Die fachliche Differenzierung der Medizin, operativ und konservativ, wurde erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Einführung der Anästhesie und damit der Entwicklung einer elektiven Chirurgie möglich. Diese einfache, methodische Einteilung war in Anbetracht der unterschiedlichen Rahmenbedingungen bzw. der notwendigen Infrastrukturen sinnvoll und ist im Prinzip über die vergangenen 160 Jahre so fortgeschrieben worden. Natürlich war dieses Raster zu grob. Schon bald wurde klar, dass der medizinische Fortschritt einer weiteren Spezialisierung bedurfte. Diese erfolgte dann schrittweise, in erster Linie organbezogen. Das heutige Fächerspektrum entwickelte sich und ist noch immer in Bewegung.

Kaum erfährt das heutige Fächerspektrum eine allgemeine Anerkennung – die Widerstände dagegen sind mehr oder weniger aufgegeben –, da entwickelt sich das Fächerspektrum schon wieder weiter in eine überraschende Richtung: Die Fächergrenzen schwinden. Grund hierfür ist der Siegeszug der minimal-invasiven Technologien. Insbesondere dort, wo sich diese Technologien physiologischer „Wegesysteme“ bedienen können, ist ihr Siegeszug nicht mehr aufzuhalten (z. B. Gefäßsystem, Gastrointestinaltrakt etc.). Diese technologischen Entwicklungen stehen natürlich auch der konservativen Medizin zur Verfügung, so werden die konservativen Fächer immer invasiver; die operativen Fächer werden dagegen immer weniger invasiv. Irgendwann treffen sich konservative und operative Medizin. Der Graubereich zwischen beiden Bereichen wird immer breiter; irgendwann verschmelzen sie.

In der Kardiologie ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten. Herzklappen können konservativ transfemoral, aber auch operativ transapikal eingesetzt werden. Der Konkurrenzkampf zwischen Herzchirurgen und Kardiologen nimmt zu wie bereits zuvor in den Koronarien.

Ähnliches beobachtet man in der Gastroenterologie – die interventionelle Endoskopie und die minimal-invasive Chirurgie rücken immer dichter zusammen – insbesondere wenn man die aufregende Entwicklung der NOTES mit einbezieht.

Schließlich ist die interventionelle Radiologie auf der einen Seite willkommene Hilfe für die Chirurgie, auf der anderen Seite aber auch Konkurrenz. Am Aufregendsten ist die Entwicklung in der Gefäßmedizin, wo Gefäßchirurgie und interventionelle Radiologie in Symbiose leben.

Der Chirurg möchte in diesem Heft diese Entwicklung aufgreifen und in das Bewusstsein seiner Leser rücken. Die Zeit kommt, in der die Fächergrenzen sich organisatorisch ganz auflösen – irgendwann baut man nur organspezifische Kliniken und nicht mehr methodisch geprägte.

Prof. Dr. Dr. J.R. Siewert