Zusammenfassung
Seit Jahrzehnten sind ökonomische Evaluationsstudien beziehungsweise Kosten-Nutzen Analysen (KNA) ein Instrument zur Entscheidungsunterstützung beim Einsatz öffentlicher Mittel. Die in den letzten Jahren geführten Debatten zum Einbezug der KNA im deutschen Gesundheitswesen nahmen jedoch kaum Bezug auf die Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen der wissenschaftlichen Forschung. Stattdessen wurden KNA – und insbesondere auch das QALY-Konzept – a priori als „ungerecht“ und „diskriminierend“ dargestellt. Heute haben sie in Deutschland – im Gegensatz zum Ausland – faktisch keine Bedeutung, wenn es um Allokations- und Preisfindungsentscheidungen solidarisch finanzierter Gesundheitsleistungen geht. Damit verzichten wir auf ein wichtiges Instrument zur Bewertung medizinischer Maßnahmen und Entscheidungsvorbereitung. Die Methoden der KNA basieren auf Werturteilen, die es offenzulegen gilt. Die unkritische Befolgung der Ergebnisse von KNA kann auch zu Verteilungen führen, die Mindeststandards der Gerechtigkeit verletzen. Hier bedarf es distributiver Vorgaben und Kriterien, die im Diskurs der wissenschaftlichen Disziplinen und der Entscheidungsträger entwickelt werden müssen. Ein genereller Verzicht auf KNA macht Entscheidungen über die Ressourcenallokation jedoch nicht einfacher, denn gerade ihr Einbezug kann zu mehr Offenheit und Transparenz im System beitragen. Entsprechend ist für Deutschland ein dualer Weg zu empfehlen: Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit den methodischen Grundlagen der ökonomischen Evaluation sowie eine konsequente Anwendung dieser in den Entscheidungsprozessen im Gesundheitswesen.
Abstract
For decades, economic evaluation studies, or cost-benefit analyses (CBA), have been a tool for decision support in the use of public funds. Despite this, in the last few years, debates on the inclusion of CBAs in the German health care system have paid little attention to the findings and practical experiences of scientific research. CBAs – especially the QALY – were instead represented a priori as “unfair” and “discriminatory.” Today they have virtually no meaning when it comes to allocation and pricing decisions about publicly funded health services. Of course, CBAs are based on value judgments, which have to be communicated. They can lead to allocations that violate the minimum standards of justice. Here, distributive requirements and criteria are needed and must be developed in an interdisciplinary discourse. However, a general waiver of CBA does not make decisions about the allocation of resources easier, especially since its involvement can contribute to more openness and transparency in the system. Accordingly, for Germany a dual approach is recommended: an interdisciplinary exploration of the methodological foundations of economic evaluation and a consistent application of these in healthcare decision-making.
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Danksagung
Der Autor dankt zwei anonymen Gutachtern für die äußerst hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.
Interessenkonflikt
Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Graf von der Schulenburg, JM. Entscheidungsunterstützung durch gesundheitsökonomische Evaluation in Deutschland aus Perspektive der Wissenschaft. Bundesgesundheitsbl. 55, 660–667 (2012). https://doi.org/10.1007/s00103-012-1466-7
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00103-012-1466-7
Schlüsselwörter
- Gesundheitsökonomische Evaluation
- Kosten-Nutzen-Analyse
- Entscheidungsunterstützung
- Werturteil
- Deutschland