Hintergrund

Epidemien und Pandemien sind durch stark gehäuftes, zeitlich begrenztes Vorkommen einer Infektionskrankheit gekennzeichnet. Sie sind nicht vorhersagbar und stellen eine Herausforderung für das Gesundheitssystem dar. Im Fall von Epidemien und Pandemien kommt es zu Unsicherheiten in der Allgemeinbevölkerung. Fragen über mögliche Schutzmaßnahmen, besondere Risikogruppen, Infektionsquellen, Übertragungswege, Symptome oder Folgen der Erkrankung bleiben aufgrund der neuen Qualitäten des veränderten oder bisher unbekannten Erregers zunächst unbeantwortet und verstärken die Verunsicherung.

Nach Erkrankungsausbrüchen durch SARS-CoV (Pandemie 2002/2003), H5N1 (Vogelgrippe, Epidemie 2006) und H1N1 (Schweinegrippe, Influenzapandemie 2009/10) kam es 2011 in Norddeutschland zu einer Erkrankungswelle durch das enterohämorrhagische Escherichia-coli -Bakterium (EHEC) vom Serovar O104:H4. Viele Veröffentlichungen zur Aufarbeitung der H1N1- und EHEC-Ausbrüche beschäftigten sich primär mit der stationären Versorgung [1], dem Impfgeschehen [27], dem Pandemie-Management und der Kommunikation aus Sicht der Behörden [4, 810]. Als Primärbehandler mit Koordinationsfunktion im Gesundheitssystem haben die Hausärztinnen und Hausärzte im Rahmen von Ausbrüchen eine Schlüsselroll e . Bisher liegen unseres Wissens keine wissenschaftlichen Untersuchungen darüber vor, welche Schwierigkeiten sich in der hausärztlichen Versorgung von Patienten während vergangener Ausbrüche in Deutschland ergaben.

Ziel dieser Untersuchung ist die Ermittlung von Problembereichen in der ambulanten hausärztlichen Versorgung bei den jüngsten EHEC- und H1N1-Ausbrüchen durch offene, explorative, qualitative Interviews mit hausärztlich tätigen Ärztinnen und ÄrztenFootnote 1. Daraus können Empfehlungen zum Umgang mit zukünftigen Epidemien/Pandemien abgeleitet werden. Die Fragestellungen dieser Untersuchung lauten:

  1. 1.

    Welche Schwierigkeiten ergaben sich in der hausärztlichen Versorgung während der EHEC- und H1N1-Ausbrüche?

  2. 2.

    Welchen Handlungsbedarf gibt es, um die hausärztliche Versorgung von Patienten während Epidemien/Pandemien zu gewährleisten?

Methoden

In dieser qualitativen Studie wurden semistrukturierte offene Leitfadeninterviews mit Hausärzten in den von der EHEC-Epidemie im Jahr 2011 primär betroffenen Städten Hamburg und Lübeck durchgeführt.

Rekrutierung

Die Auswahl der Kriterien zur Rekrutierung der zu befragenden Ärzte erfolg­te auf der Grundlage theoretischer Vorü­berlegungen hinsichtlich relevanter Merkmale [11]. Drei Aspekte wurden für die kriteriengesteuerte [11, 12] Auswahl der Ärzte (selektives Sampling [13]) als relevant erachtet: Praxisniederlassungsort, Verteilung der Praxen innerhalb der Städte und Geschlecht der Befragten. Hiernach wurden aus einer Gesamtliste aller hausärztlich tätigen Ärzte jeweils 6 Praxen in verschiedenen Stadtteilen von Hamburg und Lübeck so ausgewählt, dass möglichst gleich viele weibliche und männliche Hausärzte in die Studie eingeschlossen wurden (◉ Tab. 1). Die Ärzte wurden telefonisch oder per Mail mit der Bitte um Studienteilnahme kontaktiert. Das Einverständnis zur Verwendung der Daten zu wissenschaftlichen Zwecken wurde von den Interviewerinnen vor Beginn der Interviews eingeholt. Die Interviews wurden persönlich oder telefonisch zwischen Dezember 2011 und August 2012 von ME, HH und EL durchgeführt.

Tab. 1 Zusammensetzung der Stichprobe der befragten Hausärztinnen und Hausärzte

Datenerhebung

Der Interviewleitfaden beinhaltete Fragen zu folgenden Themen: persönliche Wahrnehmung der EHEC- und Schweinegrippe-Ausbrüche, Einflüsse von Ausbrüchen auf die hausärztliche Praxis, Informationsgewinnung, Patientenanliegen und Herausforderungen in der Versorgung sowie Zusammenarbeit mit Krankenhäusern und Laboren. Wenn nötig, wurden von den Interviewerinnen vertiefende Nachfragen gestellt.

Die Interviews wurden digital aufgenommen, wörtlich transkribiert und während der Transkription pseudonymisiert. Nach Transkription der Interviews wurden die Tonbandaufnahmen sowie der Zuordnungsschlüssel gelöscht.

Die Auswertung der Transkripte erfolgte somit in anonymisierter Form. Die Transkripte wurden in Anlehnung an das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring [14] ausgewertet, dies diente der Reduktion der großen Materialmenge auf ein überschaubares Maß, ohne die wesentlichen Inhalte zu verlieren. Dabei wurden die Aussagen nach Themenbereichen geordnet, und für jede Kategorie wurde eine passende Überschrift formuliert. Das grundlegende Kategoriensystem wurde deduktiv auf Basis der Themen des Interviewleitfadens entwickelt und induktiv durch weitere sich aus dem Material ergebende, relevante Themenbereiche ergänzt. Die Kategorisierung erfolgte durch die Autorin M. Eisele, wurde im Rahmen der Projektarbeitsgruppe kritisch diskutiert und entsprechend den Anmerkungen überarbeitet.

Diese qualitative Methodik zielt darauf ab, ein möglichst breites Bild der Situation darzustellen, indem alle relevanten Aspekte beleuchtet werden. Die Relevanz der Aussagen wird jeweils aufgrund inhaltlicher Bedeutsamkeit der angesprochenen Themen für die Fragestellung interpretiert.

Ergebnisse

Die Befragten gaben an, dass die Patientenversorgung sowohl wäh rend des H1N1-Influenza- als auch während des EHEC-Ausbruches bewältigt werden konnte, da die Zahl der Erkrankten nicht so stark anstieg, wie zunächst befürchtet wurde, und die Erkrankungswellen relativ schnell abebbten. Insbesondere die Zusammenarbeit mit den Laboren im Rahmen der Ausbrüche (schnelle Diagnostik, hilfreiche und schnelle Informationen) wurde sehr positiv bewertet. Folgende Problemfelder, die die Patientenversorgung aus Sicht der Hausärzte bei bisherigen Ausbrüchen erschwert haben, wurden benannt.

Fehlende und zeitverzögerte Informationen

Die Befragten berichteten einheitlich, dass sie erstmalig von dem Ausbruch durch tagesaktuelle Medien gehört hatten. „Wir haben es erst aus der Zeitung erfahren und die KV [Kassenärztliche Vereinigung] Footnote 2 hat ein bisschen gebraucht und das Gesundheitsamt noch länger. (Frau H5 Abs. 5) Dabei hinkte „die Information immer ein bisschen der Sachlage hinterher […] Footnote 3 (Herr L1 Abs. 59).

Es wurde der dringende Bedarf geäußert, kontinuierlich aktualisierte fachliche Informationen von zentraler Stelle aktiv (per Fax oder E-Mail) zugetragen zu bekommen, die im Sinne einer Leitlinie klare Handlungsanweisungen beinhalten. Als Informationsinstanz wurden unter anderem die Kassenärztlichen Vereinigungen und das Gesundheitsamt benannt.

Informationsbedarf, der sich während der Erkrankungswellen ergab, wurde hinsichtlich der Themenbereiche „krankheitsspezifische Informationen“, „Finanzierung“ und „Organisatorisches“ benannt (◉ Tab. 2).

Tab. 2 Benannte Bereiche, zu denen Hausärzte im Fall einer Epidemie/Pandemie Informationen benötigen

Arbeitsbelastung

Die Angaben zur Arbeitsbelastung unterschieden sich stark und schwankten zwischen Äußerungen wie „Patientenaufkommen war nicht höher als sonst (Herr H2 Abs. 25) bis hin zu „Die Praxis lief über (Frau L4 Abs. 179). Viele der Befragten berichteten von einem erhöhten Zeitaufwand aufgrund der folgenden 3 Aspekte: 1) hohes Patientenaufkommen, 2) viele Anrufe „dass Patienten einfach anriefen und sich einfach mal erkundigen wollten, worauf sie achten müssen (Herr H1 Abs. 49) und 3) längere Dauer der Patientenkonsultationen „… denn dann erklären zu wollen, selbst wenn sie [an EHEC] erkranken, dass es dann nicht gleich bedeutet, dass sie an die Dialyse müssen oder dass sie sterben werden. Das war oft sehr, sehr zeitraubend. (Frau L5 Abs. 30) Grund dafür war die starke Verunsicherung der Patienten durch die Medien. „Also die Patienten, die waren schon hysterisch. (L3 Abs. 63) Bemerkenswert war, dass viele der Patienten keine bzw. milde Symptome aufwiesen, sodass viel Zeit für ihre Beruhigung – und nicht für ihre Behandlung – aufgewendet werden musste.

Als Gegengewicht zu den öffentlichen Medien wurde der Bedarf geäußert, 1) „in der breiten Masse verlässlich(Frau L4 Abs. 211) zu informieren und 2) den Praxen „durch das Gesundheitsamt ganz klare, schnelle [Patienten-]Informationen, die ich mir groß ins Wartezimmer hängen kann(Frau L4 Abs. 211), zur Verfügung zu stellen.

Unklare/ungedeckte Finanzierung

Diagnostische Maßnahmen

Da haben wir einen Test gemacht […] und dann ist man sich auch unsicher kann man das auf Krankenkassenkosten machen. Wird man vielleicht unter Regress genommen und bei solchen wichtigen Situation finde ich, […] das muss bezahlt werden.“ (Herr H2 Abs. 95) Die Unklarheit bei den Ärzten betraf nicht nur die Frage zur Übernahme der Kosten für die Diagnostik, sondern auch die zur Übernahme der Kosten für den Transport der Proben in spezielle Labore.

Arbeitsschutzmaterial

Die gängigen Schutzmaßnahmen für die als Erstbehandelnden fungierenden Hausärzte wurden als unzureichend wahrgenommen. „Jeder Krankenhausarzt, wenn es um Krankheit geht, kann sich schützen mit Mundschutzkappe und Füßlingen oder Kittel oder Schutzanzug oder wie auch immer. Aber wir Niedergelassenen gehen einfach so zum Patienten und gucken erstmal was er hat. […] Hausärzte sind die, die der Infektion am stärksten ausgesetzt, wenn sie hinzukommen von allen Ärzten überhaupt. Als Primärdiagnostiker sozusagen. (Frau H6 Abs. 177) Als zentraler Aspekt wurde dabei die fehlende Finanzierung von Arbeitsschutzmaterial kritisiert „… es gibt keine Gebührenordnung, die einen Schutzanzug bezahlt. (Frau H6 Abs. 179)

Patientenkonsultationen

Es wurde kritisiert, dass weder die höheren Patientenzahlen durch die Fallzahlbegrenzung, noch der zusätzliche Zeitaufwand für die Beruhigung panischer Patienten vergütet werden. „Aus finanziellen Gründen müsste ich eigentlich in Urlaub gehen wenn so was [eine Epidemie/Pandemie] kommt. Schnell zumachen und das kann es eigentlich nicht sein. (Herr H1 Abs. 97) Dabei wurde nicht infrage gestellt, dass es „natürlich erstmal um das Wohl der Patienten [geht], das weiß ich auch alles und das tun wir auch gerne […] aber ärgerlich ist dann, wenn man mit so viel mehr Arbeit, die man hat, letztendlich auch noch auf irgendwas sitzen bleibt.(Frau H4 Abs. 89) Die Angst vor Regressforderungen durch einen ausbruchbedingten Mehraufwand wurde deutlich. Als Vorschläge zur Abhilfe wurden zentrale Labore für Testungen mit Abholservice und die Einrichtung einer Ausnahmeziffer für die Diagnostik, unbürokratische Regelungen und leistungsgerechte Bezahlung genannt. Dabei wurde die Forderung geäußert, die Finanzierung für Krisensituationen vorab und nicht wie bisher post hoc zu klären, um Unsicherheiten während eines Ausbruches zu vermeiden.

Praxisorganisation

Die Organisation des Probentransports in spezielle Labore erwies sich als organisatorische Herausforderung, da hierfür keine Infrastruktur bestand. Ebenso wurde die Umgestaltung der Praxisräume zur Trennung potenziell infektiöser Patienten nach dem Pandemieplan kritisch bewertet. „Man muss das Wartezimmer, die Anmeldung, den Behandlungsraum […] muss ich Grunde komplett trennen und das muss man erst mal schaffen, weil man kann die anderen Patienten eben nicht versetzen deswegen, die kommen ja trotzdem und das muss man organisatorisch erst mal hinkriegen. (Frau L4 Abs. 197)

Versorgung der Erkrankten

Mit zunehmender Patientenzahl, die die Praxen primär aus Beunruhigung konsultierten, wuchs die Sorge der Ärzte „man könnte irgendjemanden übersehen(Frau H4, Abs. 51), der tatsächlich infiziert ist. Grundsätzlich wurden jedoch keine Schwierigkeiten benannt, die ambulanten Patienten ausreichend zu versorgen, auch Krankenhauseinweisungen verliefen problemlos. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass kaum schwere Fälle in der Praxis auftraten: „[…] wir saßen in unserer Praxis und haben gesagt wo sind die schwer kranken Patienten?(Frau H4 Abs. 65) Viele der tatsächlich Erkrankten begaben sich ohne Hausarztkontakt direkt in die Notaufnahme: „wir mussten wenige einweisen das hatten wir so hinterher erst erfahren, dass viele von sich aus gleich hingingen [in die Klinik], wenn sie blutige Durchfälle hatten.“ (Frau L4 Abs. 153) Es wurde berichtet, dass die Kliniken großzügig aufnahmen, schnell abklärten und dann wieder entließen.

Für zukünftige Ausbrüche wurde angeregt, eine zentrale Informationsstelle zur Orientierung darüber einzurichten, in welchen Krankenhäusern noch Aufnahmekapazitäten frei sind. Zusätzlich gab es den Vorschlag, die ambulante Versorgung durch (Haus-)Ärzte im Ruhestand im Ernstfall zu unterstützen.

Diskussion

Bei der Auswertung von 12 qualitativen Interviews mit hausärztlich tätigen Ärzten in Hamburg und Lübeck konnten 5 Bereiche identifiziert werden, in denen aus hausärztlicher Sicht Handlungsbedarf besteht, um die ambulante Patientenversorgung bei zukünftigen Epidemien/Pandemien sicherzustellen: Bereitstellung von Informationen für Hausärzte, Arbeitsbelastung, Finanzierung ausbruchbedingter Maßnahmen, Praxisorganisation sowie Versorgung der Erkrankten. Nachfolgend werden die Problembereiche und die Verbesserungsvorschläge der Ärzte kritisch diskutiert und Empfehlungen abgeleitet.

Stärken und Limitationen

Dies ist die erste Studie, in der hausärztlich tätige Ärzte zur Patientenversorgung während der EHEC- und H1N1-Epidemien/Pandemien in der hausärztlichen Praxis befragt wurden. Die Befragungen wurden zwar nur in Hamburg und Lübeck durchgeführt und die Aussagen wurden vor dem Hintergrund der vor Ort vorherrschenden Infrastruktur des Gesundheitswesens getroffen. Die zentralen Ergebnisse beziehen sich allerdings auf Aspekte, die im Gesundheitssystem deutschlandweit gültig sind. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass in ländlicheren Gegenden weitere Aspekte die Patientenversorgung beeinflussen können.

Die Auswahl der Befragten erfolgte anhand der für die Fragestellung relevant erscheinenden Merkmale „Stadt und Stadtteil des Praxisstandorts“ und „Geschlecht des Arztes“. Es ist nicht auszuschließen, dass auch das Alter eine Rolle bei der Einschätzung der Situation einen Einfluss haben kann. Wenn auch nicht im Rahmen des Samplings berücksichtigt, zeigt ◉ Tab. 1, dass es eine gewisse Variation des Alters der Befragten innerhalb der Standorte und der Geschlechtergruppen gab. Die Gruppe der unter 45-Jährigen ist dabei nicht vertreten, sodass die Ergebnisse primär die Einschätzungen von Niedergelassenen mit Praxiserfahrung widerspiegeln.

Die Interviews wurden sowohl persönlich als auch telefonisch durchgeführt. Da das Thema die berufliche Perspektive betraf, ist davon auszugehen, dass die telefonische Datenerhebung keinen Einfluss auf die Inhalte der Antworten hatte.

Im Rahmen dieser Studie wurden 12 hausärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte befragt. Aus der Befragung weiterer Ärzte hätten sich möglicherweise noch zusätzliche Aspekte ergeben. Nach Auswertung von ca. 80 % des vorliegenden Materials ergaben sich im Rahmen der Auswertung des restlichen Materials kaum noch substanzielle Erweiterungen des Kategoriensystems. Somit wird davon ausgegangen, dass ein großer Teil der für die Fragestellung relevanten Themen erfasst wurde und auch die Befragung weiterer Ärzte vergleichsweise wenig bis keine weiteren Aspekte erbracht hätte. Aus diesem Grund wurden keine weiteren Ärzte befragt.

Zuletzt ist anzumerken, dass im Fokus dieser Studie nur die hausärztliche Sichtweise stand. Akteure anderer Bereiche können zusätzliche Aspekte zur Bewältigung zukünftiger Epidemien/Pandemien benennen, die in die Diskussion zur Umsetzung von Empfehlungen einbezogen werden sollten.

Aktive Information durch zentrale Stelle

Die Informationspolitik der Behörden wurde bereits in früheren Publikationen als verbesserungswürdig eingestuft [4, 8]. „Die Ärzte in Klinik und Praxis wurden zwar durch ihre Verbände informiert, es ist jedoch zu prüfen, warum die Informationen dennoch nicht alle Ärztinnen und Ärzte erreicht haben.“ [7] Nach Durchführung dieser Untersuchung können wir den Informationsbedarf der hausärztlich tätigen Ärzte klar benennen (s. ◉ Tab. 2). Die Befragten äußerten Bedarf an einer aktiven und kontinuierlichen Kommunikationspolitik von zentraler Stelle. Laut Empfehlung der Bundesärztekammer zur ärztlichen Fortbildung gehören „Berufsbegleitende Aktualisierung des Wissens und kontinuierliche Erweiterung der fachlichen Kompetenz“ [15] zum Selbstverständnis der Ärzte, die als selbstständige Unternehmer arbeiten. Im Fall einer Epidemie/Pandemie mit vielen schwer erkrankten Patienten werden jedoch zuverlässige und gebündelte Informationen benötigt, damit sich die Ärzte primär der Patientenversorgung widmen können. Dies erfordert eine aktive Informationspolitik durch eine zuständige Stelle. Diese „zuständige Stelle“ ist für die freiberuflich tätigen Ärzte im deutschen Gesundheitssystem aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten auf nationaler und Landesebene für den Epidemie-/Pandemiefall nicht klar definiert. Es sollte eine Klärung der Zuständigkeit zwischen Fachgesellschaften, Selbstverwaltung und Institutionen des öffentlichen Rechts vorgenommen werden. Eine zentral zuständige Instanz, die die ambulante Ärzteschaft im Fall einer Epidemie/Pandemie aktiv informiert, sollte klar benannt werden. Diese Forderung deckt sich mit den Ergebnissen einer Studie von Masotti et al., in der ebenfalls der Bedarf an einer Verbesserung der Kommunikationsstrategien sowie die Vermeidung von widersprüchlichen Informationen aus verschiedenen Quellen gefordert wird [16].

Gesicherte Finanzierung ausbruchbedingter Maßnahmen

Die Bundesgesundheitsministerkonferenz erkannte bereits 2011, dass vor Eintreten einer Epidemie/Pandemie geklärt werden muss, inwiefern Impfungen und diagnostische Maßnahmen durch die Krankenkassen übernommen werden müssen [17]. Zur Abrechnung erforderlicher Speziallabore existiert die Ausnahmeziffer 32006, die verhindert, dass der Wirtschaftlichkeitsbonus abgeschmolzen wird. Voraussetzung für diese Ziffer ist allerdings ein durch Symptome naheliegender Verdacht auf eine meldepflichtige Erkrankung. Eine rein epidemiologisch begründete Diagnostik muss bei potenzieller Gefahr der Allgemeinheit durch das Gesundheitsamt veranlasst werden. Eine Diagnostik ohne Krankheitsverdacht wird auf das Budget des Arztes angerechnet und birgt die Gefahr einer Regressforderung.

Im Arbeitsschutzgesetz ist geregelt, dass die Kosten für die Beschaffung von Schutzartikeln weder den Praxisangestellten auferlegt werden dürfen, noch von den Kostenträgern übernommen werden [18],sie müssen also vom Hausarzt finanziert werden. Es besteht also die Gefahr, dass die Ärzteschaft im Ernstfall nicht die erforderlichen Maßnahmen zum Selbstschutz ergreift und es zu krankheitsbedingten Ausfällen kommen könnte. Eine unzureichende Bevorratung mit Artikeln zum Selbstschutz ist auch außerhalb Deutschlands bekannt [19, 20], ebenso die Einstellung, das Schutzmaterial müsse durch die Regierung gestellt werden [20].

Untersuchungen zeigten jedoch auch, dass sich nur 60–72 % der niedergelassenen Ärzte gegen die pandemische H1N1-Influenza impfen ließen [21, 22]. Begründet wurde dies mit Bedenken hinsichtlich der Sicherheit des Impfstoffs [22, 23]. Eine höhere Durchimpfungsrate auch unter der Ärzteschaft könnte krankheitsbedingte Ausfälle zumindest im Fall einer Influenzapandemie zusätzlich verringern. Voraussetzung dafür ist die Wahrnehmung der Influenza als schwere Erkrankung und der Impfung als sicher und wirksam [24].

Das grundsätzlich bestehende Regressrisiko kann die Ärzte in ihren Behandlungsentscheidungen beeinträchtigen. Deshalb wäre es hilfreich, die Finanzierung aller ausbruchbedingter Maßnahmen (Arbeitsschutzmaterial, Diagnostik und leistungsgerechte Vergütung) für den Fall einer Pandemie vorab zu klären. Hausbesuche können beispielsweise nur dann zulasten der Krankenkasse abgerechnet werden, wenn der Patient wegen einer Erkrankung nicht wegefähig ist, jedoch nicht aufgrund eines erhöhten Ansteckungsrisikos. Hausärzte könnten aber z. B. im Rahmen einer Katastrophenfallerklärung beauftragt und verpflichtet werden, Hausbesuche durchzuführen. Dann sollten eine angemessene Vergütung und entsprechendes Material zum Selbstschutz zur Verfügung gestellt werden.

Entlastung der ambulant tätigen Ärzte

Auch wenn die Arbeitsbelastung der Hausärzte bei der H1N1-Pandemie und der EHEC-Epidemien durch wenige schwer Erkrankte als moderat bezeichnet werden kann, zeigen Erfahrungen aus England, dass der hausärztliche Sektor im Ernstfall überlastet sein kann [25]. In den Pandemieplänen der Länder Hamburg und Schleswig-Holstein wird angenommen, dass zum Höhepunkt ei‑ner Pandemie 30 % der Bevölkerung erkrankt sind und zwei Drittel der Erkrankten eine hausärztliche Behandlung in Anspruch nehmen. Unter Berücksichtigung des krankheitsbedingten Ausfalls von ei‑nem Drittel der Ärzte würde dies 60 bis 70 zusätzliche Patienten pro Woche und Arzt ergeben. Berücksichtigt man dabei die Empfehlung, dass der stationäre Sektor entlastet werden soll [2628] und die ambulanten Ärzte nach Möglichkeit Hausbesuche durchführen sollen [27, 28], bleibt fraglich, ob dies durch den ambulanten Sektor geleistet werden kann. Diese potenzielle Überlastung wird bereits im Nationalen Pandemieplan angesprochen. Die darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Entlastung bleiben vage und benennen keine Zuständigkeiten [26].

Zur Entlastung wäre es deshalb hilfreich, für Praxen klare und einheitliche Patienteninformationen zur Verfügung zu stellen, die im Wartezimmer ausgehängt werden können. Dies könnte den Zeitaufwand für den Patientenkontakt reduzieren. Eine zentrale Rufnummer für Praxen zur Information über freie Krankenhausbetten würde die Einweisung von schwerstkranken Patienten erleichtern. Voraussetzung dafür ist, dass die Finanzierung der ausbruchbedingten Maßnahmen gesichert ist und sie außerhalb eines Praxisbudgets abgerechnet werden können. Im Fall einer tatsächlichen Überlastung könnten möglicherweise nach englischem Beispiel Callcenter eingerichtet werden, die die Erstabklärung bei einer Erkrankung übernehmen und die anhand eines erstellten Alg orithmus Symptome abfragen und ggf. Medikamente verordnen, die an definierten Institutionen abgeholt werden können [25].

Praxisorganisation

Der Nationale Pandemieplan sieht eine räumliche oder zeitliche Trennung potenziell infektiöser und nichtinfektiöser Patienten vor [26]. Die Umsetzung des Nationalen Pandemieplans wurde von einigen Befragten als schwierig bewertet. Teilweise beruht diese Einschätzung auf der Fehlinterpretation der Pandemiepläne, d. h. auf der Annahme, dass eine räumliche Trennung der Patienten erfolgen muss, diese aber aus baulichen Gründen nicht möglich ist. Rexroth und Buda zeigten, dass 74 % der befragten Allgemeinmediziner, Internisten und Kinderärzte eine räumliche und 38 % eine zeitliche Trennung während der H1N1-Pandemie durchführten [21]. Diese Zahlen könnten darauf hinweisen, dass auch eine zeitliche Trennung der Patientenströme nicht ganz einfach umsetzbar ist. Dies könnte mit den in unserer Studie als „panisch“ beschriebenen Patienten im Zusammenhang stehen. Deshalb stellt sich die Frage, ob eine zeitliche Trennung der Patientenströme im Ernstfall möglich sein wird.

Stärkung der primärärztlichen und koordinierenden Funktion der Hausärzte

Viele Erkrankten gingen im Rahmen des EHEC-Ausbruches direkt in die Notaufnahmen der Kliniken, die großzügig aufnahmen, schnell abklärten und wieder schnell entließen. Dies zeigt eine Verlagerung der ambulanten Aufgaben in den stationären Sektor. Im Ernstfall würden dadurch aber stationäre Kapazitäten für schwer kranke Patienten fehlen. Bei einer zukünftigen Epidemie/Pandemie sollte die koordinierende Funktion der Hausärzte durch eine aktive Informationspolitik gestärkt werden.

In Epidemien/Pandemien mit vielen leicht und wenigen schwer Erkrankten könnten die Notaufnahmen den ambulanten Sektor sogar entlasten. Daher sollten im Ernstfall notwendige Entlastungen entweder des ambulanten Sektors durch die Notaufnahmen der Kliniken oder des stationären Sektors durch Stärkung der primärärztlich koordinierenden Funktion der Hausärzte durch die jeweilige Informationspolitik situationsgerecht angestrebt werden.

Abschließende Bewertung

Die identifizierten Problembereiche sind nicht unabhängig voneinander. Bereits 2 Maßnahmen, 1) die schnelle, kompakte und korrekte Information der Bevölkerung und der Ärzte sowie 2) die vorab gesicherte Finanzierung ausbruchbedingter Maßnahmen, könnten einen direkten positiven Einfluss auf die Arbeitsbelastung der Hausärzte und die Behandlung der Patienten nach medizinischen Standards und somit auf die Sicherstellung der Patientenversorgung haben.

Die jüngsten Epidemien und Pandemien sind mit geringen Erkrankungsraten glimpflich verlaufen, und die Patientenversorgung war gewährleistet. Durch das aktuelle Finanzierungsmodell müssen die Hausärzte im Fall einer Epidemie /Pandemie mit schwerem Verlauf und hohen Zahlen an Erkrankten jedoch mit einem reduzierten Einkommen (durch Budget- und Fallzahlbegrenzung bei gleichzeitiger Regressbedrohung) und zusätzlich stark erhöhter Arbeitsbelastung rechnen. Aufgrund der vergleichsweise hohen Kapazitäten des deutschen Gesundheitssystems und des Gelöbnisses in der Beru fsordnung der Bundesärztekammer wird die Patientenversorgung mit erheblicher Mehrbelastung wahrscheinlich in irgendeiner Form gelingen. All erdings nicht, weil die Politik die dafür erforderlichen Voraussetzungen geschaffen hat, sondern aufgrund der Eigenmotivation der Ärzte, die aufgrund ihres ärztlichen Selbstverständnisses unabhängig von den Rahmenbedingungen alles tun werden, um die erkrankten Patienten zu versorgen. Sind damit die Interessen der Bevölkerung gewahrt?

Implikationen für die Praxis

Die vorliegende Untersuchung bildet die hausärztliche Sichtweise auf vergangene Epidemien/Pandemien ab. Die abgeleiteten Empfehlungen sollten in einem nächsten Schritt mit den Sichtweisen weiterer, im Rahmen von Epidemien/Pandemien betroffener Akteure interdisziplinär diskutiert werden und in die Überarbeitung der Notfallpläne (z. B. der Überarbeitung des Nationalen Pandemieplans) einfließen.

Fazit

Die zentralisierte Information der Bevölkerung und der Hausärzte, die Stärkung der Koordinationsfunktion der Hausärzte und die finanzielle Sicherung ausbruchbedingter Maßnahmen bergen ein erhebliches Potenzial, um die Versorgung erkrankter Patienten bei zukünftigen schweren Epidemien/Pandemien sicherzustellen.