Die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen (SE) stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Seltene Erkrankungen werden zu über 80 % in der Kinder- und Jugendmedizin symptomatisch; viele manifestieren sich heterogen, multisystemisch und mit chronischem Verlauf. Im durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G‑BA) geförderten Versorgungsprojekt TRANSLATE-NAMSE wurde ein klinischer Versorgungspfad für Patienten mit definierten SE entwickelt und erprobt. Nach konfirmierter Diagnose wurde zeitnah eine krankheitsspezifische multiprofessionelle Versorgung mit Diagnoseeröffnung, Patientenschulung, Information und Beratung etabliert. Dieser Versorgungspfad ermöglicht nun eine qualitätsgesicherte Umsetzung und Dokumentation der Versorgungsschritte sowie die Langzeitbetreuung der Patienten mit meist chronischen SE.

Einleitung

In Deutschland leben ca. 4 Mio. Menschen mit einer seltenen Erkrankung (SE) [6]. SE manifestieren sich zumeist im Kindes- und Jugendalter und fallen damit in den Verantwortungsbereich der Kinder- und Jugendmedizin [18]. Die Diagnostik einer SE stellt eine große Herausforderung dar, da die klinische Präsentation der Krankheitsbilder und der Schweregrad sehr variabel sind. Viele Krankheiten verlaufen chronisch und erfordern daher eine dauerhafte multidisziplinäre Versorgung.

Das Konsortium TRANSLATE-NAMSE (TN) wurde von April 2017 bis zum September 2020 durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) für neue Versorgungsformen in der gesetzlichen Krankenversicherung gefördert [16]. Im TN wurden Maßnahmen zur besseren Versorgung von Menschen mit SE umgesetzt und deren Wirksamkeit evaluiert [5, 7]. Dieses Projekt war in 4 Leistungskomplexe (LK) unterteilt. In den LK 1 und 2 sollte eine interdisziplinäre Diagnosestellung bei Kindern und Erwachsenen ohne klare SE-Diagnose durch ExpertenFootnote 1 in Fallkonferenzen mit Einbeziehung der Exomsequenzierung evaluiert werden. Im LK 4 sollte der strukturierte Übergang von der pädiatrischen Versorgung in die Versorgungsstrukturen der Erwachsenenmedizin (Transition) von jungen Menschen mit SE evaluiert werden. Der LK 3 hatte zum Ziel, einen standardisierten, qualitätsgesicherten klinischen Versorgungspfad zur strukturierten, multidisziplinären Behandlung und Versorgung von Patienten mit definierten SE (sog. Indikatorerkrankungen) zu entwickeln. Unter Berücksichtigung diagnostischer und therapeutischer Leitlinien organisieren klinische Versorgungspfade einzelne Versorgungsschritte und koordinierten die an der Versorgung eines Patienten beteiligten Berufsgruppen [21]. Im Folgenden werden das Pfadmodell für 5 Gruppen definierter Indikatorerkrankungen von der Diagnosebestätigung bis zur Planung und zum Beginn einer multiprofessionellen Versorgung im allgemeinen Ablauf vorgestellt und die Ergebnisse dessen Anwendung berichtet.

Methodik

Patientenrekrutierung

Von Dezember 2017 bis Februar 2020 wurden 611 Personen mit der Verdachtsdiagnose aus einer von 5 Gruppen definierter Indikatorerkrankungen (seltene Anämien, Endokrinopathien, Autoinflammationserkrankungen, primäre Immundefekte und Stoffwechselerkrankungen) an 6 universitären Standorten (Berlin, Dresden, Essen, Heidelberg, Lübeck und München) eingeschlossen. Die Verdachtsdiagnose konnte entweder auf dem klinischen Phänotyp oder den Ergebnissen vorangegangener Laboruntersuchungen, einschließlich einem auffälligen Befund im Neugeborenenscreening, basieren. Für alle Verdachtsdiagnosen wurden in Fallkonferenzen Protokolle zur Konfirmationsdiagnostik festgelegt und durchgeführt.

Entwicklung eines Versorgungspfades

In Abb. 1 ist der Versorgungspfad, der für den vorliegenden Artikel um die Prozessschritte des Studieneinschlusses und der Konfirmationsdiagnostik gekürzt dargestellt wird, als Flussdiagramm gezeigt. Die römischen Zahlen im Text korrespondieren mit den entsprechenden Schritten im Flussdiagramm und der Checkliste (Abb. 2). Der dargestellte Prozess beginnt mit einer Fallkonferenz zur Evaluation der Ergebnisse der Konfirmationsdiagnostik mittels Standarddiagnostik (Pfadelement I) oder ergänzender innovativer Diagnostik mittels „whole exome sequencing“ (WES) (Pfadelement XII).

Abb. 1
figure 1

TRANSLATE-NAMSE-Versorgungspfad von der Diagnose bis zur Behandlung, VDx Verdachtsdiagnose, Dx Diagnose, F+ falsch-positiv, T+ richtig-positiv, WES „whole exome sequencing“

Abb. 2
figure 2

Der klinische Versorgungspfad als Checkliste (römische Zahlzeichen beziehen sich auf die Elemente des Flussdiagramms in Abb. 1). aEine Schleife von Schritt 17 zurück zu Schritt 13 und von dort über die Schritte 14 bis 17 kann in einem Computerprogramm oder in einem zusätzlichen Formblatt abgebildet werden. bEinzelne Maßnahmen können entfallen, z. B. benötigen nicht alle Erkrankungen eine Diätberatung, oder die Patienten/Familien sind bereits gut informiert

Bei Bestätigung der Verdachtsdiagnose (VDx = T+) werden in einer Fallkonferenz die diagnosespezifische Behandlung und multiprofessionelle Versorgung koordiniert (III; XIV). Diese umfassen strukturierte Informationen, Schulungen und Beratungsgespräche der Patienten/Eltern (IV; XV). In einer abschließenden Fallkonferenz werden die diagnosespezifische Behandlung und die multiprofessionelle Versorgung zeitnah evaluiert (VI; XVII). Eine Rückkopplung von Schritt VI bzw. XVII nach Schritt IV bzw. XV sichert die bei chronischen Erkrankungen notwendige Langzeitbehandlung.

Umsetzung des Versorgungspfads in eine Checkliste

In Abb. 2 sind die Schritte des Versorgungspfades aus Abb. 1 in eine Checkliste transformiert und inhaltlich ausformuliert. Auch die Checkliste wurde für den vorliegenden Artikel leicht gekürzt. Die arabischen Nummern der Schritte in der Checkliste entsprechen nicht denen der römischen Zahlzeichen im Flussdiagramm, da die Checkliste zusätzliche Informationen erfasst und detaillierter angelegt ist.

Statistik

Die Patentendaten wurden in den beteiligten Zentren in PDF-Formulare eingetragen, die als CSV-Dateien ausgelesen und zentrumsübergreifend zusammengeführt wurden. Diese wurden in eine SPSS-Datei eingelesen, auf Plausibilität und Richtigkeit geprüft, ggf. korrigiert. Im Vergleich zu bisherigen Projektberichten können sich Fallzahlen daher marginal unterschieden. Zur deskriptiven Auswertung werden Maße der zentralen Tendenz als Mittelwert und Standardabweichung bzw. als Median und Interquartilsabstand (IQA = Messwert Quartil75 − Messwert Quartil25) angegeben. Auf signifikanzstatistische Verfahren wurde verzichtet, da das Versorgungsprojekt dem exemplarischen Aufbau einer neuen ergänzenden Versorgungsstruktur diente und nicht dem Vergleich mit bisher praktiziertem Vorgehen.

Ergebnisse

Beschreibung der Stichprobe

Insgesamt wurden 611 Patienten mit der Verdachtsdiagnose einer Indikatorerkrankung eingeschlossen. Die 24 Fälle mit der Bezeichnung „keine/unplausible Verdachtsdiagnose“ wurden in der weiteren Analyse nicht berücksichtigt, da keine weiteren Dateneinträge vorlagen. Die verbleibenden 587 Fälle wurden zunächst einer Standarddiagnostik zugeführt (Abb. 3). Darin enthalten waren 191 Fälle, die anschließend eine innovative genetische Diagnostik erhielten. Eine detaillierte numerische Aufschlüsselung nach Indikatorkrankheiten findet sich in Tab. 1. Aufgrund fehlender Daten für einzelne Variablen unterscheiden sich die Fallzahlen teilweise geringfügig.

Abb. 3
figure 3

Stichprobe, diagnostische Methoden und diagnostische Ergebnisse in TRANSLATE-NAMSE. F+ falsch-positiv, VDx Verdachtsdiagnose, Dx Diagnose

Tab. 1 Diagnostikergebnis (aufgeteilt nach Indikatorerkrankungen)

Angaben zum Geschlecht in der Stichprobe wurden wie folgt angegeben: 51,3 % weiblich, 46,0 % männlich, 2,0 % ohne Angabe (bei Störungen der sexuellen Differenzierung), für 4 Fälle lagen keine Daten vor.

Von den 587 Fällen mit einer Verdachtsdiagnose konnten für 369 (62,9 %) spezifische Diagnosen gestellt werden, davon 276 (74,8 %) mit standarddiagnostischen Verfahren und 93 (25,2 %) mit innovativer Diagnostik. Einschließlich der 104 als falsch-positiv aufgeklärten Fälle ergab sich eine Diagnostikrate von 80,6 %. Bei den falsch-positiven Fällen handelt es sich um Personen, bei denen nach Abschluss der Diagnostik sowohl die Verdachtsdiagnose ausgeschlossen wurde als auch kein Hinweis auf eine andere Erkrankung bestand. Die 369 Patienten, bei denen eine Diagnose gestellt werden konnte, waren im Mittel 9,21 Jahre (SD = ±11,61) alt. Bei Patienten mit Verdachtsdiagnosen endokrinologischer oder metabolischer Erkrankungen wurde der größte Teil der Verdachtsdiagnosen mittels Standarddiagnostik konfirmiert (69,6 % bzw. 30,4 %). Hingegen wurden 63,2 % der Verdachtsdiagnosen bei Patienten mit primären Immundefekten, 30,3 % mit Autoinflammationserkrankungen und 41,7 % mit Anämien mittels innovativer Diagnostik konfirmiert (Tab. 1). Nach Standarddiagnostik konnte die Verdachtsdiagnose für 104 (17,7 %) Fälle als falsch-positiv verworfen werden. Trotz Durchführung innovativer genetischer Diagnostik blieb die Diagnose bei 23,0 % der Fälle mit der Verdachtsdiagnose Autoinflammationserkrankungen und bei 32,1 % mit der Verdachtsdiagnose primärer Immundefekt ungeklärt (Tab. 1).

Dauer vom Abschluss der Diagnostik bis zur Diagnosemitteilung bzw. zum Beginn der multiprofessionellen Versorgung

Die Prozesszeit vom Abschluss der Konfirmationsdiagnostik bis zur Diagnosemitteilung betrug im Gesamtkollektiv vorhandener Daten (n = 544) im Median 0 Tage IQA = 4, für konfirmierte Diagnosen (n = 384) im Median 0 Tage IQA = 5,5, für ungeklärte Diagnosen (n = 92) im Median 0 Tage, IQA = 15,0, und für falsch-positive Befunde (n = 103) im Median 0 Tage, IQA = 0,0 (Tab. 1 und 2).

Tab. 2 Multiprofessionelle Versorgung Diagnose gestellt (spezifische Indikatordiagnose oder andere Diagnose)

Wesentlicher Bestandteil des Versorgungspfades waren Fallkonferenzen. Diese waren zur Planung der multiprofessionellen Versorgung nach konfirmierter Diagnose in der überwiegenden Mehrzahl interdisziplinär und bestanden im Median aus 4 Teilnehmern (IQA = 1). Neben dem betreuenden Arzt und einem Koordinator der Fallkonferenz bzw. des Versorgungsprozesses waren Experten weiterer pädiatrischer Fachgebiete, Humangenetiker, Diätberater, Psychologen und Sozialarbeiter an der multiprofessionellen Betreuung beteiligt. Da die Zusammensetzung krankheitsspezifisch war, variierte die Anzahl der Teilnehmer bei den unterschiedlichen Verdachtsdiagnosen.

Die multiprofessionelle Versorgung der Patienten und ihrer Familien nach erfolgter Diagnosestellung begann mit einem ausführlichen Diagnoseeröffnungsgespräch, welches in 94,3 % der Fälle durchgeführt wurde (Tab. 2). Zusätzlich erfolgten krankheitsspezifische Schulungen hinsichtlich Diät/Ernährung, Medikamenten, Impfungen, Verhalten und Monitoring, Beratungsangeboten zu psychologischen, sozialrechtlichen und humangenetischen Fragen sowie Informationen zu krankheitsspezifischer Begleitforschung und Selbsthilfegruppen. Schulungen und Beratungen wurden nur dann durchgeführt, wenn dies erwünscht bzw. erforderlich war. Diagnoseabhängig ergab sich ein unterschiedlicher Schulungsbedarf; auch konnte eine spezifische Schulung entfallen, wenn entsprechendes Wissen oder Fähigkeiten bereits vorhanden waren. Insgesamt wurde bei 12,7 % aller Patienten eine Schulung zur Diät/Ernährung durchgeführt, aber bei 63 % der Patienten mit einer Stoffwechselerkrankung. Da nicht jede Erkrankung zwangsläufig einer medikamentösen Therapie bedurfte, wurden entsprechende Medikamentenschulungen bei 58,8 % der Patienten durchgeführt, am häufigsten bei Patienten mit konfirmierter Diagnose einer Autoinflammationserkrankung (73,2 %), am seltensten bei Patienten mit einer Stoffwechselerkrankung (19,6 %). Etwa zwei Drittel der Patienten (65,6 %) erhielten Schulungen zu Verhaltensmaßnahmen, wobei sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Indikatorkrankheiten zeigten. Schulungen zum Krankheitsmonitoring wurden bei 58,3 % der Patienten durchgeführt. Im Rahmen der multiprofessionellen Betreuung erhielten die Familien Angebote zu psychologischen, sozialrechtlichen und humangenetischen Beratungen, die unterschiedlich genutzt wurden. Psychologische Beratung erfolgte bei 39 % der Patienten. Sozialrechtliche Beratungen wurden insgesamt in 27,1 % aller Fälle durchgeführt. Da nicht jede Erkrankung durch eine genetische Analyse bestätigt wurde, erfolgte lediglich bei einem Viertel der Patienten (24,9 %) eine humangenetische Beratung. Bei lebensgefährlichen Entgleisungen der Erkrankung war die Ausstellung eines Notfallausweises zwingend erforderlich und erfolgte bei 13,6 % der Patienten, darunter waren 47,8 % mit einer Stoffwechselerkrankung, 16,7 % mit Anämien und 14,5 % mit primären Immundefekten. Informationen zur erkrankungsspezifischen Begleitforschung wurden 35,2 % der Patienten vermittelt, und 40,7 % der Patienten wurden über die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem erkrankungsspezifischen Register informiert.

Über erkrankungsspezifische Selbsthilfegruppen, die nicht für alle spezifischen Diagnosen existierten, wurden 36,3 % aller Patienten und über die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e. V) [1] als Dachverband von und für Menschen mit chronischen seltenen Erkrankungen 65,6 % der Patienten informiert. Blieb die Diagnose ungeklärt, wurden Patienten und ihre Familie ebenfalls über das Ergebnis aufgeklärt und in eine Versorgungseinheit zur symptomatischen Behandlung überweisen.

Für 344 von 369 (93,2 %) Fällen mit gestellter Diagnose und 102 von 105 (97,1 %) Fällen mit ungeklärter Diagnose lagen Informationen über die weiterbehandelnde Versorgungsstruktur vor. Die Rangordnung der Überweisungen an weiterbehandelnde Versorgungsstrukturen war für beide Diagnostikgruppen (Diagnose gestellt/Diagnose bleibt unklar) gleich: erkrankungsspezifische Ambulanz (48,0 %/49,5 %), eigenes Zentrum für seltene Erkrankungen (39,3 %/25,7 %), Facharzt (4,3 %/19,5 %), andere Fachambulanz (1,1 %/1,9 %), Hausarzt/Kinderarzt (0,5 %/1,0 %). Patienten mit unklarer Diagnose wurden anteilsmäßig jedoch deutlich häufiger zum Facharzt und deutlich seltener ins eigene ZSE überwiesen.

Patientenzufriedenheit

Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation von TRANSLATE-NAMSE durch das Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (ZEGV) am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden (UKD) [8] erhielten die Patienten nach Durchlaufen des Pfades für LK 3 einen Fragebogen zu dessen Beurteilung. Insgesamt 56 rücklaufende Fragebogen konnten der hier beschriebenen Kohorte zugeordnet werden. Die Betreuung im hier vorstellten Teilprojekt auf einer Schulnotenskala von 1 (sehr gut) bis 5 (mangelhaft) wurde von diesen im Median mit der Note 2, IQA = 0,25, bewertet.

Diskussion

Nach aktuellem Kenntnisstand wurde im Versorgungsprojekt TN erstmalig überregional ein Versorgungsmodell für definierte Gruppen von Verdachtsdiagnosen aus dem Spektrum SE angewendet. Ein elementarer Bestandteil dieses Pfades sind interdisziplinäre Fallkonferenzen zur Organisation der multiprofessionellen Patientenversorgung. Die Etablierung eines generischen Versorgungspfads für Patienten mit SE erscheint insbesondere deshalb notwendig, da nicht für alle SE Leitlinien/Empfehlungen existieren und deren Entwicklung bei „ultraseltenen“ Erkrankungen nicht zu erwarten ist [23]. Das hier vorgestellte Modell ist generisch, beinhaltet aber zugleich Elemente erprobter Versorgungspfade und ermöglicht die Implementierung existierender krankheitsspezifischer Leitlinien [2, 11, 13]. Das allgemeine Flussdiagramm und die detaillierte Checkliste machen die multiprofessionelle Versorgung für Behandler, Therapeuten, Patienten, Familien und Kostenträger transparent und nachvollziehbar [3]. Seit 2017 formieren sich auf europäischer Ebene Referenznetzwerke (ERN) zur besseren Versorgung von Patienten mit SE [4], in denen zeitlich parallel sowohl krankheitsspezifische [14, 19] als auch generische Versorgungspfade [10] entwickelt werden.

Bei 369 von 587 (62,9 %) Patienten mit einer ausgewählten Verdachtsdiagnose konnten Diagnosen, in der Mehrzahl mittels Standarddiagnostik, konfirmiert werden [2]. Bei einem Viertel der Patienten konnte die Diagnose nur mittels innovativer genetischer Diagnostik gestellt werden. Hierbei entfiel der größte Teil auf Patienten mit der Verdachtsdiagnose primärer Immundefekt (63 %), Autoinflammationserkrankungen (30 %) und Anämien (41 %). Mittels des hier beschriebenen Pfades waren die Diagnoseraten höher als aktuell in der Literatur angegeben [9, 24].

In der Anwendung auf 587 Patienten konnte im Median die Versorgung bereits am Tag des diagnostischen Ergebnisses beginnen und zwar unabhängig davon, ob die Diagnose konfirmiert, verworfen oder ungeklärt blieb. Für die gesamte Stichprobe betrug der Interquartilsabstand 4 Tage, d. h., in 75 % aller Fälle startete die Versorgung mit der Diagnoseeröffnung spätestens am Tage 4 nach Diagnose. Liegt das Ergebnis der Diagnostik vor, ist der erste Schritt das Diagnoseeröffnungsgespräch durch den behandelnden Arzt. Auch im Falle einer ungeklärten Diagnose sollten Patienten und ihre Familie aufgeklärt werden, warum dies der Fall ist, was im weiteren Verlauf getan werden kann, was zur Vermeidung nichterfolgversprechender Schritte unterbleiben sollte und wie und wo eine symptomatische Behandlung erfolgen kann [20].

Im Median hatten die interdisziplinären Fallkonferenzen zur Organisation der multiprofessionellen Versorgung 4 Teilnehmer (IQA = 1), darunter ein Koordinator, der als Case-Manager fungierte, d. h. Termine koordinierte, zentraler Ansprechpartner für Ärzte, Therapeuten und Patienten war sowie anhand der Checklisten den Stand der Versorgung dokumentierte, auf Vollständigkeit prüfte und damit entscheidend die Versorgung optimierte [12].

Multiprofessionelle Versorgung ist diagnosespezifisch zu organisieren. Am häufigsten wurden im Projekt TRANSLATE-NAMSE Schulungen zu Medikamenten, zur krankheitsspezifischen Verhaltensmaßnahmen sowie zum Therapiemonitoring durchgeführt, mit dem Ziel der Förderung der Patientenkompetenz. Es ist bekannt, dass aufgeklärte und mündige Patienten und Familien ein hohes Maß an Erfahrung und Zufriedenheit haben und damit nicht nur zu einer verbesserten Qualität der medizinischen Versorgung beitragen, sondern auch eine bessere Lebensqualität erfahren [17]. Dies ist wiederum ein positiver Vorhersagewert hinsichtlich des Langzeitüberlebens [22]. In einer ersten externen Evaluation des Versorgungspfades zeigte sich in einer allerdings noch recht kleinen Stichprobe von 56 Beurteilungen eine hohe Patientenzufriedenheit.

Eine Finanzierung des vorgestellten Versorgungsmodells als Regelleistung wird angestrebt. Dafür hat der G‑BA 2019 Zentrumskriterien definiert, die ermöglichen sollen, die Vorhaltekosten für die Dachstruktur der Zentren für seltene Erkrankungen, sog. A‑Zentren nach NAMSE, zu finanzieren [15]. Die Finanzierung der WES-Diagnostik als wesentlicher Bestandteil der innovativen Diagnostik wird derzeit mit den Kostenträgern verhandelt. Eine auskömmliche Finanzierung der Schulungen und Beratungen ist ebenso unverzichtbar wie die des Koordinators der Fallkonferenzen.

Zusammenfassung

Im Rahmen des Versorgungsprojektes TN wurde ein Versorgungspfad entwickelt, der an 587 Patienten aus 5 Gruppen definierter Indikatorerkrankungen im Kindes- und Jugendalter erfolgreich erprobt wurde. In diesem vorselektierten Kollektiv lag die Rate bestätigter Diagnosen an spezialisierten Zentren einschließlich der als falsch-positiv klassifizierten Ergebnisse bei 80,9 %. Zentrales Element des Versorgungspfades war die strukturierte Fallführung mittels interdisziplinärer Fallkonferenzen, in denen Expertenwissen gebündelt und die multiprofessionelle Versorgung mithilfe eines Koordinators eingeleitet wurde. Kontakte zu erkrankungsspezifischen Selbsthilfegruppen und zur ACHSE e. V. wurden systematisch vermittelt. In einer ersten externen Evaluation des Versorgungspfades zeigte sich eine hohe Patientenzufriedenheit. Die noch bestehenden Finanzierungslücken in der Regelversorgung von Patienten mit SE sind dringend zu schließen, um eine kostendeckende Anwendung des vorgestellten Versorgungspfades zu ermöglichen.

Fazit für die Praxis

  • Seltene Erkrankungen manifestieren sich heterogen, multisystemisch und mit chronischem Verlauf häufig im Kindes- und Jugendalter.

  • Für die effiziente Versorgung sind strukturierte Versorgungspfade zu Diagnostik und multiprofessioneller Versorgung unerlässlich.

  • Im Versorgungsprojekt TRANSLATE-NAMSE wurde ein generischer Versorgungspfad für ausgewählte Erkrankungsgruppen entwickelt und erfolgreich erprobt.

  • Bei 62,9 % der rekrutierten Patienten mit einer ausgewählten Verdachtsdiagnose konnte eine seltene Erkrankung konfirmiert werden.

  • An interdisziplinären Fallkonferenzen nahmen im Median 4 Teilnehmer teil, wobei ein Koordinator die multidisziplinäre Versorgung strukturierte.

  • Nach ausführlicher und zeitnaher Diagnoseeröffnung wurden Schulungen und Beratungen entsprechend den krankheitsspezifischen Erfordernissen durchgeführt.

  • Informationen zur Patientenselbsthilfe wurden vermittelt.

  • Durch diese Versorgung konnte eine sehr hohe Zufriedenheit der Sorgeberechtigten erreicht werden.

  • Eine Verstetigung und flächendeckende Verfügbarkeit dieses Versorgungspfads in der Regelversorgung ist nur durch eine auskömmliche Finanzierung an Zentren für seltene Erkrankungen erfolgreich umzusetzen.