es bisher keine Hinweise zu Störungen der Melatoninsekretion oder zur Wirksamkeit von Melatoningaben bei Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter: Alpträume, Somnambulismus, Restless-Legs-Syndrom (RLS), „SATB2-associated syndrome“, Potocki-Lupski-Syndrom, Down-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom sowie bei Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter. Ucuncu Egeli et al. wiesen jedoch kürzlich nach, dass Säuglingskoliken mit verminderten Melatoninkonzentrationen im Schlaf assoziiert sein können [62]. Da gestillte Säuglinge mütterliches Melatonin aufnehmen und derartige Störungen seltener haben, kann angenommen werden, dass aus Nachtmilch hergestellte Formulanahrung [14] vergleichbare Effekte hat.

Dosierung zur Behandlung von nichtorganischen Schlafstörungen

Sofern eine der oben genannten Indikationen für einen Behandlungsversuch mit einer oralen Melatoninformulierung vorliegt sowie ärztliche Hinweise zur Schlafhygiene und an kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) orientierte Interventionen keinen Effekt hatten, sollte eine möglichst geringe Melatoninmenge (< 1 mg/Dosis für Erwachsene, [63]) gegeben werden. Das heißt, Kinder erhalten je nach Alter und Körpergewicht 0,25–0,5 mg/Dosis eines nichtretardierten Präparats etwa 3–5 h vor dem Zubettgehen. Van Geijlswijk et al. [25] verabreichten in ihrer Dosisfindungsstudie aus dem Jahr 2010 sechs- bis 19-jährigen Kindern und Jugendlichen stufenweise gesteigerte Dosierungen von 0,05–0,25 mg/kgKG (≙ 1,60–4,39 mg/Dosis) im Zeitfenster von 18:00 bis 20:15 Uhr oral. Die Autoren konnten zeigen, dass die geringste verwendete Dosis besser wirksam war, wenn diese mit diesem größerem zeitlichen Abstand vor dem Zubettgehen verabreicht wurde.

Bei Kindern und Jugendlichen mit Smith-Magenis-Syndrom sollte die bei diesem Leiden vorliegende endogene Melatoninausschüttung am Tage zusätzlich durch die morgendliche Gabe eines zugelassenen β‑Blockers gebremst werden, falls diesbezüglich keine Kontraindikationen bestehen.

Effekte des Melatonins können z. T. bereits nach den ersten Gaben oder auch erst nach 2 Wochen gesehen werden [44, 45]. Eine zusätzliche Lichttherapie kann diese Effekte verstärken [45]. Deshalb sollten ärztliche Kontrollen und Dosisanpassungen mit Verminderung oder Erhöhung bis zu 1–3–5 mg/Dosis abends erst nach diesem Zeitraum in Betracht gezogen werden. Eine Behandlungszeit von 4 Wochen scheint zu kurz zu sein. Die abendliche Dosis von 3 mg Melatonin wurde in der Untersuchung von van Maanen et al. (2017) bei 10-jährigen Kindern mit „delayed sleep phase syndrome“ (DSPS) und Insomniebeschwerden als zu hoch eingeschätzt, da diese Dosis mit einer Zunahme nächtlicher Wachperioden verbunden war [32]. Fallserien scheinen darauf hinzuweisen, dass bei Kindern mit Insomnie und Angelman-Syndrom bereits niedrige Melatonindosen von 0,3mg wirksam und ausreichend sind; diese führten zu sehr hohen Melatoninkonzentrationen.

Liegen Hinweise auf positive Melatonineffekte vor, sollte nach 6 Monaten Behandlungsdauer ein Auslassversuch von mindestens 2 Wochen erfolgen. Eine Wash-out-Zeit von einer Woche erscheint zu kurz, um die Effekte externer Melatoningaben zu egalisieren [26].

Nach 6 Monaten Behandlungsdauer sollte ein Auslassversuch von mindestens 2 Wochen erfolgen

Da Daten zu Langzeiteffekten fehlen und Hinweise auf mögliche endokrine Nebenwirkungen u. a. auf den Pubertätseintritt vorliegen, sollte im Kindes- und Jugendalter nicht länger als 6 (bis 12) Monate mit Melatonin behandelt werden. Nach dieser Zeit und einem mindestens zweiwöchigen Auslassversuch sollte die Indikation erneut kritisch geprüft werden.

Der Einfluss von Melatonin auf pubertätsauslösende Hormone ist in Abb. 2 schematisch dargestellt. Innerhalb der Fortpflanzungsfähigkeit scheinen „RFamide-related-peptide-3“(RFRP-3)-Neurone im Hypothalamus eine zentrale Rolle zu spielen. RFamide-related-peptide‑3 ist ein aktueller Begriff für das „gonadotropin-inhibiting hormone“ (GnIH). Die Aktivierung dieser Neurone führt zur Stimulation der präoptischen Region (POA) mit Ausschüttung von „gonadotropin-releasing hormone“ (GnRH) und Stimulation der Hypophyse zur Bildung von Gonadotropinen. Von dort erfolgen Rückkopplungen zu dem erst in den letzten Jahren entdeckten Neuropeptid Kisspeptin, das über eine POA-/GnRH-Stimulation wesentlichen Einfluss auf die Auslösung der Pubertät zu haben scheint. Kisspeptin wird insbesondere im Nucleus arcuatus (ARC) und im anteroventralen periventrikulären Nukleus (AVPV) gebildet. Die beiden Effektoren Vasopressin und das vasoaktive intestinale Peptid (VIP) der Master-Clock, des SCN, wirken hemmend bzw. aktivierend auf die Kisspeptinsynthese im AVPV bzw. auf die RFRP-3-Aktivität. Gleichzeitig stimuliert SCN bei Wegfall des Lichts das Ganglion cervicale superius mit konsekutiver Noradrenalinabgabe an die Zirbeldrüse, in der damit die Melatoninsynthese und -sekretion ausgelöst werden. Melatonin scheint einen direkt supprimierenden Effekt auf die RFRP-3-Neuronen zu haben. Zusätzlich gibt es Hinweise auf indirekte Melatonineffekte auf die Kisspeptinsynthese im ARC, die über metabolische Melatonineffekte und über thyreoidstimulierendes Hormon (TSH) vermittelt werden [64; 65].

Abb. 2
figure 2

Einfluss von Melatonin auf pubertätsauslösende Hormone. Regulationsmodell auf der Grundlage tierexperimenteller Daten zu verschiedenen Spezies. ARC Nucleus arcuatus, AVPV anteroventraler periventrikulärer Nukleus, GnIH „gonadotropin-inhibiting hormone“, GnRH „gonadotropin-releasing hormone“, POA „preoptic area“ (präoptische Region), RFRP‑3 „RFamide-related-peptide-3“, SCN „suprachiasmatic nucleus“ (Nucleus suprachiasmaticus), TSH thyreoidstimulierendes Hormon, VIP vasoaktive intestinale Peptid. Erklärungen s. Text. (Aus Paditz et al. [10]. Mit freundl. Genehmigung, © Prof. E. Paditz, alle Rechte vorbehalten; in Anlehnung an [64; 65])

Da die oben genannte geringe Dosierung derzeit nur über eine individuell zubereitete Rezeptur außerhalb der Zulassung oder über die in Österreich zugelassenen Melatoninpräparate möglich ist, kann in Deutschland alternativ auf das Retardpräparat ab 1 mg Melatonin ausgewichen werden. Für das in Deutschland und Österreich für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung oder Smith-Magenis-Syndrom ab dem 2. bis 18. Lebensjahr zugelassene Retardpräparat mit 1 mg Melatonin wird durch den Hersteller empfohlen, dass die orale Gabe 30–60 min vor dem Schlafen erfolgen sollte. Es sollte berücksichtigt werden, dass diese Tabletten 8,32 mg Laktose/Tbl. enthalten. Die in Österreich zugelassenen Tropfen enthalten 150 mg/ml Propylenglycol. In allen anderen Fällen sollten die Eltern sowie alle Kinder und Jugendlichen im einwilligungsfähigen Alter darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Verordnung außerhalb der Zulassung als Off-Label-Use (OLU) erfolgt und die Frage der Kostenerstattung jeweils individuell mit der zuständigen Kasse abgestimmt werden sollte.

Nebenwirkungen und Komplikationen

Bisher galt Melatonin bis auf leichte Nebenwirkungen wie z. B. gelegentliche Kopfschmerzen als gut verträglich. Kürzlich ist jedoch im zeitlichen Zusammenhang mit Überdosierungen im 1. und 2. Lebensjahr über mehrere Todesfälle berichtet worden [10; 66].

Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit Überdosierungen im 1. und 2. Lebensjahr wurden berichtet

Diese lassen u. a. vermuten, dass in dieser Altersgruppe weitere Abbauwege über den Kynuraminstoffwechsel, die bislang nicht ausreichend untersucht worden sind, eine Rolle spielen [10].

Melatonin hat nicht nur chronobiologische Effekte als schlafförderndes Hormon. Zahlreiche weitere Wirkungen beziehen sich auf immunologische Effekte, auf das hypothalamisch-hypophysär-gonadale System (Abb. 2), auf die Wachstumshormonachse, die Schilddrüse, die Temperaturregulation, kardiale und mesenteriale Gefäßregulationen, den Augeninnendruck, die Synthese von Glukokortikoiden sowie die Beeinflussung von Redoxpotenzialen u. a. [10, 67].

Fazit für die Praxis

  • Melatonin ist ein stark wirksames Hormon, das bei Dunkelheit in der Zirbeldrüse (Glandula pinealis) synthetisiert sowie pulsatil ins Blut und ins Gehirn sezerniert wird.

  • An eine Behandlung mit Melatonin kann beim Vorliegen folgender 4 Bedingungen gedacht werden:

    a) Es existieren Hinweise auf nichtorganische Ein- oder Durchschlafstörungen sowie

    b) in der Anamnese und in der klinisch-neurologischen Untersuchung bestehen keine Auffälligkeiten wie Schwindel, anhaltende oder rezidivierende Kopfschmerzen und Erbrechen, Sehstörungen, Polyurie, Polydipsie u. a., die eine bildgebende Diagnostik (kraniale Magnetresonanztomographie, cMRT) nach sich ziehen sollten sowie

    c) Hinweise zur Schlafhygiene und verhaltenstherapeutische Interventionen hatten keinen Effekt auf die Schlafstörung sowie

    d) es besteht eine Diagnose, zu der Randomized Controlled Trials (RCT) oder Fallberichte bzw. -serien mit Hinweisen auf die Wirksamkeit einer Behandlung mit Melatonin vorliegen.