Problematik der Fremdbluttransfusion

In der Bundesrepublik Deutschland werden jährlich etwa 4 Mio. allogene Blutkonserven transfundiert, in den USA ca. 12–16 Mio. [24]. Trotz ständiger Weiterentwicklung der Verfahren zur Qualitätssicherung bei der Gewinnung und Transfusion von allogenem Blut (spezielles Antikörperscreening im Spenderblut, Auskreuzung aller für die Transfusion geplanten Blutkonserven), ist jede Fremdbluttransfusion noch immer mit einem „Restrisiko“ für den Empfänger verbunden (Tab. 1; Übersichten in [4, 47, 103]). An erster Stelle stehen dabei allergische Reaktionen, das transfusionsbedingte Lungenversagen („transfusion-related acute lung injury“, TRALI) und die Transfusion von empfängerinkompatiblem Blut (z. B. infolge Verwechslung von Kreuzblutproben oder Konserven), gefolgt von transfusionsassoziierten Infektionen mit viralen und bakteriellen Erregern. Der Stellenwert der durch allogene Transfusion induzierten Immunmodulation/-suppression wird noch diskutiert: Das Risiko postoperativer Wundinfektionen scheint positiv mit der Anzahl perioperativ transfundierter Fremdblutkonserven zu korrelieren [111]; die Datenlage bezüglich einer transfusionsassoziierten Erhöhung der Rezidivrate maligner Tumoren ist uneinheitlich [7, 43]. Insgesamt mehren sich die Hinweise, dass eine „liberale“ Transfusionsstrategie die Überlebensrate von Patienten verschlechtert. Dies konnte für Intensivpatienten, Patienten mit akutem Koronarsyndrom und herzchirurgische Patienten nach Anlage eines aortokoronaren Gefäßbypasses gezeigt werden, die auf Hämoglobin- (Hb-)Konzentrationen über 10 g/dl (6,21 mmol/l) transfundiert wurden [41, 54, 81, 86, 109].

Tab. 1 Risiken der Fremdbluttransfusion. (Ausführliche Übersicht in Karger et al. [47])

Etwa die Hälfte der 16 Mio. jährlich in den USA transfundierten allogenen Blutkonserven erhalten Patienten mit einem Lebensalter von über 65 Jahren [106]. Mit der allgemeinen Verbesserung des Gesundheitssystems steigen der prozentuale Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung und damit auch die Zahl großer chirurgischer Eingriffe mit hohen Blutverlusten. In den USA wird sich die Zahl der über 65-Jährigen nach neuesten Schätzungen bis zum Jahr 2030 mehr als verdoppeln; voraussichtlich werden dann allein in dieser Altersgruppe 12–13 Mio. Transfusionen allogenen Blutes erforderlich [106]. Insgesamt registriert die amerikanische Gesundheitsbehörde Food and Drug Administration (FDA) eine konstant rückläufige Spendebereitschaft in der Bevölkerung und rechnet im Jahr 2030 mit einer Fehlzahl von 4 Mio. Fremdblutkonserven. Was dies für die Kostenentwicklung im Transfusionswesen bedeuten wird, ist derzeit nicht abzusehen. Man geht jedoch davon aus, dass sich der Preis einer Fremdblutkonserve mindestens verdoppeln wird. Vergleichbare Berechnungen liegen für die Bundesrepublik Deutschland nicht vor. Die Entwicklung dürfte sich jedoch nicht wesentlich von der für die USA vorhergesagten unterscheiden.

Um das nach wie vor bestehende Restrisiko für den Patienten weiter zu senken und die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen bestmöglich zu kontrollieren, sollte die Transfusion von Fremdblut bei chirurgischen Eingriffen, wenn möglich, ganz vermieden, zumindest aber auf ein Mindestmaß reduziert werden. Voraussetzung hierfür ist – neben einer schonenden Operationstechnik und der konsequenten perioperativen Anwendung fremdblutsparender Maßnahmen (Übersicht in [32]) – die Nutzung der natürlicherweise vorhandenen „Anämietoleranz“ des menschlichen Organismus.

Stellenwert der natürlichen Anämietoleranz bei der perioperativen Einsparung von Fremdblut

Es besteht heute kein Zweifel mehr, dass der menschliche Organismus nicht auf seine „normale“ Hb-Konzentration angewiesen ist, sondern – Normovolämie vorausgesetzt – deutlich niedrigere Hb-Konzentrationen ohne Schädigung der Organfunktionen toleriert. Der operative Patient profitiert in verschiedener Hinsicht von einer Nutzung seiner natürlicherweise vorhandenen Anämietoleranz (Infobox „Vorteile bei perioperativer Nutzung der natürlichen Anämietoleranz“):

  1. 1.

    Je ausgeprägter der Grad der normovolämischen Verdünnungsanämie, desto geringer ist die Reduktion der zirkulierenden Erythrozytenmasse mit jedem Milliliter Blutverlust. Ein anämischer Patient toleriert bei gleichem absoluten Hb-Abfall größere Blutverluste als ein Patient mit normaler Hb-Konzentration, da er zunehmend „verdünntes Blut“ verliert.

  2. 2.

    Je vollständiger die Anämietoleranz des Patienten intraoperativ ausgeschöpft wird, desto länger kann der Transfusionsbeginn hinausgezögert werden – im Optimalfall bis nach erfolgreichem Abschluss der chirurgischen Blutstillung. Zudem kann im Rahmen einer maschinellen Autotransfusion (MAT) das aus dem Operationsfeld abgesaugte Blut gesammelt werden, und die darin enthaltenen Erythrozyten können nach Reinigung und evtl. hochenergetischer Bestrahlung (Tumorchirurgie) [39] retransfundiert werden. Je ausgedehnter die Ausschöpfung der Anämietoleranz des Patienten, desto mehr autologe Erythrozyten können gesammelt und aufbereitet werden. Je später mit der Retransfusion des MAT-Blutes begonnen wird, desto geringer ist der Nettoverlust an retransfundierter Erythrozytenmasse [19].

  3. 3.

    Die „Anämisierung“ des Patienten kann bereits präoperativ, iatrogen im Rahmen einer „akuten normovolämischen Hämodilution (ANH)“ erfolgen. Dem Patienten wird hierzu vor einem elektiven chirurgischen Eingriff – in der Regel nach Narkoseeinleitung und vor dem Hautschnitt – autologes Vollblut entnommen und simultan durch kolloidale und/oder kristalloide Infusionslösungen ersetzt. Je niedriger der Zielhämatokrit (Ziel-HKT) der ANH gewählt wird, desto mehr profitiert der Patient von den in (1) und (2) beschriebenen Mechanismen. Wird intraoperativ die individuelle Anämietoleranzgrenze des Patienten erreicht, steht zudem autologes Vollblut einschließlich sämtlicher Gerinnungsfaktoren und funktionsfähiger Thrombozyten zur Transfusion zur Verfügung, das ohne die Risiken der Fremdbluttransfusion verabreicht werden kann. Während in einzelnen klinischen Studien bei abdominal-, herzchirurgischen, orthopädischen, gynäkologischen, urologischen und mund-, kiefer- und gesichtschirurgischen Eingriffen die Effektivität der ANH bei der Einsparung von Fremdblut wiederholt eindrücklich nachgewiesen werden konnte [25, 33, 37, 68, 76, 80], war dieser Effekt nach Metaanalyse der in der Literatur vorhandenen Daten nicht eindeutig reproduzierbar [6, 93]. Eine der Hauptursachen hierfür dürfte das heterogene Transfusionsmanagement (Transfusionstrigger, Transfusionsvolumen etc.) in den einzelnen Studien sein, das die Vergleichbarkeit der untersuchten Patientenkollektive erschwert.

Vorgehen bei intraoperativen Blutverlusten

Ein akuter Blutverlust während eines chirurgischen Eingriffs wird nicht sofort durch die Transfusion von Erythrozyten, sondern zunächst durch die Infusion von Kristalloiden und Kolloiden therapiert (isotone kristalloide Infusionslösungen im Verhältnis 3:1 bis 4:1; isoonkotische kolloidale Infusionslösungen im Verhältnis 1:1).

Das Ziel dieses erythrozytenfreien Volumenersatzes ist die Wiederherstellung bzw. Aufrechterhaltung eines adäquaten Blutvolumens (Normovolämie) und einer normalen mikrovaskulären Organperfusion. Die Folge ist eine Verdünnung sämtlicher Blutbestandteile (Erythrozyten, Thrombozyten, Gerinnungsfaktoren und der Komponenten des Fibrinolysesystems), eine sog. Hämodilution. In Allgemeinanästhesie wird eine „normovolämische Hämodilution“ bis auf sehr niedrige Hb-Konzentrationen bzw. HKT-Werte ohne Gefährdung von Organperfusion, -oxygenierung und -funktion toleriert („natürliche Anämietoleranz“ des menschlichen Organismus). Erst beim Unterschreiten eines „kritischen“ Gewebe-O2-Angebots („kritische“ DO2) ist diese natürliche Anämietoleranz erschöpft, und es manifestiert sich Gewebehypoxie [30].

Mechanismen der natürlichen Anämietoleranz

Mit zunehmender Verdünnung der zirkulierenden Erythrozytenmasse (sog. Verdünnungsanämie) fallen während einer normovolämischen Hämodilution die Hb-Konzentration, der HKT-Wert sowie der arterielle Sauerstoffgehalt (CaO2) exponentiell ab. Trotz einer somit unmittelbar resultierenden „anämischen Hypoxämie“ bleibt eine ausreichende Versorgung der Organgewebe jedoch zunächst über weite Strecken erhalten („Gewebenormoxie“). Die entscheidenden Mechanismen, die dieser natürlichen Anämietoleranz des menschlichen Organismus zugrunde liegen sind (Infobox „Mechanismen der natürlichen Anämietoleranz“):

  1. 1.

    Anstieg des Herzzeitvolumens (HZV), in Allgemeinanästhesie initial ausschließlich über einen Anstieg des ventrikulären Schlagvolumens, bei ausgeprägteren Verdünnungsstufen zusätzlich über Tachykardie; das O2-Angebot an die Gewebe (DO2) – definiert als das Produkt aus HZV und CaO2 – fällt erst nach Hämodilution auf HKT-Werte unter ca. 25% (0,25) [(Hb ca. 8 g/dl (4,96 mmol/l)] unter seinen Ausgangswert ab [100]. Bei wachen Individuen wird der HZV-Anstieg bereits initial durch Tachykardie kompensiert.

  2. 2.

    Anstieg der Gesamtkörper-O2-Extraktion.

  3. 3.

    Physiologischerweise vorhandener Unterschied zwischen makro- und mikrovaskulärem (kapillärem) HKT („Luxus-HKT“). Der mikrovaskuläre HKT unterschreitet seinen Normalwert erst nach einem Abfall des makrokapillären HKT von 30–50% (0,30–0,50; Übersicht in [85]).

  4. 4.

    Physiologische „Luxusversorgung“ der Körpergewebe mit O2 („Luxus-DO2“). Unter Normalbedingungen übersteigt das O2-Angebot (DO2) den O2-Bedarf der Körpergewebe um einen Faktor 3–4 (Abb. 1a, (1)). Dies bedeutet, dass DO2 zunächst ohne Konsequenz für die Gewebe-O2-Versorgung reduziert werden kann. Der O2-Bedarf der Gewebe bleibt gedeckt und der O2-Verbrauch (VO2) konstant (sog. O2-Angebotsunabhängigkeit des O2-Verbrauches). Diese Konstanz der VO2 reflektiert eine adäquate Versorgung der Organgewebe mit O2 (Abb. 1a, Absch. (2)).

Die beschriebenen Kompensationsmechanismen einer normovolämischen Anämie sind für das Ausmaß der Anämietoleranz eines Organismus entscheidend. Sie können auch bei Säuglingen [89], Kindern [1, 17], alten Patienten [96], kardial vorerkrankten Patienten [59] und Patienten unter chronischer β-Rezeptor-Blockade [97] nachgewiesen werden.

Grenzen der natürlichen Anämietoleranz – Konzept der „kritischen“ DO2

Anämietoleranz des Gesamtorganismus

Erst bei extremer Hämodilution wird ein Punkt erreicht, an dem sich O2-Angebot (DO2) und O2-Bedarf des Gesamtorganismus die Waage halten (Abb. 1a, (3)). Man spricht von der sog. „kritischen“ DO2 (DO2 krit). Das Unterschreiten von DO2 krit ist mit einem konsekutiven Abfall der VO2 als Zeichen einer beginnenden Mangelversorgung der Gewebe mit O2 und damit einer beginnenden Gewebehypoxie vergesellschaftet (sog. Angebotsabhängigkeit der VO2) [8] (Abb. 1a, Abschnitt (4)). Der Organismus deckt jetzt seinen Energiebedarf zunehmend über anaerobe Glykolyse, und als Folge dessen steigt die Serumlaktatkonzentration. Diejenige Hb-Konzentration bzw. derjenige HKT-Wert, an dem diese physiologische Grenze der Anämietoleranz erreicht ist, wird als „kritische“ Hb-Konzentration (Hbkrit) bzw. als „kritischer“ HKT-Wert (HKTkrit) bezeichnet. Ohne Intervention (hyperoxische Beatmung oder Transfusion) tritt beim Unterschreiten von HKTkrit innerhalb kurzer Zeit (zwischen 15 min und maximal 3 h) der Tod des Organismus ein [71].

Abb. 1
figure 1

a Schematische Darstellung der Veränderungen von Gesamtkörpersauerstoffangebot (DO2) und Sauerstoffverbrauch (VO2) während der Entwicklung einer Verdünnungsanämie (z. B. beim Ersatz eines intraoperativen Blutverlustes durch erythrozytenfreie Infusionslösungen). Die Graphik muss von rechts (beginnend bei normaler DO2) nach links (zunehmende Verdünnungsanämie) gelesen werden (Erläuterungen im Text). b Veränderungen von Gesamtkörpersauerstoffangebot (DO2) und Sauerstoffverbrauch (VO2) während der Entwicklung einer Verdünnungsanämie in vivo bei einem narkotisierten Hausschwein. Minütliche Bestimmung des Gesamtkörper-VO2 mithilfe eines metabolischen Monitors (DeltaTrac). Die Graphik muss von rechts (beginnend bei normaler DO2) nach links (zunehmende Verdünnungsanämie) gelesen werden. (Erläuterungen im Text)

Die Anämietoleranz des Gesamtorganismus kann beeindruckende Dimensionen annehmen: Bei gesunden, wachen Probanden war die kritische DO2 selbst nach Hämodilution auf Hb 4,8 g/dl (2,98 mmol/l) nicht erreicht [61]. Bei herzgesunden Versuchstieren und Patienten in Allgemeinanästhesie wurde die Grenze der Verdünnungsanämie bei einem HKT zwischen 12% (0,12) und 3% (0,03), entsprechend Hb-Konzentrationen zwischen 3,3 und 1,1 g/dl (2,05 und 0,68 mmol/l) gefunden (Tab. 2). Säuglinge (1–7 Monate) [89] und ältere Kinder (12,5 Jahre) [17] tolerierten Hb-Konzentrationen von 3 g/dl (1,86 mmol/l) und niedriger, ohne dabei ihr kritisches O2-Angebot zu unterschreiten. Bei trächtigen Schafen blieb die fetale Gewebeoxygenierung bis zu einem mütterlichen HKT von 15% [0,15; Hb 5 g/dl (3,10 mmol/l)] erhalten [83].

Tab. 2 Übersicht über kritsche Hämoglobinkonzentrationen (Hbkrit) bzw. kritische Hämatokritwerte (HKTkrit) im Tierexperiment und bei Patienten

Eine Angabe allgemein gültiger Zahlenwerte für die minimal tolerable Hb-Konzentration ist jedoch unmöglich, da DO2 krit, Hbkrit und HKTkrit sowohl inter- als auch intraindividuell unterschiedlich sind und von einer Reihe von Faktoren beeinflusst werden, auf die im Abschn. „Einflussfaktoren auf die perioperative Anämietoleranz“ dieses Artikels näher eingegangen wird.

Organspezifische Grenzen der Anämietoleranz

Die im vorigen Abschnitt beschriebenen (patho)physiologischen Zusammenhänge beziehen sich auf O2-Transport und Gewebeoxygenierung des Gesamtorganismus. Es ist daher nicht auszuschließen, dass einzelne Organe ihre organspezifische DO2 krit zu einem früheren Zeitpunkt, d. h. bei einer höheren Hb-Konzentration bzw. einem höheren HKT-Wert erreichen als der Gesamtorganismus. Dies birgt die Gefahr einer bereits manifesten spezifischen Organgewebehypoxie noch vor dem Auftreten entsprechender Veränderungen auf der Ebene des Gesamtorganismus. Es soll daher im Folgenden auf die organspezifische Anämietoleranz und deren Grenzen eingegangen werden.

Myokard

Das Herz nimmt während einer normovolämischen Verdünnungsanämie eine exponierte Stellung ein, da es einerseits „Motor“ der physiologischen Kompensationsmechanismen der Anämie ist (Steigerung des HZV), gleichzeitig aber auch das „kritische Organ“ für die anämische Gewebehypoxie darstellt. Da die O2-Extraktion des Myokards bereits unter Normalbedingungen nahezu maximal ist, wird die Verdünnungsanämie hauptsächlich über eine Steigerung des myokardialen Blutflusses kompensiert. Voraussetzung hierfür ist eine vollständige Ausnutzung der Koronarreserve, d. h. eine maximale koronare Vasodilatation.

Im Tierexperiment (Allgemeinanästhesie, intaktes Koronargefäßsystem) blieben spezifische Parameter der systolischen und diastolischen linksventrikulären Funktion bis zu sehr niedrigen Hb-Konzentrationen [Hb 5–7 g/dl (3,10–4,34 mmol/l)] unbeeinträchtigt [26, 31, 45]. Erst bei extremster Hämodilution [Hb <3 g/dl (<1,86 mmol/l)] manifestierten sich isolierte Veränderungen der diastolischen Ventrikelfunktion [28] bzw. Elektrokardiogramm- (EKG-)Veränderungen (ST-Streckensenkung) [49], die als Zeichen einer myokardialen Gewebehypoxie gewertet werden müssen.

Bei wachen Probanden, bei denen die Verdünnungsanämie in erster Linie durch Tachykardie kompensiert wird (vgl. Abschn. „Mechanismen der natürlichen Anämietoleranz“), konnten bei einer Hb-Konzentration von 5–7 g/dl (3,10–4,34 mmol/l) in 5% der Fälle (3 von 55 Probanden) ST-Segmentveränderungen nachgewiesen werden [55]. Es existieren jedoch auch Fallberichte herzgesunder Patienten, bei denen hypoxiespezifische EKG-Veränderungen in Allgemeinanästhesie auch bei extremster Anämie nicht [Hb 2,7 g/dl (1,68 mmol/l) [102], HKT 5% (0,05) [57]] oder nur sehr spät [2,1 g/dl (1,30 mmol/l) [17], 1,1 g/dl (0,68 mmol/l) [120]] auftraten. Es muss allerdings in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass die mittlere Sensitivität der ST-Streckenanalyse bei der Detektion von Myokardischämie/-hypoxie nur etwa 68% (23–100%) beträgt [22] und somit eine Myokardhypoxie vorliegen kann, obwohl im EKG hinweisgebende Veränderungen fehlen.

Insgesamt scheint das Erreichen der myokardialen DO2 krit die Anämietoleranz des Gesamtorganismus quoad vitam wesentlich zu bestimmen. Beim Unterschreiten der myokardialen DO2 krit bricht die Kompensation der Verdünnungsanämie kartenhausartig zusammen, und es manifestiert sich eine Gesamtkörpergewebehypoxie mit akuter Lebensgefahr.

Gehirn

In Analogie zum Myokard besteht auch für das Gehirn der Hauptkompensationsmechanismus einer Verdünnungsanämie in der Zunahme des zerebralen Blutflusses. Zusätzlich kann die zerebrale O2-Extraktion wesentlich gesteigert werden. Die Anämietoleranz der grauen Substanz des Hirngewebes hängt entscheidend von Aktivität und Funktionsstoffwechsel des Gehirns ab. Bei gesunden Freiwilligen, die wach einer akuten normovolämischen Hämodilution unterzogen wurden, verschlechterte sich die zerebrale Funktion (Gedächtnisübungen, neuropsychologische Tests) bei einer Hb-Konzentration von 5,1 g/dl (3,16 mmol/l) [112] bzw. 5,7 g/dl (3,54 mmol/l) [113] signifikant. Die zum gleichen Zeitpunkt bestimmte periphere und zentrale Nervenleitgeschwindigkeit (somatosensorisch evozierte Potenziale) blieb unbeeinflusst [114]. Allerdings konnte eine verlängerte Latenzzeit des P300-Potenzials (akustisch evozierte Potenziale) nachgewiesen werden, die als Hinweis für eine Beeinträchtigung der zentral-nervösen Prozessverarbeitung gedeutet werden kann [116].

In Allgemeinanästhesie wird üblicherweise eine vollständige Suppression des zerebralen Funktionsstoffwechsels beobachtet. Aufgrund einer konsekutiven Abnahme des zerebralen O2-Bedarfes sollte somit die Anämietoleranz in Allgemeinanästhesie zunehmen. Tatsächlich lagen die im Tierexperiment ermittelten zerebralen Hbkrit-Werte in Allgemeinanästhesie niedriger [Hbkrit 3,5–5 g/dl (2,17–3,10 mmol/l)] [5, 77] als bei wachen Individuen und unterschieden sich insbesondere nicht von denjenigen des Gesamtorganismus [5].

Splanchnikusorgane

In Analogie zu Herz und Gehirn steigen die Blutflüsse bei einer Verdünnungsanämie auch in Magen, Leber, Pankreas und Dünndarmmukosa kompensatorisch an [53, 72, 79]. Während HKT-Werte von 20% (0,20) [27, 52] und 14% (0,14) [79] im Tierexperiment ohne Einschränkung der Gewebeoxygenierung und Organfunktion toleriert wurden, war die Anämietoleranz der intestinalen Mukosa bei HKTkrit 10% (0,10) erschöpft [5, 36]. Ein statistisch signifikanter Unterschied zu HKTkrit des Gesamtorganismus konnte nicht nachgewiesen werden [5].

Niere

Im Gegensatz zu allen anderen bisher beschriebenen Organen konnte im überwiegenden Anteil der tierexperimentellen Modelle während akuter normovolämischer Hämodilution auf HKT-Werte zwischen 15–20% (0,15–0,20) kein Anstieg des renalen Blutflusses beobachtet werden (Übersicht in [27]). Ursächlich hierfür scheint eine über das Renin-Angiotensin-System induzierte renale Vasokonstriktion [94]. Nach Hämodilution auf HKT 20% (0,20) waren zwar keine pathologischen Veränderungen der Nierenfunktion zu beobachten [27]; Messungen der renalen Hbkrit fehlen allerdings bislang.

Identifikation der Anämietoleranzgrenze

Aus den Erläuterungen der (patho-)physiologischen Grenzen einer Verdünnungsanämie ergibt sich, dass die Transfusion von Erythrozyten aus pathophysiologischer Sicht zwingend erst bei vollständiger Ausschöpfung der natürlichen Anämietoleranz des Patienten und damit Erreichen der kritischen O2-Transportkapazität des Blutes notwendig wird (Abb. 1a, (3)). Die weiter oben postulierte maximale Ausschöpfung der natürlichen Anämietoleranz zur Einsparung von Fremdbluttransfusionen setzt jedoch eine zeitlich unmittelbare und absolut sichere Detektion von DO2krit voraus, da an diesem Punkt sämtliche Kompensationsreserven des Organismus vollständig ausgeschöpft sind.

Die in Tab. 3 aufgeführten Methoden stehen zur Identifikation von DO2 krit zur Verfügung.

Tab. 3 Methoden zur Identifikation des kritischen Gewebe-O2-Angebotes (DO2krit)

Messung des Gesamtkörper-O2-Verbrauchs

Die verlässlichste Methode zur Bestimmung der Gesamtkörper-DO2krit ist die kontinuierliche Atemgasanalyse mit z. B. minütlicher Berechnung der Gesamtkörper-VO2 (metabolische Monitore, DeltaTrac II, Oxycon Pro). Kann der O2-Bedarf der Organgewebe durch die DO2 nicht mehr gedeckt werden, sinkt die VO2 als Zeichen von Gewebehypoxie unmittelbar ab (Abb. 1a, b). Mithilfe einer speziell entwickelten Computersoftware kann dieser VO2-Abfall untersucherunabhängig mit hoher Präzision identifiziert werden [70].

Alternativ können DO2 und VO2 aus den mithilfe eines Swan-Ganz-Katheters ermittelten Daten errechnet werden (Fick-Methode). Im Gegensatz zur direkten Messung mit metabolischen Monitoren ist dieses Verfahren jedoch diskontinuierlich, invasiv, risikobehaftet und mit zunehmender Verdünnungsanämie ungenau (Unterschätzung der VO2 [48]).

Elektrokardiographie und transösophageale Echokardiographie

Aus Veränderungen der Erregungsrückbildung (EKG), der regionalen kardialen Wandbewegung und der diastolischen Ventrikelrelaxation (transösophageale Echokardiographie, TEE) kann indirekt auf ein Ungleichgewicht zwischen myokardialem O2-Bedarf und -Angebot geschlossen werden. Da der Zusammenbruch der kardialen Kompensation der Verdünnungsanämie zwangsläufig auch zu generalisierter Gewebeminderperfusion und -hypoxie führt, ist das kontinuierliche Monitoring myokardialer Ischämie-/Hypoxiezeichen zwar prinzipiell zur indirekten Bestimmung der systemischen DO2 krit geeignet. Allerdings liegt die Sensitivität beider Verfahren bezüglich der Detektion von Myokardischämie/-hypoxie im Mittel nur bei 68–84%, sodass beim Fehlen pathologischer Prodromi eine beginnende Gewebehypoxie nicht sicher ausgeschlossen werden kann [20, 22].

Gemischtvenöse und zentralvenöse Blutgasanalyse

Weder die gemischtvenöse (SVO2) bzw. zentralvenöse O2-Sättigung (ScVO2) noch die korrespondierenden O2-Partialdrücke (pVO2, pcVO2) sind – isoliert betrachtet – zur Identifikation der systemischen DO2krit geeignet. Beide Parameter verändern sich im Laufe einer Hämodilution kontinuerlich. Ein mit der DO2/VO2-Beziehung vergleichbarer definierter Umschlagpunkt (Abb. 1a, (3)) existiert nicht [87]. Zudem sind beide Parameter in hohem Maße von intravasalem Volumen, Organblutfluss und inspiratorischer O2-Fraktion (FIO2) abhängig. Im Tierexperiment lag die mit der jeweiligen Hbkrit korrespondierende SVO2krit bei Beatmung mit Raumluft (FIO2 0,21) zwischen 30 und 46%, der korrespondierende pVO2 zwischen 23 und 32 mmHg [49, 65, 82, 87, 104]. In eigenen Untersuchungen bei narkotisierten Hunden (FIO2 0,21) wurden bei einer Hbkrit von 2,7±0,6 g/dl (1,68±0,37 mmol/l) eine kritische zentralvenöse O2-Sättigung (ScVO2krit) von im Mittel 59% (Spannweite 37–83%) und ein pcVO2 von im Mittel 35 mmHg (Spannweite 28–40 mmHg) ermittelt (bisher unveröffentlichte Daten). Aktuell wird eine ScVO2 von 65–70% bei Patienten als interventionswürdig angesehen [15, 88]. Voraussetzungen für eine valide Interpretation sind die korrekte Positionierung der Zentralvenenkatheterspitze in der V. cava superior und der Auschluss von Hypovolämie.

Hämodynamik

Tachykardie [115] und Hypotonie [16] treten im Laufe einer Hämodilution regelhaft auf und können, isoliert betrachtet, nicht zur Identifikation der systemischen DO2krit herangezogen werden. Tachykardie kompensiert bis zu einem gewissen Grad die Verdünnungsanämie. Die Stickstoffmonoxid- (NO-)vermittelte periphere Vasodilatation kann problemlos mit einem α-Rezeptor-spezifischen Vasokonstriktor (z. B. Noradrenalin) aufgehoben werden. Im Tierexperiment ließ sich durch die Stabilisierung des diastolischen Aortendrucks und somit des koronaren Perfusionsdrucks mit Noradrenalin eine signifikante Steigerung der Anämietoleranz nachweisen [74].

Serumlaktatkonzentration

Die in der Klinik üblicherweise bestimmte Gesamtserumlaktatkonzentration resultiert aus den organvenösen Laktatkonzentrationen der einzelnen Organsysteme und lässt nicht auf eine organspezifische Herkunft des Laktats schließen. Es ist daher denkbar, dass die Laktatproduktion eines hypoxischen Organgewebes unentdeckt bleibt, da es allein nicht in der Lage ist, die Gesamtlaktatkonzentration im Serum zu erhöhen. Zudem ist die Kinetik von Laktatproduktion und -metabolismus (Herz, Leber) interindividuell sehr variabel und dadurch nur schwer abschätzbar. Im Tierexperiment ließ sich eine Laktazidose teilweise erst Stunden nach dem Abfall der Gesamtkörper-VO2 nachweisen [71]. Bei eingeschränkter Leberfunktion oder Laktatproduktion durch enterale Mikroorganismen kann die Serumlaktatkonzentration hingegen ansteigen, ohne dass eine Gewebehypoxie vorliegt [3].

Perioperative Mortalität

In der klinischen Praxis ist es oftmals schwierig, die Grenze der individuellen Anämietoleranz des Patienten anhand der vorgenannten Parameter zu identifizieren. Hilfestellung bei der Einschätzung einer perioperativ auftretenden Verdünnungsanämie quoad vitam leisten die Ergebnisse umfangreicher Patientenstudien, in denen der Zusammenhang zwischen postoperativer Anämie und Mortalität der Patienten analysiert wurde. In der Regel stammen diese Daten von Zeugen Jehovahs, die keine Fremdbluttransfusion für sich akzeptieren. Bis zu einer postoperativen Hb-Konzentration von 8 g/dl (4,96 mmol/l) konnte auch bei alten Patienten mit kardiopulmonalen Vorerkrankungen [9, 10] sowie bei multimorbiden Intensivpatienten [11, 41, 109] kein statistischer Zusammenhang mit einer erhöhten postoperativen Letalität hergestellt werden. Bei anämischen Patienten [Hb <8 g/dl (<4,96 mmol/l)], deren Tod kausal mit einer Anämie in Verbindung zu bringen war, lag die Hb-Konzentration immer unter 5 g/dl (3,10 mmol/l) [108]. In Einzelfällen wurden jedoch auch deutlich niedrigere Hb-Konzentrationen bis zu 1,5 g/dl (0,93 mmol/l) ohne Transfusion überlebt (Übersicht in [23]).

Einflussfaktoren auf die perioperative Anämietoleranz

Wie bereits im Abschn. „Anämietoleranz des Gesamtorganismus“ angedeutet, ist die Aufstellung allgemein gültiger Zahlenwerte für die minimal tolerable Hb-Konzentration unmöglich, da DO2 krit, Hbkrit und HKTkrit sowohl inter- als auch intraindividuell unterschiedlich sind und von einer Reihe verschiedener Faktoren beeinflusst werden (Tab. 4).

Tab. 4 Einflussfaktoren auf die perioperative Anämietoleranz

Intravasales Blutvolumen

Grundvoraussetzung für die effektive Kompensation einer Verdünnungsanämie ist Normovolämie. Während einer hypovolämischen Hämodilution steigt der Gesamtkörper-O2-Bedarf katecholaminmediiert an. DO2krit wird bei Hypovolämie bereits bei höheren Werten erreicht als während Normovolämie. Die Anämietoleranz des Organismus ist während einer Hypovolämie reduziert [92].

Myokardperfusion und -funktion

Wie bereits im Abschn. „Myokard“ dargestellt, ist die Steigerung des myokardialen Blutflusses durch maximale koronare Vasodilatation die Grundvoraussetzung für einen adäquaten Anstieg des HZV während einer Verdünnungsanämie. Dieser Mechanismus ist bei sklerotisch veränderten Koronargefäßen eingeschränkt. Die natürliche Anämietoleranz ist somit zwar reduziert, aber dennoch weiterhin vorhanden.

Im Tierexperiment traten bei narkotisierten Hunden mit einer experimentellen, hochgradigen (50–80%) Koronarstenose myokardiale Ischämiezeichen und/oder eine Verschlechterung der Herzfunktion erst bei Hb-Konzentrationen zwischen 7 und 10 g/dl (4,34 und 6,21 mmol/l) auf [21, 35, 56]. Ähnliche Ergebnisse fanden sich auch in klinischen Untersuchungen: In Allgemeinanästhesie und bei konsequenter Aufrechterhaltung von Normovolämie blieben die kardialen Kompensationsmechanismen auch bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung und chronischer β-Blockade bis zu einer Hb-Konzentration von 8–10 g/dl (4,96–6,21 mmol/l) vollständig erhalten [59, 97]. In einer retrospektiven Kohortenanalyse von 1958 kardialen Risikopatienten, die sich nichtkardiochirurgischen operativen Eingriffen unterziehen mussten und aus religiösen Gründen (Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovahs) Fremdbluttransfusionen ablehnten, fand sich eine signifikant erhöhte postoperative Mortalität erst, wenn eine postoperative Hb-Konzentration von 8 g/dl (4,96 mmol/l) unterschritten wurde [9].

Bei kardiochirurgischen Patienten erwies sich eine postoperative Hb-Konzentration von 8 und 10 g/dl (4,96 und 6,21 mmol/l) als gleichwertig [46]. Narkotisierte Patienten mit Mitralinsuffizienz und Vorhofflimmern tolerierten eine Hämodilution auf Hb 10,3±0,4 g/dl (6,39±0,25 mmol/l) problemlos [98]. Bei narkotisierten Patienten mit hochgradiger Aortenstenose (KÖF 0,6±0,1 cm2) waren die kardialen Kompensationsmechanismen der Anämie bei Hb 9,1±0,9 g/dl (5,65±0,56 mmol/l) erschöpft [58].

Bei Intensivpatienten mit kardialer Vorerkrankung, die entweder restriktiv [Ziel-Hb 7–9 g/dl (4,34–5,59 mmol/l)] oder liberal [Ziel-Hb 10–12 g/dl (6,21–7,45 mmol)] transfundiert wurden, fand sich kein Unterschied bezüglich der 30-Tage-Letalität [41]. In einer retrospektiven Analyse von 1841 Patienten mit akutem Myokardinfarkt konnte Anämie [Hb ≤10 g/dl (≤6,21 mmol/l)] als unabhängiger Faktor für eine geringere 30-Tage-Überlebensrate identifiziert werden [66]. Eine retrospektive Analyse von 78.974 Patienten mit akutem Myokardinfarkt ergab eine höhere 30-Tage-Überlebensrate, wenn mit der Transfusion bereits ab einem HKT von 33% [0,33, d. h. Hb <11 g/dl (<6,83 mmol/l)] begonnen wurde [119]. Demgegenüber stehen die Ergebnisse einer weiteren Analyse von 24.112 Patienten mit akutem Koronarsyndrom [86]: Während eine bei HKT-Werten zwischen 20 und 25% [0,20 und 0,25, (d. h. Hb 7–8 g/dl (4,34–4,96 mmol/l)] begonnene Transfusion keinen Effekt auf das Überleben der Patienten hatte, war eine bei HKT-Werten über 30% [0,30, Hb 10 g/dl (6,21 mmol/l)] begonnene Transfusion sogar mit einer höheren Patientensterblichkeit vergesellschaftet. Neueste tierexperimentelle Daten deuten darüber hinaus darauf hin, dass sich eine normovolämische Anämie [Hb 8–9 g/dl (4,96–5,59 mmol/l)] während Koronarokklusion und anschließender Reperfusion günstig auf die Größe des Myokardinfarktareals und die Letalität auswirken könnte [60]. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind dabei noch unklar. Lediglich Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz [New-York-Heart-Association- (NYHA-)Klassifikation III und IV] könnten von höheren Hb-Konzentrationen [Hb 11–12 g/dl (6,83–7,45 mmol/l)] profitieren [44].

Inspiratorische O2-Fraktion

Die Beatmung mit supranormaler FIO2 (sog. hyperoxische Beatmung) steigert den Anteil des physikalisch gelösten O2 am arteriellen O2-Gehalt. Trotz seiner geringen O2-Löslichkeit in Plasma wird der physikalisch gelöste O2 bei einer Verdünnungsanämie zu einer für die Gewebeoxygenierung höchst relevanten biologischen Größe und deckt in dieser Situation bis zu 75% des Gesamtkörper-O2-Bedarfes [30]. In aktuellen experimentellen und klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass die hyperoxische Beatmung die Anämietoleranz signifikant steigert [30, 71, 82, 99] und dadurch einen Sicherheitsbereich für die globale [29, 30, 71, 101], myokardiale [28, 30, 51, 73], gastrointestinale [50] und zerebrale [113, 116] Gewebeoxygenierung schafft. Im Tierexperiment sicherte die hyperoxische Beatmung das Überleben an der Hbkrit für mehr als 6 h, während mit Raumluft beatmete Kontrolltiere innerhalb von 15 min bis 3 h verstarben [71].

Muskelrelaxierung

Quergestreifte Skelettmuskulatur macht etwa 30% der Körpermasse aus. Es konnte bereits am Patienten nachgewiesen werden, dass eine suffiziente Muskelrelaxierung den Gesamtkörper-O2-Bedarf relevant senkt [107]. Im Tierexperiment führte die Muskelrelaxierung mit Rocuronium bei narkotisierten Schweinen zu einer Zunahme der Anämietoleranz: Hbkrit mit vs. ohne Muskelrelaxation 2,4±0,5 g/dl (1,49±0,31 mmol/l) vs. 3,4±0,8 g/dl (2,11±0,50 mmol/l); p<0,05 (eigene bisher unveröffentlichte Daten).

Körpertemperatur

Hypothermie reduziert den Gesamtkörper-O2-Bedarf und sollte sich daher positiv auf die Anämietoleranz auswirken. Zwar konnte im Tierexperiment bei narkotisierten Schweinen durch Absenken der Körpertemperatur von 38 auf 32°C kein signifikanter Effekt auf die Hbkrit nachgewiesen werden [Hbkrit normo- vs. hypotherm 2,3±0,2 (1,43±0,12 mmol/l) vs. 1,9±0,6 (1,18±0,37 mmol/l), p=0.053]. Allerdings verstarben die hypothermen Tiere bei einer signifikant niedrigeren Hb-Konzentration [Hb 1,4±0,5 g/dl (0,87±0,31 mmol/l)] als die normothermen [Hb 1,9±0,3 g/dl (1,18±0,19 mmol/l)] [84].

Wahl des Anästhetikums und Narkosetiefe

Nahezu alle untersuchten Narkotika supprimierten in höherer Dosierung den HZV-Anstieg und die Gewebe-O2-Extraktion bei Verdünnungsanämie. Im Tierexperiment konnte eine dosisabhängige Verringerung der Anämietoleranz für Halothan, Enfluran und Isofluran sowie Ketamin, Propofol, Etomidat und Pentobarbital nachgewiesen werden [62, 64, 65].

Wahl der Infusionslösung

Für die üblicherweise bei einer Hämodilution verwendeten kolloidalen Infusionslösungen ließ sich kein substanzspezifischer Effekt auf die Anämietoleranz nachweisen [63]. Beim Einsatz von Infusionslösungen mit intrinsischer O2-Transportkapazität („künstliche O2-Träger“ auf der Basis von isoliertem menschlichen und tierischen Hb bzw. Perfluorokarbonen) konnte die Anämietoleranz hingegen sowohl im Tierexperiment als auch bei Patienten signifikant gesteigert werden (Übersicht in [34]). Allerdings stehen derzeit in der Bundesrepublik Deutschland keine zugelassenen Präparate zur Anwendung zur Verfügung.

Pulmonaler Gasaustausch

Die Frage, ob akute bzw. chronische Hypoxämie (z. B. infolge schwerer „chronic obstructive pulmonary disease“, COPD, oder „acute respiratory distress syndrome“, ARDS) die Anämietoleranz eines Organismus per se einschränkt oder sogar die Transfusion auf supranormale Hb-Konzentrationen erfordert, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Tierexperimentelle Daten sprechen dafür, dass auch der hypoxämische Organismus weiterhin eine nahezu uneingeschränkte Anämietoleranz besitzt: So kompensierten narkotisierte Schweine eine schwerste Hypoxämie (paO2 25–35 mmHg) in identischem Maße – unabhängig davon, ob die Tiere zuvor auf einen HKT von 11% (0,11) hämodiluiert worden waren oder nicht [91]. Während bei Patienten mit schwerster COPD durch die Transfusion von Hb 8,7 g/dl (5,40 mmol/l) auf Hb 12 g/dl (7,45 mmol/l) und höher eine deutliche Beschleunigung des Weaningprozesses von der maschinellen Beatmung nachgewiesen werden konnte [90], war die Dauer des Weanings in einer anderen Untersuchung unabhängig davon, ob eine restriktive [Ziel-Hb 7–9 g/dl (4,34–5,59 mmol/l)] oder eine liberale [Ziel-Hb 10–12 g/dl (6,21–7,45 mmol/l)] Transfusionsstrategie zum Zuge kam [42].

Sepsis

Obwohl die Sepsis mit einer generalisierten Mikrozirkulations-, O2-Extraktions- und O2-Verwertungsstörung vergesellschaftet ist, verfügt auch der septische Organismus weiter über eine Anämietoleranz. Bei Intensivpatienten war die 30-Tage-Letalität unabhängig davon, ob eine restriktive [Ziel-Hb 7–9 g/dl (4,34–5,59 mmol/l)] oder eine liberale [Ziel-Hb 10–12 g/dl (6,21–7,45 mmol/l)] Transfusionsstrategie angewandt wurde [41]. Die maximale Anämietoleranz scheint bei Sepsis allerdings, wie erwartet, reduziert zu sein: Im Tierexperiment bei wachen Ratten war die DO2krit bei septischen Tieren signifikant höher als bei gesunden Tieren [78].

Polytrauma

Bei polytraumatisierten Intensivpatienten mit einem mittleren „injury severity score“ (ISS) von 25 Punkten war die 30-Tage-Letalität unabhängig davon, ob eine restriktive [Ziel-Hb 7–9 g/dl (4,34–5,59 mmol/l)] oder eine liberale [Ziel-Hb 10–12 g/dl (6,21–7,45 mmol/l)] Transfusionsstrategie angewandt wurde [69]. Bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma erhöhte dagegen die Transfusion von Hb 8,7 g/dl (5,40 mmol/l) auf Hb 10,2 g/dl (6,33 mmol/l) den zerebralen Gewebe-pO2 signifikant [95].

Schwangerschaft

Während einer Schwangerschaft greift der menschliche Organismus auf seine natürlicherweise vorhandene Anämietoleranz zurück. Aufgrund des überproportionalen Anstiegs des Plasmavolumens im Vergleich zur Erythrozytenmasse entwickelt sich eine normovolämische Schwangerschaftsanämie, die erst bei Hb-Konzentrationen unter 10 g/dl (6,21 mmol/l) als unphysiologisch betrachtet wird. Eine Verdünnungsanämie bis Hb 7 g/dl (4,34 mmol/l) wird von Mutter und Kind problemlos toleriert [25]. Im Tierexperiment blieben die plazentare Perfusion und die fetale Oxygenierung bei wachen Schafen bis zu einem HKT-Wert von 14–15% [0,14–0,15, Hb ca. 5 g/dl (3,10 mmol/l)] unverändert [13, 14, 83].

Vorbestehende chronische Anämie

Während chronischer Anämie (z. B. bei chronischer Niereninsuffizienz, Tumorleiden, chronischer Entzündung) entwickeln sich identische Kompensationsmechnismen (insbesondere Steigerung der Gewebe-O2-Extraktion, später HZV-Anstieg,) wie bei akuter Anämie. Darüber hinaus steigt der intraerythrozytäre Gehalt an 2,3-Diphosphoglycerat mit der Folge einer Rechtsverschiebung der HbO2-Dissoziationskurve und einer erleichterten O2-Abgabe an die Organgewebe an. Dennoch verfügt der chronisch anämische Patient bei zusätzlichem Auftreten einer akuten Verdünnungsanämie nicht über eine über das normale Maß hinausgehende Anämietoleranz und muss nach denselben Prinzipien behandelt werden wie der Patient ohne vorbestehende chronische Anämie.

Transfusionsindikation

Die Transfusion von Erythrozyten ist zwar zwingend erst bei vollständiger Ausschöpfung der natürlichen Anämietoleranz des Patienten indiziert. In der klinischen Routine bleibt diese Situation – nicht zuletzt in Ermangelung eines adäquaten Monitorings – jedoch auf spezielle Sonderfälle beschränkt (z. B. unerwartete große Blutverluste bei Zeugen Jehovahs, unerwarteter Engpass bei der Bereitstellung von Fremdblut etc.).

In der Praxis wird – trotz eines zunehmend restriktiven Transfusionsverhaltens – angestrebt, immer einen Sicherheitsbereich für die Gewebeoxygenierung einzuhalten (Tab. 5 und 6). Die derzeit geltenden Empfehlungen (American Society of Anesthesiologists, ASA, [2]; College of American Pathologists [12]; Bundesärztekammer [110]) decken sich dahingehend, dass

Tab. 5 Tolerable minimale Hämoglobin- (Hb-)Konzentrationen in der perioperativen Phase und bei Patienten auf der Intensivstation
Tab. 6 Evidenzstufen
  1. 1.

    bis zu einer Hb-Konzentration von 10 g/dl (6,21 mmol/l) auch bei alten Patienten und Patienten mit kardiopulmonalen Begleiterkrankungen eine Transfusion von Erythrozyten in der Regel nicht notwendig ist und

  2. 2.

    eine Transfusion bei jungen, gesunden Patienten ohne kardiopulmonale Vorerkrankungen (einschließlich Schwangeren und Kindern) erst ab einer Hb-Konzentration von <6 g/dl (<3,72 mmol/l) notwendig wird.

Darüber hinaus besteht heute weitestgehend Einigkeit, dass bei Risikopatienten (Alte, kardiopulmonal Vorerkrankte) eine Hb-Konzentration von 8–10 g/dl (4,96–6,21 mmol/l) toleriert werden kann, wenn eine ausgeglichene Flüssigkeitsbilanzierung (Vermeidung von Hypovolämie) sowie die engmaschige Kontrolle von globaler Hämodynamik (Herzfrequenz, Blutdruck), Hb-Konzentration und Drainageinhalten (frühzeitige Erkennung einer Nachblutung) in der unmittelbar postoperativen Periode (Aufwachraum, Normalstation) gewährleistet werden kann. Die häufig postulierte eingeschränkte Mobilisierbarkeit alter Patienten mit Anämie (insbesondere nach traumatologisch/orthopädischen Eingriffen) konnte bis dato anhand kontrolliert erhobener Daten nicht bestätigt werden [38]. Die Transfusion auf Hb-Konzentrationen >10 g/dl (>6,21 mmol/l) zur Beschleunigung der Rehabilitation kann nicht empfohlen werden.

Bei Intensivpatienten mit Sepsis und Polytrauma können Hb-Konzentrationen von 7–9 g/dl (4,34–5,59 mmol/l) ohne Transfusion toleriert werden, bei herzchirurgischen Patienten Hb-Konzentrationen von 8–10 g/dl (4,96–6,21 mmol/l). Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma scheinen von einer Hb-Konzentration von 10 g/dl (6,21 mmol/l) zu profitieren.

Beim Auftreten von „physiologischen Transfusionstriggern“ (katecholaminrefraktäre hämodynamische Instabilität, EKG bzw. TEE-Veränderungen, Laktacidose, zentralvenöse SO2 <65%) vor dem Erreichen der genannten Hb-Richtwerte, sind diese – nach zuvor erfolgtem Ausschluss von Hypovolämie und Narkoseproblemen – bei der Indikationsstellung zur Transfusion führend.

Die Dynamik des Blutverlustes muss in die Entscheidung zur Transfusion miteinbezogen werden. Bei massiver Blutungen sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Erythrozyten physiologisch zur Stabilisierung der Blutgerinnung beitragen (u. a. Aktivierung/Modulierung der Thrombozytenfunktion, Margination der Thrombozyten in den endothelnahen Gefäßrandstrombereich; Übersicht in [40]). Bei fortbestehender diffuser Blutung trotz adäquater Substitution aller Komponenten des Gerinnungssystems kann daher eine Transfusion auf HKT-Werte von 30–35% [0,30–0,35, Hb 10–11 g/dl (6,21–6,83 mmol/l)] auch ohne Vorliegen von Transfusionstriggern in Erwägung gezogen werden [40].

Nach wie vor ist nicht sicher geklärt, ob beim Auftreten von Transfusionstriggern möglichst frische Erythrozytenkonzentrate (Alter <10–15 Tage) transfundiert werden sollten. Es konnte bereits wiederholt nachgewiesen werden, dass der Abfall des pH-Wertes und der Adenosintriphosphat- (ATP-)Konzentration in gelagerten Blutkonserven trotz des Zusatzes von Additivlösungen (CPDA-1, SAG-Mannitol, PAGGS-Mannitol etc.) bereits nach kurzer Zeit (3–5 Tagen) zu morphologischen und funktionellen Veränderungen der Erythrozyten (Bildung von Sphärozyten, reduzierte Verformbarkeit der Erythrozytenmembran, reduziertes 2,3-Diphosphoglycerat, gesteigerte O2-Affinität) führen. Die Wiederherstellung normaler 2,3-Diphosphoglycerat-Konzentrationen und damit physiologischer O2-Transport-Eigenschaften benötigt nach Transfusion „alter“ Erythrozytenkonzentrate (>7 Tage) zwischen 24 und 36 h. Es ist davon auszugehen, dass die transfundierten Erythrozyten in dieser Zeit nur unzureichend an der Gewebeoxygenierung teilnehmen. Die mangelnde Effektivität gelagerter Erythrozytenkonzentrate (>15 Tage) bei der Gewebeoxygenierung konnte zwar im Tierexperiment und am Patienten nachgewiesen werden [67, 105], wird aber durch neueste Daten bei wachen Probanden widerlegt [117]. Wenn möglich, sollte daher autologes Blut (ANH-, MAT-Blut) transfundiert werden, bei dem diese Problematik nicht zum Tragen kommt.

Fazit für die Praxis

Der menschliche Organismus ist nicht auf seine „normale“ Hb-Konzentration angewiesen, sondern verfügt über eine physiologische Anämietoleranz. Die perioperative Nutzung dieser natürlichen Anämietoleranz ermöglicht zumindest die Reduktion, im Idealfall sogar die vollständige Vermeidung von Fremdbluttransfusionen. Die Anämietoleranz ist intra- und interindividuell unterschiedlich: Narkose, Hyperoxämie, komplette Muskelrelaxierung und milde Hypothermie steigern die Anämietoleranz; Hypovolämie, eingeschränkte Koronarreserve, Herzinsuffizienz, zu tiefe Narkose, Polytrauma und Sepsis reduzieren sie. In Narkose scheint sich die Anämietoleranz des Gesamtorganismus nicht von derjenigen des Gehirns und des Splanchnikussystems zu unterscheiden. Die myokardiale und renale Anämietoleranz sind dagegen geringer ausgeprägt.

Eine geplante vollständige Ausschöpfung der perioperativen Anämietoleranz scheitert an der unzureichenden Sensitivität und Spezifität der in der klinischen Praxis zur Verfügung stehenden Monitoring-Parameter. Die technisch aufwändige und kostenintensive Bestimmung der Gesamtkörper-VO2 mithilfe metabolischer Monitore bleibt wissenschaftlichen Fragestellungen vorbehalten.

Bei jungen, gesunden Patienten ohne kardiopulmonale Vorerkrankungen (einschließlich Schwangeren und Kindern) ist eine Erythrozytentransfusion erst ab einer Hb-Konzentration von <6 g/dl (<3,72 mmol/l) notwendig. Bei alten Patienten und Patienten mit kardiopulmonalen Begleiterkrankungen kann eine Hb-Konzentration von 8–10 g/dl (4,96–6,21 mmol/l) toleriert werden, wenn eine adäquate postoperative Überwachung (Vermeidung von Hypovolämie, frühzeitige Erkennung einer Nachblutung) gewährleistet ist. Die Transfusion auf Hb-Konzentrationen >10 g/dl (>6,21 mmol/l) zur Beschleunigung der Mobilisierung nach operativen Eingriffen kann nicht empfohlen werden. Bei Intensivpatienten mit Sepsis und Polytrauma können Hb-Konzentrationen von 7–9 g/dl (4,34–5,59 mmol/l) ohne Transfusion toleriert werden. Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma scheinen von Hb 10 g/dl (6,21 mmol/l) zu profitieren; Gleiches gilt für Patienten mit massivem Blutverlust.