Zur Eindämmung der Pandemie, die durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) ausgelöst wurde, erfolgten in vielen Ländern sehr einschränkende Hygienemaßnahmen. Aus Westaustralien wurde nun berichtet, dass nach Aufhebung dieser Maßnahmen ein ungewöhnlich starker Ausbruch von Infektionen mit dem respiratorischen Synzytialvirus (RSV) erstaunlicherweise im Sommer und bei wesentlich älteren Kindern als gewohnt zu verzeichnen war. Welche Lehren sollten aus dieser Beobachtung für in Deutschland lebende Kinder gezogen werden?

Die Meldezahlen für fast alle vom Robert Koch-Institut in der Arbeitsgemeinschaft Influenza erfassten respiratorischen Erreger sind seit dem März 2020 deutlich gesunken. Dies gilt auch für die meldepflichtige Influenza. Die Zahlen der in den Praxen niedergelassener Kinderärzte und in den Kinderkrankenhäusern behandelten Kinder und Jugendlichen mit Atemwegserkrankungen sind deutlich gesunken. Als Interpretation wurden zunächst Meldeartefakte angeführt, bald wurde jedoch klar, dass es sich tatsächlich um einen massiven Rückgang der Atemwegsinfektionen handelte (https://influenza.rki.de/Diagrams.aspx?agiRegion=0). So wurde die Bronchiolitis als typische Manifestation der Infektion des jungen Säuglings mit dem RSV im vergangenen Winter 2020/2021 kaum noch beobachtet [1]. Als vermutliche Ursache ergab sich die breite und z. T. weltweite Implementierung von Hygienemaßnahmen mit Abstandswahrung, Tragen von Atemschutzmasken, Beachtung von Husten- und Niesetikette, häufigem Händewaschen oder Händedesinfektion sowie Lüften von Gemeinschaftseinrichtungen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie seit etwa März 2020 [7]. Was als teilweise erfolgreiche Expositionsprophylaxe gegenüber dem „severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-CoV-2) gedacht war, erwies sich als sehr effiziente Expositionsprophylaxe gegenüber fast allen respiratorischen Erregern mit Ausnahme der Rhinoviren [5].

Die beiden wichtigsten Atemwegsviren der Vor-COVID-19-Ära, das Influenza-Virus und das RSV, treten saisonal auf; die Saisons beginnen in Deutschland i. Allg. im November, enden im April und sind nicht völlig kongruent. Die Charakteristika der Saisons hängen stark vom Breitengrad ab und sind bei jährlichen Abweichungen, gut vorhersagbar, in den gemäßigten Zonen der Nord- und Südhalbkugel an den jeweiligen Winter gebunden [4]. Auch intersaisonal können Infektionen auftreten, die sich aber nicht stark ausbreiten und z. B. durch Reisende eingeschleppt werden [2]. Eine scheinbare Zunahme intersaisonal auftretender Influenza war begleitet von einer ähnlich starken Zunahme der in der winterlichen Saison gemeldeten Fälle [6]. Variationen sind möglich, bei RSV auch abhängig davon, ob der RSV-Typ A oder B vorherrschend ist. So wurde ein kleiner Ausbruch von Bronchiolitis im Sommer in Minnesota auf einen neuen stärker pathogenen Typ B zurückgeführt, der in der nachfolgenden Wintersaison zum dominierenden Typ mit erhöhter Fallzahl wurde [8].

Eine vergleichbare Situation mit Unterbrechung der weltweiten Zirkulation dieser respiratorischen Viren ist bisher nicht berichtet worden. Deshalb ist auch schwer vorhersagbar, wie sich die Auseinandersetzung mit diesen Viren weiterentwickeln wird, wenn die einschneidenden Hygienemaßnahmen gelockert oder aufgehoben werden. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Viren verschwunden sind; vielmehr ist anzunehmen, dass sie wieder auftauchen werden, wenn die hygienischen Eindämmungsmaßnahmen aufgehoben werden. Mit dem Voranschreiten der Impfkampagnen in Europa ist mit einer allgemeinen Lockerung im Sommer zu rechnen. Dann wird ein Jahrgang von Kindern exponiert sein, die sich mit diesen Erregern, einschließlich dem RSV, noch nicht auseinander gesetzt haben, sodass es zur Verlagerung der primären Infektion und Erkrankung in ein höheres Alter kommen kann. Es könnten zudem in allen Altersstufen der Bevölkerung mehr Fälle auftreten, durch Minderung der Immunität mangels natürlicher Boosterung und dadurch, dass die zur Infektion notwendige Erregerdosis vermindert ist. Diese Faktoren könnten außerdem zu schweren klinischen Verläufen führen, mit erhöhter Notwendigkeit für eine Intensivtherapie und Beatmung. Völlig offen ist des Weiteren, ob, und wenn ja in welcher Form, der Ausfall von viralen Atemwegsinfektionen und Erkrankungen die Prävalenz allergischer Erkrankungen beeinflussen wird.

Aus dem abgelegenen und leicht zu isolierenden Gebiet Westaustralien ist folgende Situation beschrieben worden [3]: Nach Lockerung der Hygienemaßnahmen erfolgte im australischen Sommer ein RSV-Ausbruch; die Fallzahl überstieg den Median vorgehender Saisons der Jahre 2012–2019 bei Weitem, und das Alter der betroffenen Kinder war mit 18,4 Monaten signifikant höher als der obere Altersbereich in den vergangenen Saisons. Was hier für RSV exemplarisch beschrieben wurde, kann auch für andere respiratorische Viren wie Influenza zutreffen, mit der Möglichkeit von Ausbrüchen im bevorstehenden Sommer.

Welche präventiven Maßnahmen wären möglich?

Es ist nicht vorstellbar, den gesamtgesellschaftlichen Lockdown unbegrenzt fortzuführen. Selbst wenn dadurch die Übertragung von RSV auf Neugeborene verhindert werden könnte, ist nicht zu erwarten, dass Eltern weiterhin sich selbst und ihre Kinder den einschränkenden Hygienemaßnahmen unterwerfen. Allerdings zeigen die Daten, dass die nosokomiale Übertragung in medizinischen Einrichtungen mit den Maßnahmen verhinderbar ist. In Abwesenheit kurativer Optionen kommt Impfungen eine besondere Bedeutung zu. Für Influenza sind jährlich wechselnde aktive Impfungen vorhanden, für das RSV eine passive Impfung für Säuglinge. Die Influenza-Impfung erfolgt 4‑valent jährlich kurz vor Beginn der Saison, also etwa zwischen Oktober und Dezember. Eine Impfung exponierter Personen in diesem Sommer bei einem intersaisonalen Ausbruch ist allerdings nicht möglich, da der Impfstoff weiterhin in einem komplizierten Verfahren jeweils etwa 9 Monate vorher in Auftrag gegeben und hergestellt werden muss. Der nächste zur Verfügung stehende Impfstoff gegen Influenza wird im Herbst für die Saison 2021/2022 bereitstehen.

Die Verwendung des passiven Impfstoffs Palivizumab gegen das RSV erfolgt bei Frühgeborenen und kranken Neugeborenen nach der AWMF-Leitlinie 048-012 (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/048-012.html). Kernaussage 8 besagt, dass der Impfstoff bei klar beschriebenen ausgewählten Patienten während der RSV-Saison in 4‑Wochen-Intervallen i.m. appliziert werden soll. Der Beginn der Saison wird anhand der Sentinel-Untersuchungen festgestellt. Neben Untersuchungen mithilfe von „multiplex polymerase chain reaction“ (Multiplex-PCR) und Schnelltesten bei vorgestellten Kindern mit Atemwegsinfektionen sind regionale und nationale Surveillance-Systeme beim Robert Koch-Institut und in einzelnen Landesgesundheitsämtern vorhanden. Entsprechend könnte der Impfstoff bei Beginn einer intersaisonalen Epidemie auch im Sommer appliziert werden. Allerdings heißt es in der Kernaussage 13 der Leitlinie, dass der Beginn frühestens Anfang November liegen soll.

Daraus ergibt sich, dass eine Gabe der Immunprophylaxe gegen RSV auch bei einem intersaisonalen Ausbruch z. B. in diesem Sommer sinnvoll sein kann, aber von der Leitlinie nur teilweise gedeckt ist. Deshalb bedarf es vermutlich Verhandlungen mit den Krankenkassen, wenn man den betroffenen Säuglingen und ihren Familien diese Option eröffnen möchte.

Fazit für die Praxis

  • Die zur Eindämmung der Coronapandemie ergriffenen Maßnahmen haben sehr effizient auch andere respiratorische Infektionen bei Kindern verhindert. Somit besteht jetzt die Gefahr, dass diese Infektionen außerhalb des normalen Zyklus auftreten und möglicherweise auch schwerere Verläufe als bisher mit sich bringen, da die Immunitätslage gegenüber diesen Erregern reduziert ist.

  • Kinderärzte und Allgemeinmediziner müssen bei entsprechender Symptomatik auch im Sommer an diese Erreger denken und ggf. die notwendige Diagnostik veranlassen.

  • Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) sollte rasch über die Erstattung von Palivizumab bei besonders gefährdeten Säuglingen analog zur AWMF-Leitlinie 048-012 entscheiden, falls sich diese Situation in Deutschland ergeben sollte.