Aspergers Prägung durch den Bund Neuland

Hans Asperger (1906–1980) stammte aus dem Wiener kleinbürgerlichen Milieu; die Familie hatte Wurzeln im Weinviertel. Den Vater, von Beruf Buchhalter, schilderte er als streng und ehrgeizig, die Mutter als liebevoll bis zur Selbstentäußerung.Footnote 1 Der 1910 geborene Bruder Karl, dem der Ältere sehr zugetan war, sollte 1942 in Russland fallen. Aspergers Jugendzeit war geprägt von seiner Leidenschaft für das Lesen, aber noch viel mehr vom „Bund Neuland“, einem Flügel der österreichischen katholischen Jugendbewegung. Diesen hatten die charismatischen Priester Michael Pfliegler (1891–1972), der spätere Professor für Pastoraltheologie an der Universität Wien, und Karl Rudolf (1886–1964), der spätere Gründer und Leiter des Seelsorgeinstituts der Erzdiözese Wien, ins Leben gerufen und bestimmten ihn zwischen 1921 und 1938 geistlich [64, 65]. Asperger hat diese Prägung wiederholt betont, besonders ausführlich in seinem 1974 im Radio ausgestrahlten Lebensrückblick: „das entscheidende Erlebnis meiner Jugend, meines Lebens überhaupt“.

Einige Sätze zum Bund Neuland sollen hier formuliert sein, weil er in rezenten Publikationen als Brutstätte späteren nationalsozialistischen Gedankenguts angeprangert wird [23, 24, bes. S. 5–7, 58, S. 234f.].Footnote 2 Zahlenmäßig blieb der Bund Neuland mit maximal 2000 Mitgliedern klein; seine Verankerung in Wien und in einigen Landeshauptstädten im Milieu der Gymnasien und der Hochschulen verschafften ihm jedoch erheblichen Einfluss. Prominente Persönlichkeiten der Zweiten Republik wurden wie Asperger durch ihn geprägt, so etwa die Politiker der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und ehemaligen KZ-Häftlinge Felix Hurdes (1901–1974) und Lois Weinberger (1902–1961), der Salzburger Landeshauptmann Hans Lechner (1913–1994), der steirische Kulturpolitiker Hanns Koren (1906–1985), der Wiener Domprediger und Künstlerpriester Otto Mauer (1907–1973) sowie die Maler Max Weiler (1910–2001) und Rudolf Szyszkowitz (1905–1976) [13, S. 17–37, 14, 18, S. 76, 27, S. 34–46, 39, 45, S. 143–171, 62, 66]).

Der Grundzug der Überzeugungen und Werte stammte aus dem katholischen Christentum mit kirchlicher Bindung; die intensiv gepflegte Frömmigkeit orientierte sich an der liturgischen Bewegung. Prinzipiell waren Jungen und Mädchen, Männer und Frauen in ihm gleichberechtigt, und alle Großveranstaltungen waren immer von beiden Geschlechtern bestimmt. Das Verhältnis zur „Amtskirche“ war nicht friktionsfrei, ab den frühen 1930er-Jahren phasenweise gespannt. Dies ging so weit, dass im Frühjahr 1936 der Bund Neuland auf Weisung des Vatikans durch den Wiener Erzbischof, Kardinal Theodor Innitzer, wegen angeblicher protestantischer Tendenzen und Ungehorsam gegenüber der Hierarchie verboten wurde. Er konnte erst Monate später nach Reorganisation und Besserungsversprechen wieder als kirchliche Organisation erstehen.

Das eigentlich „Bündische“ orientierte sich an den Werten der deutschen Jugendbewegung: Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, einfaches Leben, Musik, besonders Singen, Tanz, Theaterspiel, Liebe zur Natur, zum Wandern, zum Bauerntum. „Auf Fahrt gehen“ war für Jungen und Mädchen ein fester Programmpunkt. Mit dieser Lebensform war die Kritik an überkommenen Traditionen und an bürgerlichen Verhaltensnormen verbunden. Jugendliche Traumvorstellungen vom „Reich“ als einem christlich geprägten Reich eines idealen Mittelalters spielten eine erhebliche Rolle. In ihren politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen blieben seine Mitglieder nichtsdestoweniger ihren bürgerlichen und konservativen Wurzeln verhaftet: Vorbehalte gegenüber dem Parteienstaat, Ablehnung des Sozialdemokratischen, besonders im durch und durch sozialdemokratisch dominierten Wien, Kritik an der Moderne, auch großdeutsche Ideen, wurden von den meisten Mitgliedern geteilt. Der ab der Mitte der 1930er-Jahre erhobene Vorwurf, der Bund Neuland sei von den Nazis infiltriert worden und habe dem NS-Gedankengut in Österreich Vorschub geleistet, kam auch vom Cartell-Verband (CV), der in Konkurrenz zu dieser anderen kirchlich-bürgerlichen Elite wirkte. Ohne Zweifel standen einzelne Personen oder schmale Segmente des Bund Neuland dem NS-Gedankengut nahe, aber sicher nicht die überwiegende Mehrheit. Nach dem März 1938 gaben einzelne Mitglieder des Bund Neuland den Verlockungen des NS-Regimes aus unterschiedlichen Motiven nach. Ein krasses Beispiel ist der Bundesführer Anton Böhm (1904–1998), der im Mai 1938, kurz nach dem „Anschluss“, einen Aufnahmeantrag in die NSDAP stellte und sich später damit rechtfertigte, dass er geglaubt und gehofft habe, dabei zu helfen, das NS-Regime von innen her zu reformieren und zu einem besseren Verhältnis zur katholischen Kirche zu bringen [40, S. 182 f.].

Aspergers Prägung durch den Bund Neuland erfolgte jedoch bereits in den 1920er-Jahren, besonders durch die Untergruppe der „Fahrenden Scholaren“ unter der Führerschaft des späteren langjährigen Pfarrers von Wien-St. Rochus, Erwin Hesse (1907–1992), wie dies Asperger in einem Rückblick aus dem Jahr 1934 unterstrich [2].Footnote 3 In diesen Jahren verfestigte sich seine Neigung zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen; er wurde in der „pädagogischen Provinz“ heimisch, worauf er oft mit diesem Zitat aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, den er sehr liebte, hinwies.Footnote 4

Erste Etappen des beruflichen Werdegangs

Das aus Neigung gewählte Studium der Medizin absolvierte Asperger rasch und mit hervorragenden Prüfungsergebnissen. Im Jahr 1931 wurde er promoviert. Für seinen weiteren Lebensweg entscheidend wurde das Rigorosum in der Kinderheilkunde bei Franz Hamburger (1874–1954), der von dem jungen Absolventen so beeindruckt war, dass er ihn noch im selben Jahr an seiner Klinik anstellte. Obwohl sie sich von ihrer Herkunft und ihrer Weltanschauung her stark unterschieden, entwickelte Hamburger rasch ein Vertrauensverhältnis zu Asperger, das sich in langen fachlichen und auch persönlichen Gesprächen sowie in gegenseitigem Respekt vor ihren Überzeugungen äußerte. Hamburger entstammte einer Industriellenfamilie aus dem südlichen Niederösterreich, war evangelisch, schlagender Corpsstudent, prononciert deutsch-national und seit 1934 Mitglied der illegalen NSDAP. Eine zügig verlaufende akademische Karriere hatte ihn 1916 auf das Ordinariat für Pädiatrie an der Universität Graz gebracht, und 1930 war er nach dem tragischen Tod seines Vorgängers Clemens von Pirquet (1874–1929) als 56-Jähriger nach Wien berufen worden [38, bes. S. 80ff]. Unter den ÄrztInnen der Kinderklinik, die zunehmend nach ihrer NS-Gesinnung ausgewählt und eingesetzt wurden, war Asperger mit dem Wohlwollen und der Förderung des wie alle Ordinarien der damaligen Zeit absolut herrschenden Hamburger so etwas wie der bunte Vogel. Hamburger bevorzugte ihn gegenüber den anderen Assistenten; er war „ihm menschlich am ähnlichsten und stand ihm am nächsten“.Footnote 5

Sehr bald, im Herbst 1932, wurde Asperger der heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik zugewiesen, jener von Pirquet gemeinsam mit deren erstem Leiter Erwin Lazar (1877–1932) schon vor dem Ersten Weltkrieg gegründeten Einrichtung, die der Erforschung und Behandlung psychischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen dienen sollte und im Laufe der Jahre weltberühmt wurde [16, S. 767–806, zu Asperger 777–793, 59, S. 95–150]. Durch die Begutachtung Tausender Kinder entwickelte Lazar die Fähigkeit, allein durch Beobachtung milieubedingte und anlagebedingte Faktoren bei der Entstehung abnormer Verhaltensweisen zu erkennen, in deren Tradition sich dann Asperger stellte [17].Footnote 6 Nach Lazars Tod übertrug Hamburger 1932 die Leitung der heilpädagogischen Abteilung an Valerie Bruck (1894–1961), die dort seit 1923 zumeist unbesoldet gearbeitet hatte [48, S. 221].

Die St.-Lukas-Gilde

Asperger und Bruck gehörten der St.-Lukas-Gilde, einer Vereinigung katholischer ÄrztInnen, als Gründungsmitglieder an. Die Gilde war nach dem Muster bestehender Gesellschaften in vielen europäischen und überseeischen Ländern im Januar 1932 in Wien gegründet worden – Karl Rudolf, einer der Inspiratoren des Bund Neuland, wurde vom Wiener Erzbischof und Kardinal Friedrich Gustav Piffl (1864–1932) zum geistlichen Konsulenten bestellt – und hielt Ende April 1932 die konstituierende Vollversammlung ab, bei der Asperger zum Kassier gewählt wurde [48, S. 107]. In den folgenden Jahren entfaltete die Gilde eine gewisse Vortragstätigkeit und gab ab Januar 1933 die Vierteljahresschrift St. Lukas. Mitteilungen der österr. St.-Lukas-Gilde heraus. Die Mitgliederzahlen waren immer schwach, kreisten jahrelang um die 30, und erreichten ihren Höchststand mit 82 im Herbst 1935.

Ein Höhepunkt der Vereinstätigkeit war die Ausrichtung des II. „Internationalen Kongresses katholischer Ärzte“ in Wien vom 29. Mai bis zum 2. Juni 1936, an dem über 500 Personen aus zahlreichen Ländern teilnahmen. Auf Wunsch von Papst Pius XI. wurde das Hauptthema „Eugenik und Sterilisierung“ auf die Tagesordnung gesetzt. Die Aussagen waren eindeutig und entsprachen dessen Enzyklika „Casti connubii“ vom 31. Dezember 1930: Ablehnung der staatlich verordneten Zwangssterilisation und der nationalsozialistischen Ideologie von Rassenhygiene. Sie untersagte strikt, die Unversehrtheit des Leibes von Unschuldigen weder aus eugenischen noch aus irgendwelchen Gründen anzutasten.

Nach dem „Anschluss“ setzte sofort die Verfolgung von prominenteren Mitgliedern der St.-Lukas-Gilde ein, wofür exemplarisch die ehemalige Schriftführerin Carla Zawisch-Ossenitz (1888–1961) genannt werden kann. Sie wurde bereits am 23. März 1938 von der Gestapo inhaftiert; anschließend erfolgten die Aberkennung der Lehrbefugnis und die Entlassung vom Histologischen Institut der Universität Wien. Sie floh nach Frankreich und gelangte schließlich in die USA [42, S. 265–270].Footnote 7 Hier eilte der Beitrag der chronologischen Darstellung um einige Jahre voraus. Aspergers Mitgliedschaft bei der St.-Lukas-Gilde wurde etwas mehr Platz eingeräumt, um der Auffassung entgegenzutreten, diese habe in Fragen der Eugenik eine ambivalente Position eingenommen [24, S. 6].

Leipzig, Frühjahr 1934

Eine allmählich wachsende Sympathie Aspergers für NS-Gedanken kann auch nicht während jener sieben Wochen im Frühjahr 1934 konstatiert werden, in denen Asperger auf Wunsch Hamburgers als Gastarzt an den Jugendlichenabteilungen der Klinik für Psychiatrie und Nervenkrankheiten der Universität Leipzig (Leitung: Paul Schröder [1873–1941]) weilte.Footnote 8 In dieser Zeit führte Asperger ein Tagebuch, in das er überwiegend seine Beobachtungen über den Klinikbetrieb eintrug. Nur in einem Brief, unmittelbar nach der Ankunft in Leipzig an Hamburger geschrieben, machte er „politische“ Bemerkungen über die auffälligen Veränderungen Deutschlands in den vergangenen 14 Monaten, die man als eine gewisse Faszination, zugleich aber als ein Schaudern vor der Gewalttätigkeit interpretieren kann:Footnote 9 „… ungeheuerlich, unheimlich und mitreißend zugleich, wie da ein ganzes Volk in einer [Unterstreichung im Original] Richtung geht, fanatisch, mit eingeengtem Gesichtsfeld, gewiß, aber mit einer Begeisterung und Hingabe, in ungeheurer Zucht und Disziplin, mit einer furchtbaren Schlagkraft. Nur mehr Soldaten. Soldatisches Denken – Ethos – germanisches Heidentum.“ Dass Asperger das neue Regime spontan nicht sympathisch war, geht aus den verwendeten Begriffen ausreichend hervor. Besonders das „germanische Heidentum“ musste dem Neuländer und Gründungsmitglied der St.-Lukas-Gilde zuwider sein. Dies fügt sich in seinen langen, einige Tage später adressierten Brief an die Kollegen von der heilpädagogischen Abteilung, in dem er schrieb: „Übers Politische will ich lieber nichts schreiben, da gibt es Stoff für abendlange Erzählungen.“Footnote 10 Hamburger wies in seiner Antwort vom 26. April 1934 diese politischen Betrachtungen auch zurück und verlangte vielmehr Nachrichten aus der Leipziger Klinik und über Aspergers weitere Pläne.Footnote 11 Denn Schröder war mit diesem so zufrieden, dass er ihm gleich eine Assistentenstelle an seiner Klinik anbot. Asperger nahm aber nicht an; über die Gründe kann man nur mutmaßen.

Die heilpädagogische Abteilung

Die eigentliche berufliche Heimat war für Asperger die heilpädagogische Abteilung der Kinderklinik, deren Leitung ihm Hamburger Anfang Mai 1935 übertrug. Das Ausscheiden von Valerie Bruck war eine Folge der ständestaatlichen Sparpolitik, die veranlasste, dass Frauen, die neben ihrem Ehemann ein eigenes Gehalt bezogen, aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden [61, S. 326, 327–331]. Wie die Abteilung in diesen Jahren funktionierte, welche Aufgaben sie erfüllte, welcher ihr therapeutischer Ansatz war, ist aus der Beschreibung des dort tätigen Kinderarztes Georg Frankl (1897–1975) und aus einem zustimmenden Bericht mit kritischen Untertönen des Bostoner Psychiaters Joseph J. Michaels (1902–1966) bekannt: Es gab eine Ambulanz und eine Station. In der Ambulanz wurden Kinder und Jugendliche untersucht, die von Schulen, Jugendgerichten und Kinderheimen zur Beurteilung an die Klinik überwiesen wurden. Die Station mit ihren 21 Betten betreute Kinder vom Säuglings- bis ins Jugendalter für etwa vier bis sechs Wochen, aber auch während einiger Monate, nach einem geregelten Zeitplan. Ziel war es, den Kindern einen normalen Tagesablauf mit dem Wechsel von Unterricht und Freizeit, auch beim Spielen im Garten der Station, bieten zu können [30, 31, 50].

Die drei wichtigsten akademischen MitarbeiterInnen waren der aus einer jüdischen Familie Deutsch-Böhmens stammende Kinderarzt Frankl, die aus Norddeutschland stammende, ebenfalls jüdische Psychologin Anni Weiß (1897–1991) – die beiden ein Liebespaar – und der Wiener Kinderarzt Josef Feldner (1887–1973). Eigentlich waren sie die LehrerInnen und MentorInnen Aspergers, 10 bzw. 20 Jahre älter und schon lange vor ihm unter Lazar an der Abteilung tätig. Frankl publizierte seine Beobachtungen von Kindern mit Verhaltensstörungen in einer Art, die den entscheidenden Veröffentlichungen Aspergers von 1938 und 1944 ähnlich war [29].

Im Herbst 1934 verließ Anni Weiß Wien, weil sie an der Columbia University in New York City das Angebot einer Anstellung erhalten hatte. In den darauffolgenden Jahren bemühte sie sich, auch Frankl nachkommen zu lassen. Aber erst als Leo Kanner (1894–1981), der seit einigen Jahren die kinderpsychiatrische Abteilung der Universitätsklinik an der Johns Hopkins University in Baltimore leitete, einen Posten für Frankl schaffen konnte, war es so weit. Die Liebesbeziehung und der wachsende antisemitische Druck auf ÄrztInnen in Wien spielten zusammen, sodass Frankl im Herbst 1937 in die USA emigrierte. Im November heirateten sie. Nach Zwischenstationen kamen sie 1943 schließlich an die Universitätsklinik in Kansas City ([26], bes. S. 1–12 und 27–29 für die Zeit nach 1945, [53, S. 864 f.]). Mit beiden konnte Asperger ab 1946 wieder freundschaftlichen Kontakt anknüpfen. Zu einer für ein Jahr geplanten Rückkehr nach Wien an die alte Wirkungsstätte und zum Aufbau einer Child Guidance Clinic konnten sie sich aber trotz der Einladung Aspergers nicht entschließen. Ein mehrwöchiger Besuch von Frankl im Frühsommer 1949 auf der wieder von Asperger geleiteten heilpädagogischen Station erfolgte ohne Bitterkeit, im Gegenteil: Frankl wurde überaus freundlich empfangen und geehrt. Es folgte eine Gegeneinladung Aspergers nach Kansas City, die 1950 realisiert wurde.Footnote 12 Auch dieses Verhältnis zu Frankl und Weiß wurde etwas deutlicher ausgeführt, um jeglichen Verdacht des Antisemitismus, eines Pfeilers der NS-Gesinnung, von Asperger zu nehmen.

Josef „Peppi“ Feldner arbeitete nach seiner Promotion 1915 an verschiedenen Kliniken, darunter ohne festes Dienstverhältnis an der Wiener Kinderklinik, wo er in den frühen 1920er-Jahren auf der heilpädagogischen Station ein Vertrauter Lazars wurde. Zwischen 1921 und 1938 war er Schularzt an Wiener Gymnasien, auch an Sonderschulen, in denen er die Kinder in allen Facetten ihrer Persönlichkeiten kennenlernte und sich für sie auch in a priori hoffnungslosen Fällen einsetzte. Feldner war von allem Anfang an ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus. Asperger betrachtete ihn als einen väterlichen Freund, „den ich vor jedem anderen als meinen Lehrer erkenne“ [12]. Zu seinem 75. Geburtstag 1962 veröffentlichte er eine geradezu hymnische Würdigung: „nie habe ich einen Menschen erlebt, der mehr vom Menschen wußte, mehr an ihnen sah“ [11] – und verfasste 1973 einen ebenso lobenden Nachruf: „So ist er ein großer Anreger geworden; ich kann aus meinem Leben nicht wegdenken stundenlange Streitgespräche, manchmal bis gegen den grauenden Morgen“ [12]. Jüngst erst ist durch das Buch von Anna Goldenberg (*1989) der lebensgefährliche Einsatz Feldners für den Großvater der Autorin, einen jüdischen Jugendlichen, den 17-jährigen Hans Busztin, lebhaft in Erinnerung gerufen worden [33]. Feldner versteckte ihn von September 1942 an bis zum Ende des NS-Regimes in seiner Wohnung, was nicht nur in der heilpädagogischen Station der Kinderklinik allmählich bekannt wurde, sondern in der Nachkriegszeit Gesprächsstoff in Aspergers Familie war, lange vor der Goldenberg’schen Veröffentlichung.Footnote 13

Die hier genannten Mitarbeiter der heilpädagogischen Abteilung, Bruck und die von Asperger im Rückblick als „die Seele der Abteilung“ bezeichnete Krankenschwester Viktorine Zak (1897–1944), die 1944 durch einen Bombenangriff ums Leben kam, [9] trafen sich fast wöchentlich zur „Tafelrunde“, in der dienstliche und auch private Angelegenheiten besprochen wurden. Dies alles wurde etwas ausführlicher vorgestellt, um ein Milieu zu zeichnen, das fern nationalsozialistischer Verlockungen im Interesse der kranken Kinder agierte.

Erwin Jekelius

Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass der später zu grausiger Berühmtheit gelangte Erwin Jekelius (1905–1952), der an den „Euthanasie“-Morden an Geisteskranken der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof und dann an den Tötungen von Kindern am Spiegelgrund vielfach beteiligt war, eine Zeit lang der heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik zugeteilt war. Ab Anfang August 1933 war er zunächst als unbesoldeter Hilfsarzt und ab Mitte Juni 1935 als Assistenzarzt angestellt. Er war ganz nach dem Geschmack des Klinikchefs Hamburger: Einer stramm evangelischen Beamtenfamilie aus dem siebenbürgischen Hermannstadt entstammend, war er in Wien 1931 promoviert worden und hatte zunächst an der psychiatrischen und medizinischen Klinik gearbeitet. Anfang Juli 1933 trat er in die illegale österreichische NSDAP ein. Aus dem Jahr 1934 gibt es einige Nachrichtensplitter: In dem Brief, den die „Tafelrunde“ im April 1934 an Asperger nach Leipzig schickte, charakterisierte Feldner den seit dem Vorjahr der heilpädagogischen Abteilung zugeteilten Jekelius wenig schmeichelhaft: „[Er] rennt weiter treppauf, treppab, mit popoleerer Wissenschaft.“ Von August bis November 1934 verdingte sich Jekelius als Schiffsarzt bei der schwedischen Johnson Line, die betuchte Reisende nach Kalifornien brachte. Spätere Zeugnisse der Zusammenarbeit auf der heilpädagogischen Station gibt es nicht mehr, auch nicht seitdem Asperger Anfang Mai 1935 die Leitung übertragen bekam. Schon 3 Monate später, am 1. August 1935, datierte Jekelius seine Bewerbung um eine Arztstelle bei der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, erwähnte im Ansuchen seine Tätigkeit in der Heilpädagogik mit keinem Wort, kam auch später nie darauf zurück, und auch Hamburger nahm in seinem Empfehlungsschreiben darauf keinen Bezug. Am 1. März 1936 trat Jekelius seinen Dienst in der Abteilung Trinkerheilstätte, Am Steinhof, an. Eng dürften die auch zeitlich knappen Beziehungen zwischen Asperger und Jekelius in diesen Jahren also nicht gewesen sein, dazu waren die beiden von ihrem Wesen und ihren weltanschaulichen Grundeinstellungen her zu unterschiedlich [28].

Nach März 1938: Verdeckter Widerstand

Über die mit dem „Anschluss“ vom 13. März 1938 anbrechende Zeit der NS-Herrschaft in Österreich hat sich Asperger in seinem Lebensrückblick von 1974 nur knapp geäußert:

Die nationalsozialistische Zeit kam, wobei es aus meinem bisherigen Leben klar war, dass man wohl mit vielen, sagen wir nationalen – in Anführungszeichen –, Dingen mitkam, aber nicht mit den Unmenschlichkeiten. In der Heilpädagogik hat man sehr viel mit gestörten, mit schwachsinnigen Kindern zu tun. Man kann nicht anders, als sie in ihrem Wert erkennen und sie lieben. Was ist ihr Wert? Sie gehören in eine Population hinein, sie sind unentbehrlich, für bestimmte Arbeiten, aber auch für das Ethos eines Landes, dass man an ihnen lernt, wie der Mensch dem Menschen verpflichtet ist. Es ist also völlig unmenschlich, das hat sich ja gezeigt in schrecklichen Konsequenzen, wenn man den Begriff „lebensunwertes Leben“ konstituiert und Konsequenzen daraus zieht. Und da ich nie gewillt war, diese Konsequenzen zu ziehen, das heißt also, dem Gesundheitsamt die Schwachsinnigen zu melden, wie wir beauftragt waren, nicht wahr, war das eine recht gefährliche Situation für mich. Ich muß es meinem Lehrer Hamburger hoch anrechnen, dass er, obwohl er ein überzeugter Nationalsozialist war, mich mit starkem persönlichen Einsatz zweimal vor der Gestapo gerettet hat. Er wußte, welcher Gesinnung ich bin. Er hat mich da mit seiner ganzen Person geschützt, das rechne ich ihm hoch an. Schließlich war es aber für beide Teile das Beste, wenn Doktor Asperger, schließlich dann schon Dozent für Kinderheilkunde, einrückte; ich war im Krieg, ich war in Kroatien, im Partisanenkrieg eingesetzt. (Asperger [1]).

Man weiß nicht, wie Asperger den Umsturz vom März 1938 erlebte; man weiß nicht, wie die rasch einsetzende Diskriminierung und Verfolgung der Juden und Jüdinnen, der christlich-sozialen PolitikerInnen und AmtsträgerInnen, der SozialdemokratInnen und KommunistInnen, der katholischen Organisationen auf ihn wirkte. Aus dem Jahr 1938 gibt es nur zwei Dokumente, die sich so interpretieren lassen, dass er – in Übereinstimmung mit seiner bisherigen Prägung und seinen bisherigen Grundeinstellungen – von den neuen Verhältnissen nicht so begeistert war wie viele andere, ungeachtet der autobiografischen Aussage, „dass man wohl mit vielen, sagen wir nationalen – in Anführungszeichen –, Dingen mitkam“. Das eine Dokument ist ein Briefwechsel mit dem „Wiener Beauftragten des Reichsärzteführers“, wie die Ärztekammer im neuen Regime nach der Gleichschaltung hieß, vom 22. bzw. 28. September 1938, aus dem hervorgeht, dass Asperger aus der Kinderklinik ausscheiden und eine Praxis eröffnen wollte.Footnote 14 Dies wäre ohne weiteres möglich gewesen, da das neue Regime rasch über die jüdischen ÄrztInnen ein Berufsverbot verhängte, wovon besonders viele Kinderärzte/Kinderärztinnen betroffen waren. Etwa drei Viertel der in Wien praktizierenden Kinderärzte/Kinderärztinnen waren Juden/Jüdinnen [38, S. 71, 57, S. 240–244].

Warum Asperger seinen Antrag nach wenigen Tagen vorläufig zurückzog, ist nicht klar zu erkennen, aber der Satz in dem Entwurf der Antwort „da ich derzeit als klinischer Assistent noch keine Erlaubnis zur privaten Praxis habe“ ließe sich als dringender Wunsch, ja als Anordnung Hamburgers interpretieren, der seinen geschätzten Assistenten nicht ziehen lassen wollte. Eine gewisse Unzufriedenheit mit der Situation an der Klinik lässt sich aus einem Brief Aspergers an Feldner vom März 1939 ablesen, wo von „Hamburger, der auf der Abteilung so radikal Ordnung macht“, gesprochen wird.Footnote 15

Nach März 1938: Notwendige Verbeugung vor den neuen Herren

Das andere Dokument ist der am 3. Oktober 1938 gehaltene und dann zum Druck gebrachte Fortbildungsvortrag „Das psychisch abnorme Kind“ [3]. In ihm werden einige Fälle aus der Praxis der heilpädagogischen Abteilung geschildert, und zu ihrer Kennzeichnung wird der Begriff „autistische Psychopathen“ verwendet, der dann in der Habilitationsschrift des Jahres 1943 weiter ausgeführt und zur Grundlage dessen wird, was als „Asperger-Syndrom“ zu dessen Berühmtheit beitragen wird. Nicht das im engeren Sinn Medizinische oder Psychiatrische soll hier im Vordergrund stehen, sondern zunächst die einleitenden und abschließenden Bemerkungen. Gleich eingangs heißt es: „Wir stehen mitten in einem gewaltigen Umbau unseres geistigen Lebens, der alle Gebiete dieses Lebens ergriffen hat, nicht zum wenigsten die Medizin. … Das Ganze ist mehr als der Teil, das Volk wichtiger als der einzelne ….“ Was aber dann folgt, ist mit Hilfe von Beispielen aus seiner Station ein glühendes Plädoyer für das unablässige Bemühen um kranke, in Aspergers Worten „psychopathische“ Kinder. Er verwahrt sich strikt gegen den Begriff „minderwertig“, er betont, dass „abnorm“ häufig mit hoher intellektueller oder künstlerischer Begabung beim Kind einhergehe, dass es die Aufgabe der ÄrztInnen sei, dem Kind beim Ertragen seiner Schwierigkeiten zu helfen oder durch behutsames Erziehen seinen Gefühlen, „Instinkten“, den richtigen Weg zu weisen. „Keineswegs darf die Feststellung, daß es sich um primär, konstitutionell geschädigte, etwa auch erblich belastete Menschen handelt, zu der Ansicht führen, da könnte man eben nichts machen“ [3, S. 1317].

Die wenigen einleitenden Worte könnten als innere Hinwendung zum NS-Gedankengut interpretiert werden, wird aber der gesamte Vortrag und nicht nur ein kleiner Teil berücksichtigt, ist es viel plausibler, die notwendige Verbeugung vor den neuen Herren zu erkennen, die diese mit allen Mitteln, von subtil bis brutal, einforderten. Alle totalitären Regime verfahren in gleicher Weise. Man möge die Vorworte von geistes- oder sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus der DDR mit wachem Sinn studieren und wird dabei Marx- und Engels-Zitate finden, das Preisen der Vorzüge des Sozialismus lesen, die Verdammung des kapitalistischen Imperialismus erfahren und nach diesen Pflichtübungen zum eigentlichen Inhalt der Abhandlung kommen.

Aus Aspergers Personalakt

Die These, dass Asperger nach dem „Anschluss“ aus Karrieredenken und Opportunismus allmählich nationalsozialistisches Gedankengut so sehr bejaht habe, dass er schließlich sogar der „Euthanasie“ zugestimmt habe und vereinzelt am „Ausmerzen unwerten Lebens“ beteiligt gewesen sei, stützt sich auch auf Dokumente der Jahre 1938/1939 und 1940. Diese sollen kurz vorgestellt und methodisch korrekt sine ira et studio interpretiert werden.

Es handelt sich einerseits um ein Dossier aus den „Gauakten“ des Archivs der Republik, den sogenannten Restbeständen der Akten des Wiener Gaupersonalamts, unter denen sich u. a. Begutachtungen über die politische Zuverlässigkeit Aspergers befinden und aus denen im Folgenden zitiert wird.Footnote 16 Der Anlass war die nach dem „Anschluss“ durchgeführte Überprüfung aller öffentlichen Bediensteten, über deren positive Einstellung zum NS-Regime Zweifel bestehen konnten (Verordnung vom 31.05.1938). Methodisch ist bei der Bewertung wichtig, dass es sich nicht um Selbst-, sondern um Fremdaussagen handelt, die vor dem Hintergrund des Entstehungskontextes kritisch zu befragen sind. Das zeitlich früheste Dokument, jenes des Nationalsozialistischen Deutschen (NSD-)Dozentenbundes vom 22. September 1938, ist dafür ein geradezu klassisches Beispiel: „Asperger ist religiöser Katholik. Katholischpolitische Tendenzen hat er nie vertreten, hatte mit Systempolitikern keine Verbindung. War Mitglied der katholischen Vereinigung ‚Neuland‘. Den nationalsozialistischen Ideen in der Rassenpflege und der Sterilisierungsgesetzgebung ist er zugänglich. Charakterlich einwandfrei.“ Die Quelle dieser Beurteilung ist zweifellos die Kinderklinik, in der abgesehen von Asperger fast nur NS-Parteimitglieder als ÄrztInnen tätig waren. Von dort flossen die Informationen leicht zum NSD-Dozentenbund. Verantwortlich für diese Beurteilung war der Klinikchef Hamburger, der seinen ihm vertrauten Assistenten halten wollte – die Briefe, aus denen Aspergers Absicht zum Verlassen der Kinderklinik hervorgeht, datieren aus diesen Tagen! – und deshalb eine Formulierung verwendete, die so und so gedeutet werden konnte. Am 26. November 1938 ging diese Beurteilung zum Gaupersonalamt, in dem am 5. Januar 1939 die Beurteilung im entscheidenden Satz leicht verändert wurde: „In Fragen der Rassen- und Sterilisierungsgesetzgebung geht er mit den nationalsozialistischen Ideen konform.“ Die Unterscheidung von „ist er zugänglich“ und „geht konform“ war den Leuten vom Gaupersonalamt wohl zu subtil.

Des Weiteren handelt es sich um einen von Asperger am 7. November 1940 ausgefüllten Fragebogen, der mit seiner Weiterbeschäftigung bzw. Neuaufnahme bei der Stadt Wien zusammenhing.Footnote 17 Er resultierte aus einem Erlass des Personalamts vom 12. Februar 1940, nach dem bei Neuaufnahmen alle Tätigkeiten in der NSDAP, ihren Gliederungen sowie angeschlossenen und sonstigen Verbänden angegeben werden mussten. Asperger war im September 1940 vom Gesundheitsamt des Reichsgaus Wien als „Facharzt für die heilpädagogischen und kinderpsychiatrischen Belange“ an den Wiener Sonderschulen verpflichtet worden und hatte deshalb – obwohl schon seit November 1936 als Jugendarzt im Dienste der Stadt Wien –, dem Personalamt eine Reihe von Dokumenten und ausgefüllten Fragebogen vorzulegen. Vorher hatte das zuständige Personalamt deshalb routinemäßig Auskünfte bei der Kriminalpolizei, bei der Gestapo, beim Sicherheitsdienst der SS und beim Gaupersonalamt der NSDAP eingeholt. Deren Beurteilung lässt wieder den Rückschluss zu, dass die Information aus der Kinderklinik und von deren Chef Hamburger stammte.

In dem Fragebogen gab Asperger an, dass er weder der NSDAP noch ihren Gliederungen angehöre, nur bei der Hitlerjugend (HJ) fügte er an: „Mitarbeit vorgesehen (Besprechung mit Dr. Dietrich)“. Gerade diese Notiz lässt sich als Hinweis deuten, dass er Sand in die Augen der überwachenden NS-Funktionäre streuen wollte. Denn dieser Dr. Alfred Dietrich, ein Kollege Aspergers in der Kinderklinik, Mitglied der illegalen NSDAP seit 1934, seit Herbst 1936 auch „Bannarzt“ der HJ, war seit Mitte Juli 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Wenn Asperger den Nazis wirklich so nahe stand, wie man aus dem Fragebogen geschlossen hat, warum hat er so lange zugewartet und einen abwesenden Gesprächspartner angegeben? Die Zugehörigkeiten Aspergers zur Deutschen Arbeitsfront (DAF) seit April 1938 und zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) seit Mai 1938 sind für seine Einstellung zur NS-Ideologie irrelevant. Die Mitgliedschaften bei diesen Massenorganisationen, die bei den Entnazifizierungsverfahren nach 1945 auch unberücksichtigt blieben, waren für viele ein ebenso nützliches wie unverbindliches Zugeständnis zum Regime, dessen allgegenwärtigen Zustimmungsforderungen man sich nicht völlig zu entziehen wagte (zur NSV: [35], zum DAF: [54], zur Lage in Österreich: [56, 63]). Im Fragebogen gab Asperger an, dass er von Juni 1938 an auch Anwärter beim NS Deutschen Ärztebund (NSDÄB) gewesen sei. Dieser verfolgte kämpferisch das Ziel, innerhalb der Ärzteschaft die NS-Ideologie zu fördern. Aber sein Wirken sollte nur kurz währen, denn 1943 wurde er „bis zum Endsieg“ aufgelöst. Diese Meldung einer Anwärterschaft zum NSDÄB ist jedoch unseres Erachtens nicht eindeutig, denn 1939 hatte Asperger die Aufforderung zur Zahlung des Mitgliedsbeitrages unbeantwortet gelassen. Im Jahr 1946 kommentierte er auf dem Fragebogen zur erneuten Aufnahme in den schulärztlichen Dienst der Gemeinde Wien seine Anwärterschaft im NSDÄB „ohne mein Zutun, glaublich seit 1940“ (zum NSDÄB: [47]).Footnote 18 Aspergers Angaben auf dem Fragebogen, dass er seit 1932 Mitglied des „Deutschen Schulvereins Südmark“ gewesen und 1934 dem „Verein Deutscher Ärzte“ beigetreten sei, lassen sich nur unter interpretatorischen Verrenkungen als signifikante Vorboten einer NS-Gesinnung deuten [36, 52]. Die detaillierte Analyse des von Asperger am 7. Oktober 1940 unterschriebenen Fragebogens verbietet, diesen als Bekenntnis zum NS-Gedankengut zu deuten. Plausibler ist es, ihn als ein Zusammenkratzen von kleinen Konzessionen an das neue Regime zu interpretieren.

Aspergers Plädoyer für die „Abnormen“

Ein weiteres Dokument unterstützt diese Deutung: Asperger sollte am 12. März 1939 einen Vortrag über „Pädagogische Therapie bei abnormen Kindern“ vor der Wiener Medizinischen Gesellschaft, Fachgruppe für ärztliche Kinderkunde, halten. Er schickte den Entwurf des Vortragsmanuskriptes seinem väterlichen Freund Feldner, der ihm in der Antwort vorschlug, mit seinen ohnehin nicht glaubwürdigen Ehrerbietungen gegen die Herrschenden etwas zurückhaltender zu sein, aber dennoch „etwas in Hitlers Horn zu blasen“.Footnote 19 Asperger übernahm nicht nur einige Absätze wörtlich aus dem Brief, sondern strich auch die Verneigung vor Hitler und machte auch keine Anspielung auf den „Anschluss“, obwohl es der erste Jahrestag war. Dann folgte ein langes Plädoyer für die Heilpädagogik und für den Einsatz zugunsten „Minderwertiger“ [4].

Zwischen 1938 und 1944 konnte Asperger im Hinblick auf eine von seinem Chef Hamburger betriebene Habilitation einige Aufsätze und schließlich die Habilitationsschrift „Die Autistischen Psychopathen im Kindesalter“ veröffentlichen [3,4,5,6,7,8]. Zumeist hatten diese Beiträge die verhaltensauffälligen Kinder zum Inhalt, die in der heilpädagogischen Abteilung behandelt wurden. Wird darauf verzichtet, aus ihnen mit Anstrengung Hinweise auf eine Bereitschaft zur Anpassung an die NS-Gedankenwelt herauszufiltern,Footnote 20 ergibt sich aus dem gesamten Text und nicht aus der Analyse einiger inkriminierter Begriffe ein durchgängiges Plädoyer für die „Abnormen“. Diese seien weder als „minderwertig“ zu betrachten noch als Belastung für das Volksganze zu bewerten, sondern sie würden die ganze Zuneigung und wissenschaftliche Aufmerksamkeit der ÄrztInnen verdienen. Das letzte Kapitel der Habilitationsschrift endet mit folgendem eindeutigen Satz:

Diese Tatsache bestimmt denn auch unsere Einstellung und unser Werturteil gegenüber schwierigen Menschen dieser und anderer Art und gibt uns das Recht und die Pflicht, uns für sie mit unserer ganzen Persönlichkeit einzusetzen, denn wir glauben, daß nur der volle Einsatz des liebenden Erziehers bei so schwierigen Menschen Erfolge erzielen kann. [8, S. 135]

Asperger und die Gestapo

Der mehr oder weniger verdeckte Widerstand, den Asperger nach eigener Aussage gegen das NS-Regime im ehemaligen Österreich leistete, bestand in der Weigerung, „dem Gesundheitsamt die Schwachsinnigen zu melden“. Gemeint war damit der geheime Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18.8.1939, wonach Kinder mit bestimmten Behinderungen – verschleiernd zur „Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiet der angeborenen Mißbildung und der geistigen Unterentwicklung“ – von Hebammen und ÄrztInnen an die Gesundheitsämter zu melden seien (zur „gesetzlichen“ Grundlage der Tötungen: [43, S. 334–336, 673–676, 44, S. 239–241]). Dieser Vorschrift kam er laut eigener Aussage nie nach. In Wien waren rasch nach dem „Anschluss“ unter der Leitung von aus Deutschland geholten Fachleuten ein massiver Ausbau des Gesundheitswesens, eine Zentralisierung und die Einrichtung von Bezirksgesundheitsämtern erfolgt, die neben der üblichen Gesundheitsfürsorge auch die „Erb- und Rassenpflege“ zu besorgen hatten. Dorthin waren auch die behinderten und als minderwertig betrachteten Kinder zu melden (zu diesen organisatorischen Veränderungen des Gesundheitswesens im Sinne der NS-Ideologie: [20, 32, S. 135–142]). Tatsächlich taucht der Name Asperger in den fragmentarisch überlieferten Materialien der Wiener Gesundheitsämter in dieser Hinsicht nicht auf. Das Gleiche gilt für die zahlreichen Zwangssterilisationen, die nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses aus „rassehygienischen“ oder „erbgesundheitlichen“ Gründen durchgeführt wurden [60].

Aspergers Aussage, dass ihn sein Chef Hamburger zweimal vor der Gestapo gerettet habe, ist mit dem Argument angezweifelt worden, dass er dies erst 1962 erwähnte, obwohl es ihm und Hamburger durchaus zum Vorteil hätte gereichen können. Auch Hamburger habe davon nie gesprochen, obwohl ihn dies nach 1945 hätte entlasten können [24, S. 9a]. Abgesehen davon, dass Asperger das Faktum nicht erst 1962 erwähnte, sondern schon 1957 in seiner Innsbrucker Antrittsvorlesung darauf anspielte [10, S. 549], müsste die methodisch korrekte Frage lauten, zu wessen Gunsten die angezweifelte Aussage getroffen wurde. Das ist nicht Asperger selbst, sondern eben sein von ihm geschätzter Vorgesetzter, Hamburger. Um dessen Andenken ging es, nicht um ein Reinwaschen der eigenen Person, die seit 1945 eine geradlinige, nie angezweifelte Karriere gemacht hatte. Warum hätte er 1957 bzw. 1962 lügen sollen? Da aber die Wiener Gestapo-Akten fast vollständig vernichtet wurden, ist die Gegenprobe unmöglich.Footnote 21 Die Warnung aus dem Mund Hamburgers deutet darauf hin, dass die Gestapo bei ihm Erkundigungen über Asperger einzog, weil dieser denunziert worden war – NeiderInnen gab es unter der mit nationalsozialistischen ÄrztInnen gefüllten Kinderklinik sicherlich.Footnote 22

Gutachten Aspergers

Eine zentrale Anschuldigung gegen Asperger lautet, dass er durch seine Begutachtungen behinderter und kranker Kinder den in der zweiten Jahreshälfte 1940 einsetzenden Morden am Spiegelgrund Vorschub geleistet, ja diese vereinzelt bewusst herbeigeführt habe. Da das vorhandene Quellenmaterial, v. a. Krankengeschichten, gut aufgearbeitet ist, lassen sich dazu sichere Aussagen treffen [25]. Von der „Überstellung Dutzender Kinder, die in einen sicheren Tod am Spiegelgrund geschickt wurden“ [58, S. 160], kann jedoch keine Rede sein. Unter den 789 am Spiegelgrund ermordeten Kindern sind es sieben, über die Asperger ein Gutachten erstellte. Aber nur bei Herta Schreiber ist direkt vom Spiegelgrund die Rede, bei der mit ihr nicht verwandten Elisabeth Schreiber heißt es: „Am ehesten käme der Spiegelgrund in Frage“; bei Berta Foucek heißt es: „eventuell Spiegelgrund“ [37, S. 125, 495, 496].Footnote 23 Sechs von diesen sieben Kindern kamen nach der Begutachtung Aspergers jedenfalls nicht auf den Spiegelgrund, sondern in andere Kinderheime. Von dort wurden sie erst nach geraumer Zeit, z. T. erst nach über zwei und über drei Jahren, ohne Zutun Aspergers und ohne Bezug auf sein Gutachten abgeholt und in den mörderischen Pavillon 15 des Spiegelgrunds überstellt.Footnote 24 Heinrich Gross (1915–2005), einer der Ärzte des Pavillon 15, der später prominente psychiatrische Gerichtsgutachter der 1950er- bis 1970er-Jahre, war meist dafür verantwortlich [51, S. 267–295].

Bleibt nur Herta Schreiber, der angeblich beweisträchtigste Fall für die präsumptiven Untaten Aspergers. Aber auch bei diesem knapp 3‑jährigen Mädchen empfiehlt sich die sorgfältige Interpretation von Aspergers Mitwirkung.Footnote 25 Diese erscheint außergewöhnlich in einem singulären Notfall. Herta hatte im Frühjahr 1941 eine Hirnhautentzündung überstanden, erkrankte im Juni 1941 an Diphtherie und kam ins Wilhelminenspital, aus dem sie am 22. dieses Monats entlassen wurde. Aus den Dokumenten lässt sich eine sehr wahrscheinliche Ereigniskette ableiten. Offensichtlich war Hertas Mutter überfordert, was bei fünf weiteren Kindern in Zimmer, Küche, Kabinett und einem Ehemann an der Ostfront nicht verwunderlich ist. In ihrer Not wandte sie sich einige Tage später an Dr. Wilhelm Schmidt, wohl den Hausarzt der Familie, der die Unterbringung in einem Heim vorschlug.Footnote 26 Dazu brauchte er aber ein fachärztliches Gutachten und schickte Mutter und Kind in die Kinderklinik, wo auch die heilpädagogische Abteilung mit Begutachtungen betraut war. Dieses Gutachten erstellte Asperger am Freitag, 27. Juni 1941, und notierte als Begründung: „Das Kind muß zuhause für die Mutter …eine untragbare Belastung darstellen.“ Schmidt füllte am darauffolgenden Montag, 30. Juni 1941, das Formular für „Antrag auf Krankenhausbehandlung“ aus, auf dem er handschriftlich „Jugendanstalt am Spiegelgrund“ und „zur fachärztlichen Behandlung“ vermerkte. Am nächsten Tag, Dienstag, den 1. Juli 1941, wurde Herta dort aufgenommen. Also strenggenommen war nicht Asperger der einweisende Arzt, sondern Dr. Schmidt, wohl gestützt auf das Asperger’sche Gutachten. Normalerweise dauerte es viel länger, bis ein Kind eingewiesen wurde. Die übliche Anlaufstelle war sonst die KÜST (Kinderübernahmestelle, die zentrale Behörde, die über Einweisungen von Kindern und Jugendlichen in öffentliche Fürsorgeeinrichtungen entschied, ein Vorzeigeprojekt der sozialdemokratischen Sozialfürsorge der Zwischenkriegszeit, das auch nach 1934 weitergeführt wurde; [21, S. 234–236]).Footnote 27

Was wusste Asperger?

Hier lässt sich einwenden: Der beklagenswerte Zustand des Mädchens und die angenommene Aussichtslosigkeit ärztlichen Handelns prädestinierten sie geradezu für die verbrecherische „Euthanasie“, in die Asperger mit seinem Gutachten eingewilligt habe. Dies setzt jedoch voraus, dass er vom Tun der Mörder im Pavillon 15 und über die Organisationsstruktur des Spiegelgrunds genau Bescheid hätte wissen müssen. Die Kardinalfrage muss daher lauten: Hat er gewusst, was hat er gewusst oder war er ahnungslos? Dass ihm der Umgang der NS-Medizin mit behinderten Kindern nicht ganz geheuer war, ergibt sich aus seiner im Lebensbericht getroffenen und dann dokumentarisch belegten Aussage, er habe sich geweigert, dem Gesundheitsamt die Schwachsinnigen zu melden. Ein Mitwissen über das mörderische Treiben im Pavillon 15 ist aber allein schon deshalb unwahrscheinlich, weil er von 1940 bis knapp vor dem Beginn seiner Militärzeit im Frühjahr 1943 Gutachten mit Empfehlungen für die Unterbringung am „Spiegelgrund“ formulierte, die sehr weit von möglicher Empfehlung für „Euthanasie“ oder Einwilligung in das Morden entfernt waren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit erfuhr er erst nach 1945 von den im Pavillon 15 verübten Untaten. Da man die unter strenger Geheimhaltung organisierten „Euthanasie“-Morde, deren diabolischer Ablauf auf Unauffälligkeit und Täuschung beruhte, bis ins Detail plante, müsste ihn – will man ein Mitwissen postulieren – jemand informiert und genau instruiert haben. Ihn, den Freund jüdischer ÄrztInnen, das ehemalige Vorstandsmitglied der St.-Lukas-Gilde katholischer ÄrztInnen, die sich an die päpstliche Enzyklika „Casti connubii“ hielten?

Es gibt gute Argumente dafür, dass Asperger mit „Spiegelgrund“ das Kinder- und Jugendheim in seiner Gesamtheit und nicht einen bestimmten Pavillon meinte. Die riesige Anstalt war nach der Ermordung zahlreicher psychisch kranker Patienten der Heilanstalt „Am Steinhof“ im Juli 1940 eingerichtet worden. Im ersten Jahr ihres Bestehens waren dort schon annähernd 1600 Kinder und Jugendliche untergebracht [19, 21, S. 95–101, 236–240, 49]. Die Organisation dieses Kolosses, der durch die Zusammenführung verschiedener Institutionen der Gemeinde Wien zu Beobachtung und Behandlung psychisch auffälliger Kinder entstanden war, war chaotisch. Der Umgang mit den Kindern, besonders mit den Buben, war, wie man aus einigen Zeugnissen aus späterer Erinnerung weiß (Erlebnisberichte: [34, 41, 46]), wegen vielfältiger personeller und materieller Mängel oft brutal und grausam. Aber es war eben eines der wenigen Kinder- und Jugendheime, die es damals in und um Wien gab und wohin nach Schließung des von geistlichen Schwestern betreuten Spezialkinderheims für behinderte Kinder in Pressbaum solche Kinder und andere, die als verhaltensgestört oder sozial verwahrlost galten, geschickt werden konnten.

Es existieren nicht wenige von Asperger unterschriebene Gutachten für Kinder, die den Spiegelgrund überlebten und nach einer gewissen Zeit aus den Pavillons 15 und 17 entlassen wurden.Footnote 28 Gemäß den Recherchen der Autoren ist bei elf Kindern der Spiegelgrund als empfohlener Ort der Unterbringung angegeben. Aber es sind durchwegs Kinder und Jugendliche mit einer optimistischen Prognose, also keine, die auch nur entfernt als Kandidaten für die „Euthanasie“ anzusehen wären. In einigen ist sogar von einer „Kleinkindergruppe“ am Spiegelgrund die Rede. Ein überzeugender Beleg dafür, dass Asperger mit Spiegelgrund nicht den Tötungspavillon meinte, ist in einem seiner Aufsätze aus dem Frühjahr 1942 zu finden. Es heißt darin: „Bei allen schwierigeren Fällen wird ihnen nur eine länger dauernde stationäre Beobachtung gerecht, so wie das an der Heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik und in der Fürsorgeanstalt ‚Am Spiegelgrund‘ verwirklicht ist“ [7, S. 355]. Wenn Asperger an dieser Stelle seine eigene Abteilung an der Kinderklinik, in der er 10 Jahre lang intensiv und erfolgreich gearbeitet und geforscht hatte, und die Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund nebeneinander und gleichbedeutend nennt, dann kann er nicht die Wirkstätte der Mörder im Pavillon 15 gemeint haben.

Die Gugging-Kommission

Wie oben ausgeführt, war Asperger seit Anfang Oktober 1940 teilzeitbeschäftigter Facharzt im Referat Schulkinderfürsorge des Hauptgesundheitsamtes im Reichsgau Wien und damit für „die heilpädagogischen und kinderpsychologischen Belange in den Wiener Sonderschulen“ zuständig. Als solcher geriet er in eine von Jekelius betriebene Überstellung schwer behinderter Kinder aus der Heil- und Pflegeanstalt Gugging bei Klosterneuburg an den Pavillon 15 des Spiegelgrunds,Footnote 29 was ihm das Stigma „a well-functioning cog in a deadly machine“ [24, S. 25a] eintrug.Footnote 30 Seine Mitwirkung an dieser Aktion ist jedoch marginal; eine Verantwortung für die Transferierung der Kinder ist auszuschließen.

Er wurde nämlich von seiner Dienststelle als Mitglied einer gemischten 7‑köpfigen Kommission nominiert, die bildungsfähige Kinder für einen Hilfsschulbesuch benennen sollte. Sie tagte am 16. Februar 1942 einen Nachmittag lang in Gugging.Footnote 31 Dabei wurden ausschließlich jene sechs Listen von behinderten Kindern besprochen, die vom Direktor von Gugging vorbereitet worden waren. Es wurden 145 von 210 Kindern kursorisch inspiziert, aber über die Vorgangsweise der Kommission, Wortmeldungen und Meinungsbildung, Untersuchungen fehlen weitere Informationen. Auf zwei Akten im Vorfeld der Kommissionssitzung steht ein handschriftlicher Zusatz, der die Überführung der bildungsunfähigen Kinder an die „Aktion von Dr. Jekelius“ vorsieht (20.11.1941, 2.1.1942).Footnote 32 Ob diese beiden Hinweise auf die vorgesehenen Transferierungen zum Pavillon 15 des Spiegelgrunds bei der Sitzung der Kommission am 16.02.1942 eine Rolle spielten, geschweige denn bekannt waren, ist unsicher, vielmehr unwahrscheinlich. Sie waren für den internen Dienstgebrauch der Reichsstatthalterei Niederdonau bestimmt. Von „Aspergers Kommission“ [58, S. 161] zu sprechen, ihm sozusagen die Hauptverantwortung zuzuschreiben, tut der vorhandenen Überlieferung Gewalt an. Die traurige Wirklichkeit ist aber, dass bis Ende 1942 44 aus Gugging transferierte Kinder den gewaltsamen Tod am Spiegelgrund fanden.Footnote 33

Im März 1943 wurde Asperger zur Wehrmacht einberufen. Die etwas mehr als zwei Jahre in Uniform schildert er in seinem Lebensrückblick von 1974, und es gibt auch ein Tagebuch, das nicht viel mehr als die äußeren Stationen festhält: Im Jahr 1943 in Niederösterreich und in Brünn, mit mehreren Urlauben, z. T. um die Habilitation an der Kinderklinik voranzutreiben, ab dem Jahresbeginn 1944 in Kroatien. Seine Einheit war Teil der 392. kroatischen Infanteriedivision, die aus kroatischen Soldaten sowie deutschen Unteroffizieren und Offizieren bestand. Sie war ab dieser Zeit bei der Bekämpfung von Partisanen im nördlichen Kroatien eingesetzt [55, S. 229–282]. Im Mai 1944 war Asperger mehrere Wochen bei seiner nach Westfalen evakuierten Familie. Ab dem Herbst 1944 war die Division von massiven Desertionen betroffen und zog sich langsam nach Norden zurück. Die Kapitulation erlebte Asperger im Uskokengebirge im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Slowenien und Kroatien, und zusammen mit seiner Sanitätseinheit gelang ihm die Flucht über die Kärntner Grenze. Ende August 1945 war Asperger wieder in Wien und meldete sich einige Tage später bei seiner alten Dienststelle in der Universitätskinderklinik. Da er als unbelastet galt, wurde ihm im darauffolgenden Jahr die provisorische Leitung der Kinderklinik anvertraut. Er übte diese Aufgabe bis 1949 aus.

Schlussbemerkung

Asperger war ein Mann, der von der Jugendbewegung im katholischen Christentum seiner Zeit, vom Bund Neuland, zutiefst geprägt wurde. Nach der Promotion fand er, begünstigt durch die fachliche und persönliche – nicht politische oder ideologische – Nähe zum Klinikchef Hamburger eine Anstellung in der heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitätskinderklinik. Die Anstellung kam seiner Neigung zur ganzheitlichen, geisteswissenschaftlich geprägten Pädiatrie entgegen und ermöglichte jene Beschreibung des autistischen Kindes, die seinen wissenschaftlichen Ruhm begründete. Zum Konflikt musste es kommen, als sich im März 1938 die NS-Herrschaft, die er innerlich ablehnte, über Österreich legte. Auch Asperger hatte in einem gewissen Sinn das Pech, dass er in einer menschenverachtenden Diktatur leben musste und überleben wollte. Obwohl er im Herbst 1938 sein Ausscheiden aus der Kinderklinik ernsthaft in Betracht zog, blieb er – wohl auf Wunsch des Klinikchefs Hamburger – innerhalb des Apparats, der ihm Kompromisse abnötigte, um seinen Weg als zukünftiger Wissenschaftler weitergehen und eine wachsende Familie versorgen zu können. Der NSDAP und ihren ideologisch gewichtigeren Teilorganisationen trat er nie bei, signalisierte jedoch die unumgängliche Zustimmung, die jedes totalitäre Regime seinen BürgerInnen abnötigt, wenn sie lebensgefährlichen oder existenzbedrohenden Widerstand nicht wagen. Widerstand leistete er aber gegen die Meldepflicht von behinderten Kindern. Die Praxis einer „Euthanasie“ von Kindern war für ihn eigentlich denkunmöglich. Durch seine Einberufung zum Militär im Frühjahr 1943 milderten sich die Konflikte. Die im selben Jahr erfolgte Habilitation war nach Ansicht der Autoren nicht Krönung einer durch Zugeständnisse an die nationalsozialistischen Machthaber ermöglichten Karriere, sondern gedacht für ein Weiterwirken in der Zeit nach dem für alle einigermaßen Wachen absehbaren Ende der Schreckensherrschaft.