„Interdisziplinäre“ Wissenschaft: Visionen und Verwirrungen

Wenn heute von disziplinenübergreifender Wissenschaft die Rede ist, ist die Figur der Interdisziplinarität nicht weit. Hohe Erwartungen und Begriffsverwirrungen gehen hierbei Hand in Hand. So lädt etwa die Autorin einer aktuellen Publikation zur Inter- und Transdisziplinarität zur Diskussion da-rüber ein, „ob interdisziplinäre und transdisziplinäre Wissenschaft Formen sein könnten, sich mehr und anders am Projekt der permanenten Wieder- und Neuerfindung von Gesellschaft zu beteiligen“, und verknüpft dies mit der Frage, „wie sich Wissenschaft genauer, effektiver, angemessener, kontroverser, ehrlicher, glücklicher, expliziter, radikaler und revolutionärer einmischen kann und soll“ (Winiwarter 2014: 12). Zugleich gibt der Begriff allerdings gewisse Rätsel auf. Man kann sich die Verzweiflung vorstellen, die den Verfasser eines Lexikoneintrages erfasst haben muss, wenn er in einem traditionell nach Genauigkeit strebenden Genre den Satz zu Papier bringt: „Über die allgemein akzeptierte Forderung hinaus, dass I[nterdisziplinarität] eine größere Rolle in den Wissenschaften spielen solle, gibt es wenig Klarheit darüber, was I[nterdisziplinarität] bedeutet“ (Schlaeger 2008: 324).

Vielleicht mag es helfen, der Frage nach den Implikationen des Interdisziplinären nicht allein praktisch oder terminologisch, sondern auch historisch nachzugehen. Denn die Debatte um interdisziplinäre Wissenschaft ist ebenso ein Teil der Zeitgeschichte wie ein Phänomen der gegenwärtigen Wissenschaftskultur. Bereits die BegriffsgeschichteFootnote 1 der Bezeichnungen „interdisziplinär“/„Interdisziplinarität“ macht deutlich, dass es sich bei der Auseinandersetzung um Interdisziplinarität um ein Kind der jüngsten Vergangenheit handelt.Footnote 2 So wurde das Adjektiv „interdisziplinär“ – in Anlehnung an US-amerikanische Vorbilder – in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik geläufig.Footnote 3 Im darauffolgenden Jahrzehnt erhob sich diese Bezeichnung eines Zwischen dann als Substantiv zu einem Sachverhalt eigener GüteFootnote 4 und wurde bald als populär, ja geradezu modisch wahrgenommen. „Interdisziplinarität ist der wissenschaftsprogrammatische Slogan der 60er, sicher noch mehr der 70er Jahre“, konnte ein Text zur Friedensforschung so Mitte der 1970er Jahre erklären (Brinkmann 1974: 121).

Diese Betonung des zeithistorischen Charakters der Interdisziplinarität soll nicht darüber hinwegsehen, dass Klagen über eine allzu große wissenschaftliche Spezialisierung die Herausbildung der modernen Disziplinen seit ihren Anfängen begleitet haben.Footnote 5 Auch die häufig mit interdisziplinärer Wissenschaft assoziierten kooperativen und kollaborativen Praktiken gab es bereits vor dem 20. Jahrhundert (Nickelsen 2014). Das Auftreten einer neuen Bezeichnung für diese verweist aber darauf, dass es sinnvoll sein kann, Auseinandersetzungen um interdisziplinäre Wissenschaft als gegenwartsnahe Geschichte der Wissenschaft und ihrer angestrebten Erkenntnisweisen zu historisieren. Dieser Beitrag beschreibt Reflexionen über Interdisziplinarität daher als zeithistorische Ausprägungen einer bereits länger währenden Debatte um wissenschaftliche Spezialisierung und den Zusammenhang der Wissenschaften.

Die Auseinandersetzung mit Interdisziplinarität in der Bundesrepublik ist – anders als in den USAFootnote 6 – noch wenig historisch orientiert. Zwar haben Soziologen, Philosophen und Wissenschaftstheoretiker versucht, Interdisziplinarität zu definieren oder interdisziplinäre Praxis zu erfassen.Footnote 7 Neuere geschichtswissenschaftliche Publikationen haben das Thema zudem in den Kontext einer Wissens- und Ideengeschichte des Kalten Krieges gestellt (Rohstock 2013: 213–216; Bernhard et al. 2014: 31). Indem Diskussionen um disziplinenübergreifende Wissenschaft insbesondere im Zuge der Hochschulgründungs- und Hochschulreformdebatten der 1960er Jahre entstanden, finden sich Hinweise auch im Umfeld der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte dieser Zeit.Footnote 8 Allerdings fehlt bisher eine ausführliche historische Analyse, wie sich interdisziplinäre Wissenschaft in der Bundesrepublik als eine wissenschaftliche Leitvorstellung etablierte und sich dabei der Begriffe und Deutungsmuster einer international geführten Wissenschaftsdebatte bediente. Wenig wissen wir auch über den Stellenwert und die Deutungsmuster der Interdisziplinarität in der DDR, wo der Terminus ebenfalls verwendet wurde.Footnote 9 Aus diesem Grund muss dieser Beitrag vorläufig bleiben; er lädt ausdrücklich zu weiteren Erkundungen und Stellungnahmen ein.

Der Beitrag versucht, erste Schritte einer Wissenschafts- und Wissensgeschichte der Interdisziplinarität in der Bundesrepublik zu unternehmen. Er möchte zeigen, wie die in den 1950er Jahren noch wenig bekannte Formel von der „interdisziplinären“ Wissenschaft seit den 1960er Jahren eine verbreitete wissenschaftliche Zielvorstellung zu markieren begann. Das Hauptinteresse liegt hierbei auf den Wissenschaftsreflexionen, die den Ruf nach fächerübergreifender Zusammenarbeit jenseits konkreter Forschungspraktiken konturierten. Denn diese Reflexionen waren es mehr noch als die von ihnen thematisierten Handlungsweisen selbst, die Interdisziplinarität als eine zeitspezifische Figur des Denkens und Erkennens begründeten.

Der Beitrag gliedert sich in vier Teilabschnitte. Diese folgen den Zirkulationen und Transformationen interdisziplinärer Wissenschaft durch unterschiedliche Wissensfelder und Artikulationsformen (Sarasin 2011; Kilcher and Sarasin 2011). Der erste Abschnitt beschreibt zunächst, wie wissenschaftliche Texte das Adjektiv „interdisziplinär“ seit den 1950er Jahren in Anlehnung an US-amerikanische Vorbilder aufgriffen. Der zweite Abschnitt führt aus, wie parallel dazu wissenschaftspolitische und wissenschaftsorganisatorische Texte der frühen 1960er Jahre die Anregung disziplinenübergreifender Zusammenarbeit zu einem Ziel von Hochschulreform und Hochschulneugründungen erklärten. Die schwerpunktmäßig diskutierten Universitäten Bochum, Konstanz und Bielefeld verpflichteten sich so ausdrücklich der Förderung disziplinenübergreifender und interdisziplinärer Kooperation. Der dritte Abschnitt wendet den Blick vom Text zum Bild; er zeigt, wie sich das Leitziel einer Verflechtung der Disziplinen im Umfeld dieser Hochschulen als visueller Entwurf entfaltete. Der vierte Abschnitt schließlich folgt sprachlichen und visuellen Denkformen des Interdisziplinären zu Imaginationen einer diese ermöglichenden Materialität; er hebt hervor, dass Texte und Bilder Konzeptionen interdisziplinärer Wissenschaft nicht zuletzt auch auf die gebauten Umwelten der Wissenschaft beziehbar machten.

Die Auswahl der Quellen war daran orientiert, wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Kontexte gleichermaßen zu berücksichtigen. Die Quellen sollten zudem eine sprachorientierte Analyse interdisziplinärer Wissenschaft ermöglichen (vgl. hierzu insbesondere Schauz 2014; 2015), ohne aber die Geschichte der Interdisziplinarität auf diese engzuführen. Verwendet wurden deshalb wissenschaftliche Publikationen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, zentrale Dokumente des bundesdeutschen Hochschulausbaus und konzeptionelle Dokumente wie die Erklärungen der Gründungsausschüsse sowie Material zur Auseinandersetzung um die künftige räumliche und architektonische Gestaltung der genannten Hochschulen. Die Aussagen zur Nutzung der Begriffe „interdisziplinär“/„Interdisziplinarität“ in wissenschaftlichen Texten stützen sich im Wesentlichen auf die Nutzung volltextdurchsuchbarer Datenbanken. Systematisch ausgewertet wurden die Sammlungen DigiZeitschriften und jstorFootnote 10 für die Jahre bis 1965 für das Suchwort interdisz* bzw. bis 1974 für das Suchwort Interdisziplinar* und damit für die Zeit, in der das Adjektiv beziehungsweise das Substantiv neu auftraten.

Das Adjektiv „interdisziplinär“ in wissenschaftlichen Texten. Eine begriffsgeschichtliche Skizze

„Interdisziplinäre“ Wissenschaft hat keinen klaren Ausgangspunkt; sie ließe sich zeitlich auf ältere Reflexionen über die Schattenseiten disziplinärer Spezialisierung rückbeziehen und ist auch räumlich kaum eindeutig auf einen Herkunftsort einzugrenzen. Gleichwohl lässt sich festhalten, dass die Geschichte der Begriffe „interdisziplinär“/„Interdisziplinarität“ nicht als deutsche Geschichte beginnt. Auch wenn diese heute ihren festen Platz in der deutschen Sprache gefunden haben, handelt es sich bei ihnen um Importe aus der US-amerikanischen Wissenschaftsterminologie. Erste Nachweise des Wortes „interdisciplinary“ finden sich in den USA der 1920er und 1930er Jahre im Umfeld des Social Science Research Councils (Frank 1988: 91–93; Sills 1986; Abbott 2001: 131–132; Moran 2010: 13). Der Terminus begann seine Karriere damit im Umfeld der amerikanischen Sozialwissenschaften.

In den 1920er und 1930er Jahren blieb das Adjektiv allerdings auch in der US-amerikanischen Wissenschaft noch eher selten und war vielen konkurrierenden Begrifflichkeiten ausgesetzt.Footnote 11 Seinen Durchbruch als eine wissenschaftsnormative Figur erlebte es erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als es sich unter den Vorzeichen des Kalten Krieges mit einem Diskurs um Offenheit und Demokratie verband und „interdisziplinäres“ Forschen zu einer Vorgehensweise avancierte, die demokratische Tugenden wie geistige Flexibilität signalisieren wie forschend umsetzen sollte (Cohen-Cole 2014: 65–103; Frank 1988: 95–101). Seit 1950 erschien der Wortbestandteil „interdisciplinar*“ mit zunehmender Tendenz im Titel englischsprachiger wissenschaftlicher Publikationen, wobei er in den Geistes- und Sozialwissenschaften häufiger auftrat als in den Natur- und Ingenieurwissenschaften (Larivière and Gingras 2014: 188–190).

Das Aufkommen des Wortes „interdisziplinär“ in der Bundesrepublik wird in der Regel auf die frühen 1960er Jahre datiert (vgl. etwa Reinalter 2011: 168; Hilgendorf 2010: 913; Veit-Brause 2000: 22). In seinem auch heute noch häufig zitierten Beitrag im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ nennt Helmut Holzhey einen wissenschaftlichen Aufsatz zur Gruppenarbeit in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie aus dem Jahr 1960 als ersten ihm bekannten Verwendungsnachweis (Holzhey 1976, unter Verweis auf Bahrdt et al. 1960). Mit fortschreitender Digitalisierung des deutschsprachigen Buch- und Zeitschriftenmaterials ist es heute möglich, diesen Nachweis um weitere zu ergänzen. Auf diese Weise wird deutlich, dass das Adjektiv „interdisziplinär“ in der Bundesrepublik bereits seit Mitte der 1950er Jahre vereinzelt in wissenschaftlichen Texten verwendet wurde.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, stand das Gros dieser frühen Belegstellen in einem direkten Zusammenhang zur US-amerikanischen Forschung und Wissenschaft.Footnote 12 Wissenschaftliche Publikationen der 1950er und frühen 1960er Jahre, die das Wort „interdisziplinär“ verwendeten, thematisierten so zum einen Formen der Wissenschaftsorganisation in den Vereinigten Staaten.Footnote 13 Zudem erschien das Adjektiv in der Auseinandersetzung mit amerikanischen Forschungsarbeiten und Tagungen.Footnote 14 Insbesondere deutschsprachige Rezensionen englischsprachiger Veröffentlichungen griffen das Adjektiv „interdisciplinary“ direkt aus den besprochenen Texten auf, übersetzten es und transferierten es so in die deutsche Sprache.Footnote 15 Schließlich erschien das deutsche Wort „interdisziplinär“ auch in internationalen Zeitschriften, die mehrsprachig publiziert wurden – auch hier oftmals als direkte Übersetzung aus dem Englischen.Footnote 16

Dieser Bezug zur US-amerikanischen Wissenschaft und Forschung lockerte sich im Verlauf der 1960er Jahre. Interdisziplinäres Arbeiten wurde in den 1960er Jahren zwar durchaus noch als „neuartiger ‚approach’ für die wissenschaftliche Forschung“Footnote 17 wahrgenommen, und das Adjektiv erschien in wissenschaftlichen Texten kombiniert mit der Bezeichnung „international“.Footnote 18 Dennoch wurde es allmählich zu einem Teil der bundesdeutschen Wissenschaftssprache. Dies wird etwa deutlich, wenn ein Tagungsbericht 1964 von „interdisziplinär“ (in Anführungszeichen) als „dem beliebt gewordenen neuen terminus“ (Schiffers 1964: 33) spricht. 1965 bezeichnete ein Wissenschaftler in einem Vortrag „die Wortbildung ‚interdisziplinär’“ als „heute international durchgesetzt“ (Göppinger [1965] 1966: 1).

Disziplinenübergreifende Forschung und Lehre in wissenschaftspolitischen und wissenschaftsorganisatorischen Debatten

Das Adjektiv „interdisziplinär“ verbreitete sich damit in wissenschaftlichen Texten parallel zu umfassenderen Veränderungen der bundesdeutschen Hochschullandschaft. So hatte die Verdopplung der Studierendenzahlen zwischen 1955 und 1965 (Rohstock 2010: 25) zu einem erhöhten Druck auf die bestehenden Universitäten geführt und den Wunsch nach Neugründungen mit Entlastungsfunktion entstehen lassen. Zugleich entflammte in den 1960er Jahren eine Debatte über wissenschaftlich-universitäre Reformen, welche sich besonders auf die neu entstehenden Universitäten richteten.Footnote 19 In dieser Situation speiste und formte ein Krisendiskurs um eine zunehmende wissenschaftliche Zersplitterung durch Wachstum und Spezialisierung Forderungen nach intensivierter disziplinenübergreifender Kooperation in Forschung und Lehre.Footnote 20 Klagen über eine sich zersplitternde und ihre „Einheit“ verlierende Wissenschaft in den Zeiten der Massenuniversität trieben so die Suche nach Hochschulkonzepten an, die diesen Tendenzen entgegenwirken könnten.

Die Forderung nach disziplinenübergreifender Kooperation zog sich gleichsam leitmotivisch durch die „Anregungen des Wissenschaftsrates zur Gestalt neuer Hochschulen“ (1962), einem Schlüsseldokument des bundesdeutschen Hochschulausbaus (Anregungen 1962). Die „Anregungen“ diagnostizierten eine zunehmende Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen; diese begründete die Forderung, fächerübergreifende Kooperationen zu ermöglichen, um den Zusammenhalt der Wissenschaft zu stärken. Der Wissenschaftsrat stellte zunächst einen Prozess der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung fest, der nicht durchweg negativ konnotiert erschien; Ausdifferenzierung und Spezialisierung seien notwendigerweise erfolgt und parallel zum „Fortschritt der Wissenschaft“ verlaufen (ebd. Nr. 12). Vielmehr waren es die Konsequenzen der Spezialisierung, welche die „Anregungen“ als negativ beschrieben. Indem sich nämlich die wissenschaftlichen Teilgebiete ausfächerten, schien die „Einheit des Ganzen“ (ebd. Nr. 12a) gefährdet. Denn die Spezialisierung habe eine „Verselbstständigung der Teile“ (ebd. Nr. 18) der Universität begünstigt. Nicht weiter integriert, entwickele die Universität zentrifugale Tendenzen (ebd. Nr. 12a.). An die Stelle von Wissenschaft als einer ursprünglichen und durch die Universitäten vertretenen Einheit rückte so das Schreckbild eines zersplitterten, sich in seinen Eigendynamiken verfangenden Gemenges isolierter Teilwissenschaften.

Fächerübergreifende Kooperation schien demgegenüber geeignet, die konstatierte Zerfaserung und Zersplitterung von Wissenschaft und Universität aufzufangen. Da die „Idee der Vollständigkeit“ ohnehin nicht mehr verwirklicht werden könne, hielt es der Wissenschaftsrat stattdessen für ratsam, „eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fächergruppen zu ermöglichen“ (ebd. Nr. 13). Dementsprechend empfahl er etwa die Neueinrichtung „zentraler Institute“ mit der Aufgabe, „den durch die Spezialisierung gefährdeten Zusammenhang größerer Fachgebiete innerhalb einer Fakultät und über Fakultätsgrenzen hinaus wieder in gemeinsamer Arbeit herzustellen oder die Methoden und Ergebnisse verschiedener Disziplinen zur Lösung gemeinsamer, die Fachgrenzen übergreifender Probleme fruchtbar zu machen“ (ebd. Nr. 15). Ferner sei die bereits gegebene „Ordnung der Fächer“ daraufhin zu prüfen, ob innerhalb der traditionellen Gliederungen „Verbindungen zu benachbarten Fächergruppen“ hergestellt werden könnten (ebd. Nr. 13). Unter anderem zum Abbau von Animositäten zwischen den Disziplinen regte der Wissenschaftsrat an, auch die Ingenieurwissenschaften in die Universitäten mit einzubeziehen (ebd. Nr. 56).

Die Befürwortung fächerübergreifender Zusammenarbeit stellte sich in den Anregungen des Wissenschaftsrates somit nicht zuletzt als eine kompensatorische Anstrengung dar; sie plausibilisierte sich als das Bemühen, eine einstmals vorhandene Verbindung zwischen den Wissenschaftsdisziplinen zu „bewahren“ oder zumindest wissenschaftsnormativ zu kompensieren. Aus der eigenen Disziplin hinauszublicken wurde zur wissenschaftsmoralischen Verpflichtung gegenüber einer Vision von Wissenschaft als übergeordneter Ganzheit; fächerübergreifende Kooperation avancierte zum Fluchtpunkt einer mereologischen Verlusterzählung, in deren Folge es Teil und Ganzes der Wissenschaft neu zu bestimmen galt.Footnote 21

Anlehnend an die Überlegungen des Wissenschaftsrates, erlangte das Thema der disziplinenübergreifenden Zusammenarbeit in den Gründungsprozessen neuer Universitäten besondere Aufmerksamkeit. Insbesondere bei den Hochschulneugründungen Bochum, Konstanz und Bielefeld nahm das Ziel einer vermehrten Kooperation und Verbindung zwischen den wissenschaftlichen Teilbereichen einen hohen Stellenwert ein. So machte der Gründungsausschuss der Universität Bochum 1962 die Förderung einer „allseitige(n) Verflechtung der wissenschaftlichen Disziplinen“ zur Grundlage seiner Überlegungen über die Gestalt einer künftigen Hochschule.Footnote 22 In der Denkschrift zur Gründung der Universität Konstanz vom Juni 1965 war den angestrebten „Formen der Kooperation“ gar ein gesondertes Kapitel gewidmet. Dies sollte das „Gewicht, das der Gründungsausschuß der Kooperation in Konstanz zumißt“, hervorheben.Footnote 23 Auch in Bielefeld bildete die Ermöglichung disziplinenübergreifender Kommunikation und Kooperation ein Kernstück der Hochschulkonzeption.Footnote 24

Im Umfeld dieser Gründungsdiskussionen wurde nun auch das Adjektiv „interdisziplinär“ verwendet. Während die Empfehlungen zur Gründung der Universität Bochum von 1962 noch eher Formulierungen wie „Verflechtung“ und „Ganzes“ der Universität nutzten (Empfehlungen Bochum [1962] 1968: Nr. 392; Nr. 396), erschien drei Jahre später in Konstanz das Attribut „interdisziplinär“ sporadisch. Die eigentliche Betonung in den Empfehlungen des Gründungsausschusses lag hier zwar auf dem Begriff der „Kooperation“ – in Absetzung vom „team work“, das im Vergleich dazu stärker auf die Lösung eines einzelnen Problems ausgerichtet sei (Die Universität Konstanz [1965] 1968: Nr. 1432–1442). Der Gründungsausschuss hob aber hervor, dass in der Bildung von Gruppen für die wissenschaftliche Arbeit „ein so wichtiges und für das Gedeihen der interdisziplinären Forschung unentbehrliches Element“ liege, dass es bei der Berufung von Professoren für die neue Universität bedacht werden müsse (ebd. Nr. 1435). Im Anschluss an die Skizzierung von Möglichkeiten kooperativer Forschung formulierte der Gründungsausschuss zudem die Erwartung, „daß bei der beschränkten Studentenzahl auch in der Lehre die Wirkung dieser interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeit spürbar wird und damit die Studenten sich nicht nur im Horizont ihre Fächer bewegen“ (ebd. Nr. 1435). Darüber hinaus wandte er sich dagegen, „daß für Problemkreise oder Fachkomplexe, die ihrer Natur nach nur interdisziplinär zu bearbeiten sind, eigens Lehrstühle eingerichtet werden, die dann nur einem Teil des Ganzen gerecht werden“ (ebd. Nr. 1441).

In den Gründungsdokumenten der Universität Bielefeld erschien die Bezeichnung „interdisziplinär“ seit Mitte der 1960er Jahre an zentraler Stelle und vielfach wiederholt.Footnote 25 Nach der Denkschrift Helmut Schelskys zu den „Grundzüge(n) einer neuen Universität“ aus dem Jahr 1965 lagen in „(i)nterdisziplinäre(r) Forschung“ beziehungsweise in „interdisziplinärer Zusammenarbeit“ (Schelsky [1965] 1966b: 42–44) erhebliche Potenziale für den Fortgang der Wissenschaft: „Interdisziplinäre Forschung verschiedenster Art gehört heute zu den entscheidenden Grundlagen wissenschaftlichen Fortschritts und ist institutionell in die Hochschulen einzubauen“ (ebd. 38). Statt „Dauerinstitute für interdisziplinäre Forschungsaufgaben“ zu schaffen, welche „die zeitweilig fruchtbaren Fächerkombinationen zu einer Dauerspezialisierung erhebt und erstarren läßt“ (ebd. 43), regte Schelsky die Festlegung von „Universitätsthematiken“ als „Grundlage interdisziplinärer Zusammenarbeit“ an und schlug vor, „interdisziplinäre Forschungsprojekte“ zu verabreden (ebd. 42–44).

Die „Re-Integration“ der Disziplinen sollte zusätzlich durch die Einrichtung eines speziellen Forschungsinstitutes, des „Zentrums für interdisziplinäre Forschung“, angeregt werden (ebd.). Vorbilder für eine solche Einrichtung sah Schelsky sowohl in der europäischen als auch in der nordamerikanischen Wissenschaftstradition.Footnote 26 Die Notwendigkeit eines Zentrums für interdisziplinäre Forschung resultierte für Schelsky nicht zuletzt auch aus den politischen Entscheidungen zum Hochschulausbau der vorhergegangenen Jahre, wenn er in der Denkschrift zur Gründung des ZiF erklärte: „Der energische Ausbau der Hochschulen in den letzten Jahren hat die schon verkümmerte Kommunikation zwischen den Fächern noch erheblich erschwert, weil er nur die Spezialisierung vertiefte“ (Schelsky 1966a: 74). Demgegenüber sollte das Zif eine „Re-Integration der sich spezialisierenden Wissenschaften“ als zeitweilige „Zusammenarbeit“ unterschiedlicher Disziplinen ermöglichen (ebd. 72). Diese Zusammenarbeit stellte Schelsky als temporär und themengebunden heraus (ebd.).

Diese Beispiele zeigen, wie disziplinenübergreifende Zusammenarbeit zu einem wichtigen Thema in den Debatten um die Gründung neuer Hochschulen wurde. Damit gelangte das Adjektiv „interdisziplinär“, das auch bereits zuvor in wissenschaftlichen Texten verwendet wurde, in wissenschaftspolitische und wissenschaftsorganisatorische Zusammenhänge. Parallel dazu begann sich das Adjektiv auch in wissenschaftlichen Publikationen stärker direkt auf die Bundesrepublik zu beziehen. So belegten wissenschaftliche Texte und Notizen in wissenschaftlichen Zeitschriften seit den frühen 1960er Jahren vermehrt bundesdeutsche Forschungsprojekte sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik mit dem Attribut „interdisziplinär“.Footnote 27 Zudem erschien das Adjektiv seit den 1960er Jahren auch in einer allgemeineren Öffentlichkeit, mit deutlich zunehmender Tendenz zum Ende des Jahrzehnts.Footnote 28

Reflexionen interdisziplinärer Wissenschaft blieben also nicht auf ein Wissensfeld beschränkt, sondern zirkulierten in unterschiedlichen Kontexten und Zusammenhängen. Dies verdeutlicht, dass es nicht einige wenige „Vordenker“ im Umfeld der Hochschulgründungs- und -reformdebatten allein waren, die das Adjektiv in der Bundesrepublik bekannt machten. Eher geschah dies im Zuge eines breiteren Prozesses, in dessen Verlauf Wissenschaftler, Wissenschaftsorganisatoren und Politiker ihre Annahmen über die Zusammenarbeit und den Zusammenhang der Wissenschaft unter den Leitstern des interdisziplinären Arbeitens stellten, und dadurch eine insgesamt ältere Auseinandersetzung um die Einheit und den Zusammenhang der Wissenschaften unter einer neuen Begrifflichkeit zeitspezifisch variierten.

Die „Verflechtung der Disziplinen“ als visueller Entwurf: Bochum, Konstanz, Bielefeld

Die hochschul- und wissenschaftspolitischen Neuansätze der 1960er Jahre sind bereits Gegenstand vieler Publikationen geworden. Abgesehen von architekturhistorischen Arbeiten und reich bebilderten Festschriften, gehen die meisten geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zum Thema allerdings stark sprachbasiert vor; sie gehen wenig darauf ein, inwiefern sich die Suche nach der Gestalt künftiger Wissenschaft und Hochschulen und der mit diesen verbundenen Erkenntnisweisen auch in der Visualität vollzog.

Tatsächlich war die Wissenschafts- und Hochschuldebatte der 1960er und 1970er Jahre auf den ersten Blick sprachlich dominiert: Parlamentarier und die Mitglieder der Gründungsausschüsse setzten sich in mündlicher Rede mit der Gestalt künftiger Hochschulen auseinander; Intellektuelle publizierten umfängliche Schriftwerke zum Thema, die oftmals ohne ein einziges Bild auskamen. Doch spätestens, als in den frühen 1960er Jahren die konkrete Planung neu zu errichtender Hochschulen begann, wurden auch Bilder zu einem Medium der Wissenschaftsreflexion. Das Beispiel der Universitätsneugründungen Bochum, Konstanz und Bielefeld zeigt, dass sowohl die Vertreter der Gründungsausschüsse als auch die politischen Gremien Diagramme, Schemata, Skizzen und Pläne nutzten, um sich über Formen und Wege von Wissenschaft und wissenschaftlichem Erkennen zu verständigen.

Diese Bilder von Wissenschaft unterscheiden sich von den Bildern der Wissenschaft, die in der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung bisher die meiste Aufmerksamkeit erhalten haben. Denn bei ersteren ging es nicht vordringlich darum, Dinge in einem produktiven Sinne sichtbar zu machen.Footnote 29 Imaginativ und vorwärtsgerichtet, entwickelten sie vielmehr Konzeptionen von Wissenschaft und wissenschaftlicher Erkenntnis, die teils erst in der Folge einen materiellen oder praktischen Bezug erhalten konnten. Da die im Folgenden betrachteten, ansonsten durchaus unterschiedlichen Bilder diese Eigenschaft teilen, werden sie hier als „Entwürfe“ zusammengefasst.Footnote 30

Text und Bild bilden hierbei keinen Gegensatz; im Gegenteil stützten sie sich wechselseitig und konnten auch direkt auseinander hervorgehen. Dies soll eingangs durch zwei Beispiele aus dem Umfeld der Entstehung der Universität Bochum hervorgehoben werden.

Abbildung 1 zeigt die „Struktur der Universität“ genannte Zusammenstellung geplanter „Abteilungen“ und Einrichtungen. Mit diesem Strukturplan machte der Gründungsausschuss im Dezember 1962 einen Vorschlag über Zahl und Ausgestaltung der geplanten universitären Teilbereiche. Der Plan könnte auch als Auflistung charakterisiert werden und ist stark textlich geprägt. Der Text ist linksbündig aufeinander orientiert, während die zugeordneten Zahlen links nicht-bündig angeordnet sind.

Abb. 1
figure 1

Struktur der Universität Bochum (Empfehlungen zum Aufbau 1962: 11)Footnote

Die Ausführungen des Gründungsausschusses finden sich in: Empfehlungen zur Gründung der Universität Bochum, in: Neuhaus (Hg.), Nr. 388–Nr. 571. Aufgrund der einfacheren Zugänglichkeit zitiere ich nach Neuhaus. Die Abbildungen sind aber hier entnommen aus: Empfehlungen zum Aufbau der Universität Bochum. Denkschrift des Gründungsausschusses, Bochum (Dezember) 1962: 11. Gegenüber der Version bei Neuhaus (Hg.): Nr. 400, ergeben sich durch einen Seitenumbruch leichte Abweichungen.

Der „Struktur der Universität Bochum“ ging in den Empfehlungen des Gründungsausschusses eine „Schematische Darstellung der räumlichen Zuordnung der einzelnen Abteilungen zueinander“ voran (siehe Abb. 2). Diese präsentierte die geplanten Abteilungen der Universität als sechs separat angeordnete Textblöcke, welche sich um ein mittiges Rechteck der „Zentralstellen“ gruppierten.

Abb. 2
figure 2

Schematische Darstellung Bochum (Empfehlungen zum Aufbau 1962: 10)

Dieses Aneinanderrücken von Text zu Textblöcken konstituierte eine Form der Bildlichkeit, in deren räumlicher Anordnung „Bild-“ und „Sprachcharakter“ des Textes ineinander übergehen und eine Form der Sprachlichkeit entwickeln, die räumlich ist (Krämer 2009). Die Darstellungsweise erzeugte räumliche Beziehungen zwischen den textlichen Bezeichnungen der geplanten Abteilungen, die ebenso als Formulierung inhaltlicher Nähe- und Distanzbeziehungen zu verstehen sind. Auf diese Weise legte das Schema visuell eine Gruppierung von Disziplinen nahe, an denen sich das vom Gründungsausschuss der Universität Bochum formulierte Ziel einer „allseitige(n) Verflechtung der wissenschaftlichen Disziplinen“ (Empfehlungen Bochum [1962] 1968: Nr. 392) möglicherweise umsetzen ließe.

Die Beispiele in Abb. 1 und 2 deuteten die Beziehungen der Disziplinen zueinander durch die räumliche Anordnung von Text und Zahlen nur an. Dennoch entfalteten bereits diese eher reduzierten Beispiele Vorstellungen über das Verhältnis der Disziplinen und adäquate Praktiken der Wissensgenerierung; sie umrissen Konzeptionen wissenschaftlichen Erkennens und fächerübergreifender Kooperation durch die räumliche Anordnung von Textstücken. Andere Bilder aus dem Umfeld der Hochschulneugründungen griffen die Relationen der Disziplinen in expliziterer Form auf. Ausgeführt als Linie und Kreuzung von Linien, tritt uns in diesen das Leitziel einer „Verflechtung“ der Disziplinen als visueller Entwurf entgegen.

So enthielt die Denkschrift des Kultusministeriums über die Errichtung von wissenschaftlichen Hochschulen in Baden-Württemberg aus dem Jahr 1962 ein „Strukturschema“ der Universität Konstanz (siehe Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Strukturschema Konstanz (Kultusministerium Baden-Württemberg 1962: Karte Nr. 9)

Um ein klar umrissenes, kreisförmiges „Zentrum“ gruppierten sich zahlreiche Kreise, die Bezeichnungen wissenschaftlicher Disziplinen trugen. Die – verschieden großen – Kreise waren durch Linien untereinander und zum Zentrum hin verbunden; einige nicht beschriftete und nicht verbundene Kreise deuteten den unabgeschlossenen, noch der Ergänzung bedürftigen Charakter der Darstellung an.

In diesem „Strukturschema“ evozierten die Verbindungslinien zwischen den Fächern die Vorstellung disziplinenübergreifender Kommunikation und Kooperation. Hierbei rekurrierten einerseits geschlossene Kreise auf die einzelnen Disziplinen. Andererseits blieb ihre Abschließung aber unvollkommen, indem die einzelnen Kreise durch Linien zu anderen Disziplinen durchkreuzt wurden. Die Darstellungsform könnte im weitesten Sinne als eine solche des Netzwerkes beschrieben werden; sie brachte durch ein Geflecht aus sich überkreuzenden Linien die Zielvorstellung von notwendig isolierten, gleichwohl aber auf Austausch angewiesenen wissenschaftlichen Disziplinen zum Ausdruck.

Eine weitere Facette visuell gestützter Wissenschaftsreflexionen lässt sich am Beispiel dreier Skizzen erkunden, die im Umfeld des Gründungsausschusses der Universität Konstanz entstanden (Abb. 4). Dieses im März 1964 eingesetzte Gremium legte im Juni 1965 seinen Bericht vor, der die Universität als eine Forschungsuniversität mit höchstens 3.000 Studierenden und etwa 100 Lehrstühlen konzipierte (Paulus 2010: 515–520). Die drei Zeichnungen erschienen in genau dieser Anordnung in der Baudokumentation aus dem Jahr 1970. Den Skizzen wurde also zeitnah zu ihrer Entstehung eine gewisse Relevanz zugewiesen.

Abb. 4
figure 4

Skizzen des Gründungsausschusses Konstanz (von Mann 1970: 25)

Die „Schemaskizze von Prof. Besson“ oben links trägt den Titel „Das grosse Haus der Wissenschaften“. Unten links sehen wir ein „Zuordnungsschema der Zentralbibliothek“. Die Zeichnung oben rechts trägt die Bildunterschrift „Grundstein der Universität Konstanz auf dem Giessberg“. Die drei Skizzen unterschieden sich also in ihrem Gegenstandsbereich recht stark voneinander; sie referierten auf die künftige Universität als Ganzes, den Grundstein der Universität als symbolische Repräsentation sowie den möglichen Aufbau der Bibliothek. Die Zusammenfassung der Skizzen zu einem Ensemble kann also kaum durch ihren Gegenstandsbereich erklärt werden. Um die Gruppierung der Skizzen besser zu verstehen, müssen wir sie im Detail studieren.

Die Zeichnung oben links besteht aus vier unter einem zentralen Quadrat angeordneten Quadraten. Das mittig angeordnete größte Quadrat wurde über die vier äußeren gelegt und überschnitt diese; die Schraffur des inneren Quadrates bildete eine weitere Form der Überkreuzung. Die Zeichnung oben rechts kann als gefüllte Gitterstruktur beschrieben werden. Ihre äußeren Linien waren selber als Gitternetz angelegt. Die Fläche, die durch die Überkreuzung dieser Gitternetzlinien gebildet wurde, erschien schraffiert, wobei sich die Linien hier diagonal in zwei Richtungen durchkreuzten. Das Zuordnungsschema der Bibliothek als untere Zeichnung schließlich zeigte einen komplexeren Zusammenhang ovaler Flächen, die einander überschnitten und Schnittmengen bildeten; neben diagonalen Schraffuren deuteten in diesem Fall auch Punkte Flächen der Überschneidung an. Dies legt nahe, den Grund für die Zusammenfassung der Skizzen in ihrer formalen Ähnlichkeit zu suchen. Denn weniger als ein konkreter Gegenstand scheint es das Motiv der Überlappung, Überkreuzung und Verbindung selber zu sein, welches die Bilder als gestaltendes Element aneinander band.

Die betrachteten Bilder formulierten damit nicht einfach Sachverhalte, die ebenso gut sprachlich hätten ausgedrückt werden können. Sie leisteten mehr noch einen eigenständigen Beitrag zur Konstitution von Epistemologien. Denn sie bildeten ein Repertoire an Formen aus, in denen die Modi interdisziplinärer Kommunikation und Kooperation imaginiert und plausibilisiert werden konnten. Die Bildlichkeit ermöglichte zudem eine gedankliche Übertragung, welche in der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit nicht in dieser Art und Weise möglich gewesen wäre. Überschneidungen in ihrer raumbildenden Funktion hervorhebend, machte sie die Überkreuzung von Linien in doppelter Weise deutbar – nämlich zum einen als Schnittpunkt zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, und zum anderen als Gestalterin eines Raumes wissenschaftlicher Kooperation.

Ermöglichende Materialität: Imaginationen interdisziplinärer Wissenschaft als Kommunikation und Kooperation an einem Ort

Indem Bilder Raum- und Wissenschaftsreflexionen aufeinander beziehen konnten, trugen sie zugleich dazu bei, postulierte Formprinzipien der Wissenschaft mit der Architektur der neuen Hochschulen zusammenzubringen.Footnote 32 In Auseinandersetzungen um die räumlich-architektonische Gestaltung der neuen Hochschulen wurde die Figur der Grenzüberschreitung (zwischen den Disziplinen) über Visualisierungen sich kreuzender Linien, Schnittmengen und raumbildender Überschneidungen so von einer abstrakten Relation hin zu einer Konzeption alltäglicher Wissenschaftspraxis in die Materialität gebauter Umwelten der Wissenschaft fortgeführt. Die Denkform interdisziplinärer Wissenschaft war damit einerseits beweglich und wanderte durch verschiedene Wissensfelder; andererseits wurde sie aber auch an konkrete Orte der Wissenschaft gebunden, in denen sich Zielvorstellungen disziplinenübergreifender Kooperation und Kommunikation lokal verankerten und materiell verdichteten.Footnote 33 In der Folge dieses Prozesses wurde auch Hochschulgebäuden die Fähigkeit zugeschrieben, disziplinenübergreifende Wissenschaft zu ermöglichen und auf diese Weise selber zu „Objekten des Wissens“ zu werden, „an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird“ (Rheinberger 2007: 10 f.).

Wie die eingangs betrachteten Reflexionen des Wissenschaftsrates, war auch die Suche nach einer adäquaten baulichen Form künftiger Hochschulen von Warnungen vor einer Zersplitterung der Wissenschaft und dem Streben nach Gegenmaßnahmen geprägt. So forderte etwa die Ausschreibung des architektonischen Ideenwettbewerbs der Universität Bochum aus dem Jahr 1962, die neue Universität solle „entsprechend den heutigen Forschungsaufgaben eine vielfältige Zusammenarbeit der verschiedenen Wissenschaftszweige, die sich immer stärker voneinander getrennt haben, ermöglichen und angesichts der fortschreitenden Spezialisierung in gemeinsamen Einrichtungen und Veranstaltungen den Gedanken der ‚Universität’ im eigentlichen Sinne erneut sichtbar machen.“Footnote 34

Der baulichen Form der Universität wurde im Bielefelder Fall die Möglichkeit zugeschrieben, fächerübergreifende Kooperation nicht nur zu symbolisieren, sondern auch praktisch Einfluss auf die Gestaltung von Lehre und Forschung zu nehmen. Schließlich werde wissenschaftliche Arbeit, so der Rektor der Universität Bielefeld, als „hochempfindlicher Kommunikationsprozeß […] von einem Gebäude nicht nur beherbergt, sondern auch in sich strukturiert“ (Grotemeyer 1975: 7).

Die Ermöglichung disziplinenübergreifender und kooperativer wissenschaftlicher Praxis wurde folgerichtig zu einem Ziel und Gütesiegel auch architektonischer Formfindungsprozesse. Entwürfe und Planungen um die Errichtung neuer Hochschulen kreisten um die Frage, wie die bauliche Gestalt der neuen Hochschulen eine fächerübergreifende Kooperation befördern könnte; Entwürfe universitärer Architekturen strebten danach, eine Gestaltung zu finden, welche den Zusammenhang wissenschaftlicher Einzeldisziplinen betonen und durch materielle Vorgaben auch praktisch befördern könnte. Auf diese Weise artikulierte sich die Auseinandersetzung um die Gestalt künftiger Wissenschaft und die Ermöglichung disziplinenübergreifender Kooperation auch in der Debatte um die baulich-architektonische Gestaltung künftiger Hochschulen.Footnote 35

In diesem Versuch, eine Zusammenarbeit unterschiedlichster Wissenschaftszweige zu ermöglichen, kam dem Motiv der räumlichen Nähe eine große Bedeutung zu.Footnote 36 Architekturhistorisch gesehen, knüpfte diese Wertschätzung von räumlicher Nähe und Integration für die wissenschaftliche Arbeit an US-amerikanische und britische Campus- und College-Konzeptionen an (Muthesius 2000: 203–246; Hallauer 1990: 214–16). Wissenshistorisch betrachtet, begründete sie sich jedoch zugleich auch durch Deutungen, welche auf die Ermöglichung von Kommunikation und Kooperation zwischen den Disziplinen abzielten. So hob etwa das Preisgericht zum Bauwettbewerb für die Universität Bielefeld in seiner Stellungnahme hervor, dass das Ziel der Kommunikation durch eine räumliche Integration des zu entwickelnden Hochschulgebäudes gefördert werden könne. Kommunikation sei zwar „mehr zufälliger Natur und nur in selteneren Fällen durch organisierte Tätigkeit oder Themata bestimmt. “ Aber:

Sie kann Verursacher der Kooperation sein. Kommunikation wird durch ein entsprechendes bauliches und räumliches Angebot provoziert und begünstigt. Insofern ist nicht so sehr für die Kooperation als insbesondere für die Kommunikation eine enge Beziehung der Bereiche untereinander anzustreben (Gutachtliche Stellungnahme 1969).

Das Preisgericht forderte daher „einen räumlich gegliederten, im ganzen aber zusammenhängenden Baukomplex der Universität, um die notwendige Kooperation und Kommunikation zu gewährleisten. Denn ein „völliges Auseinanderreißen der einzelnen Fachbereiche und ihre Dezentralisierung im Universitätsgebiet oder gar im Stadtgebiet würden die Kommunikation unmöglich machen und die Kooperation in nicht zumutbarem Maße erschweren.“ Besondere Bedeutung maß das Preisgericht hierbei „Kontaktgelegenheiten“ im Sinne von „Kontaktzonen für Kooperation und insbesondere Kommunikation“ zu (ebd. 31).

Allerdings fanden baulich-gestalterische Imperative wie diese nicht auf direktem Wege zu einer „Sichtbarmachung“ in einem universitären Gebäudekomplex. Erst über Bilder und Modelle vermittelten sich normative Vorgaben wie die oben zitierten auf konkrete Baustrukturen. Zeichnerisch entworfene Formen dienten zudem als Reflexionsgrundlage über den Zusammenhang von räumlichen Strukturierungen und interdisziplinärer Kooperation; sie reflektierten Möglichkeitsbedingungen von Kommunikation und Kooperation und ergründeten diese in der Gestaltung architektonischer Formen.

Dieser Gedanke soll hier anhand zweier Beispiele aus der Gründungsphase der Universität Bielefeld erläutert werden. Abbildung 5 zeigt ein Diagramm aus der Wettbewerbsdokumentation für den Bau der Universität Bielefeld (Herzog et al. 1969: 39); Abbildung 6 einen Ausschnitt aus der Bauplanungsdokumentation.Footnote 37

Abb. 5
figure 5

Diagramm aus der Wettbewerbsdokumentation Bielefeld (Herzog et al. 1969: 39)

Abb. 6
figure 6

Bauplanungsdokumentation Bielefeld (Universität Bielefeld (Hg.) 1974: abfotografierter Ausschnitt)

Das obere Diagramm in Abbildung 5 stellt ein kreisförmig ausgerichtetes Netzwerk dar – nach der beigefügten Erläuterung ein „Netz- oder Molekularsystem“. Dagegen ist die Anordnung im unteren Diagramm eher linear, wobei sie zugleich Netzwerkstrukturen in sich aufnimmt. Diese Variante bildete die von den Architekten favorisierte Version. Sie ermöglichte es, die Zielvorstellungen von sowohl Überschneidung als auch Kompaktheit zu kombinieren und zugleich Erweiterungen zuzulassen und wurde daher als die überlegenere Version herausgestellt.

Die beiden Diagramme in Abbildung 6 wurden in der Baudokumentation von 1974 als „Systemskizze“ bezeichnet. Diese waren gegenüber der zuvor diskutierten Fassung von 1969 leicht verändert. Unter anderem deuteten nun ergänzte Pfeile Erweiterungsmöglichkeiten an. Die Gesamtkomposition der Elemente in Abbildung 6 kann verdeutlichen, wie die Variationen des Diagrammes zugleich die Baustrukturen der Universität deutbar, denkbar und imaginierbar machten. So erschien in der Baudokumentation direkt unter der „Systemskizze“ ein Foto des Wettbewerbsmodells. Auffallend ist die strukturelle Parallelität zwischen dem favorisierten Diagramm und dem Architekturmodell. So sah das Modell für das geplante Gebäude der Universität ebenfalls die Gestaltung als Band vor, das eine innere Struktur bildet und umschließt; ergänzt wurde der Hauptkörper des Universitätsgebäudes, ähnlich den Verbindungslinien des Diagramms, von querliegenden Gebäudeteilen.

Nach den Erläuterungen der Architektengruppe zum Wettbewerbsentwurf sollte diese Baustruktur die geplanten elf Fakultäten und die zentralen Einrichtungen zu einem „baulichen Kontinuum“ vereinen. Während im Sockel der Universität eine „Zone intensiver Information und Kommunikation in und an der Halle“ (mit Hörsälen, Bibliotheken und Mensa) vorgesehen war, sollte darüber, mit einer Glasabdeckung „abgeschirmt“, ein „Kontinuum der ruhigen Institutsbereiche für die individuelle Arbeit“ entstehen [Herzog et al. (Hg.) 1969: 20].

Wichtig sind an dieser Stelle die Überblendungen zwischen Systemskizze und Modell einerseits, Annahmen und Deutungen zu Kommunikation und Kooperation andererseits. Denn mit der Visualisierung von „Linearität“ war es eine Logik der Systemskizze, welche in den Erläuterungen der Architekten rhetorisch in die Figur eines „zentrale[n] „Kommunikationsband[es]“ (ebd. 20) überführt wurde. Die bildlich angedeuteten Überschneidungen der Linien wurden als „Kreuzungspunkte[…]“ ausgelegt und zu einer „Kette von Kommunikationsschwerpunkten“ zusammengedacht. Die Bildlichkeit legte, in Verbindung mit den beigefügten Texten, somit die Rechnung nahe: (Räumliche) Einheit und Kompaktheit, in Kombination mit Schnittmengen und Netzwerken, ergibt eine Möglichkeitsbedingung von Kommunikation und Kooperation. Dadurch wurden Raumstrukturen als Ermöglichungsbedingung disziplinenübergreifender wissenschaftlicher Praxis deutbar gemacht und über das Architekturmodell für die bauliche Umsetzung empfohlen (ebd. 44).

Im Fall der Universität Bochum diente das Zuordnungsschema des GründungsausschussesFootnote 38 sogar ausdrücklich als Grundlage des Ideenwettbewerbs, der 1962 zur Entwicklung des künftigen Hochschulgebäudes ausgeschrieben wurde; dieser machte die „Zuordnung der verschiedenen Universitätsdisziplinen zueinander unter Berücksichtigung des erwähnten Zuordnungsschemas und der erwünschten engen Verflechtung“ zur Wettbewerbsaufgabe.Footnote 39 In den Berichten und Dokumentationen zum Bau der Universität Bochum finden sich mehrere Versionen des Zuordnungsschemas sowie weitere Diagramme und Grafiken, welche die bauliche Form der Universität als räumliche Beziehung der Disziplinen reflektierten.Footnote 40

Abbildung 7 zeigt ein „Schema der Koordinierung“ der Universität Bochum, das in der Baudokumentation von 1965 abgedruckt wurde. Dargestellt durch schwarze Rechtecke, ordneten sich in diesem Schema vier Blöcke der Naturwissenschaften und der Theoretischen Medizin, der Geisteswissenschaften, der Ingenieurwissenschaften und der Naturwissenschaften um einen Zentralbereich mit Einrichtungen wie Audimax, Cafeteria und Bibliothek an. Leicht ausgegliedert links oben referierte ein schwarzes Rechteck auf die zunächst angedachte Praktische Medizin. Im oberen Teil des Schemas, jenseits geschwungener Linien für Nahverkehrslinien und Erschließungsstraße, erschien ein schwarzes Quadrat mit der Bezeichnung „Rahmenstadt Zentrum“. Punkte legten geplante Fußwegbeziehungen nahe, Linien angedachte Erweiterungsmöglichkeiten.

Abb. 7
figure 7

Schema der Koordinierung Bochum (Der Minister für Landesplanung, Wohnungsbau und öffentliche Arbeiten des Landes Nordrhein-Westfalen 1965: 58)

Abbildung 8 zeigt im Vergleich dazu den Bauplan der Universität. Man mag darüber spekulieren, inwiefern das oben dargestellte Schema der Universität Bochum wiederum Formen aufgriff, die letztlich aus dem Zusammenrücken von Text zu komplexeren Formen der Schriftbildlichkeit entstanden waren (vgl. dazu Abb. 1 und 2). In jedem Fall verdeutlichen die hier diskutierten Beispiele, wie visuelle Entwürfe zur Auseinandersetzung um interdisziplinäre Wissenschaft beitragen konnten. So führten Schemata und Diagramme Diskurse der disziplinären Zersplitterung, der Fragmentierung, der verlorengegangenen „Einheit der Wissenschaft“ und der notwendigen „Grenzüberschreitung“ weiter zu Visionen von Universität und Wissenschaft etwa als „Netzwerk“, als Überkreuzung von Linien; diese Visionen wurden in der Planung von Hochschulgebäuden architektonisch zu Raumkonstitutionen auf der Basis räumlicher Nähe fortentwickelt. Diagramme, Pläne und Kartierungen konstituierten Annahmen über Wissenschaftlichkeit auch als visuelle Raumrelation. Schließlich trugen Bilder und Modelle dazu bei, Konzeptionen disziplinenübergreifender Wissenschaft über die Materialität ihrer gebauten Umwelt plausibel zu machen. Fächergrenzen zu überschreiten und Verständigung an einem Ort anzuregen, konnte dadurch zu einer Zielvorstellung werden, welche sich auch der visuellen Kultur der Hochschulgründungen der 1960er Jahre in ihrer Verwobenheit von Raum- und Wissenschaftskonzeptionen verdankt.

Abb. 8
figure 8

Bauplan Bochum (Der Minister für Landesplanung, Wohnungsbau und öffentliche Arbeiten des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) 1965, Scan des Universitätsarchivs Bochum)

Fazit: „Interdisziplinarität“ als Zeitgeschichte

Reflexionen interdisziplinärer Wissenschaft kursierten also in verschiedenen Wissensfeldern und Artikulationsformen. Beginnend mit wissenschaftlichen Texten der 1950er und 1960er Jahre, führte dieser Beitrag über wissenschaftspolitische und wissenschaftsorganisatorische Texte im Umfeld der Hochschulneugründungsdebatten hin zu visuellen Auseinandersetzungen um disziplinenübergreifende Kooperation und Kommunikation. Es liegt damit nur nahe, zum Schluss dieser Betrachtung noch einmal zur Sprache der Wissenschaft zurückzukehren. Denn einerseits Teil der wissenschaftspolitischen Debatte, bildete interdisziplinäre Wissenschaft andererseits auch in wissenschaftlichen Texten der 1960er Jahre einen Anlass zur wissenschaftlichen Selbstreflexion.

So hoben wissenschaftliche Publikationen interdisziplinäres Vorgehen als „fruchtbar“ hervor.Footnote 41 Disziplinenübergreifende Wissenschaft sollte eine Orientierung an „internationalen“ und vornehmlich US-amerikanischen Vorbildern ermöglichen; sie wurde als „notwendig“Footnote 42 und „erforderlich“Footnote 43 ausgezeichnet und konnte sich mit Zuschreibungen von „Kühnheit“ oder der Aussicht auf „Innovationen des Denkens“ (Edding 1965: 1) verbinden. Dieser Erwartungshaltung folgend, stellten manche Veröffentlichungen dieses Jahrzehnts interdisziplinäre Vorgehensweisen als nachgerade imperativ heraus („Realistische Entwicklungsforschung kann nur interdisziplinär sein“).Footnote 44 Eine solche Alternativlosigkeit interdisziplinärer Forschung wurde auch durch die Begrifflichkeiten betont, mit denen im Gegensatz dazu rein disziplinär orientierte Forschung bedacht werden konnte. Die Kehrseiten disziplinärer Spezialisierung hervorhebend, akzentuierten Wissenschaftler etwa die „Notwendigkeit der Überwindung disziplinärer Schranken“ (Krippendorff 1965: 194), widersagten den „Scheuklappen einer streng abgegrenzten Einzeldisziplin“ oder wollten einem „Provinzialismus disziplinärer, nationaler, methodologischer Begrenzungen“ entgehen (Pfeffer 1963: 36–37).

Trotz dieses Nachdrucks bedingten Forderungen nach interdisziplinärer Wissenschaft keine eindeutigen Anweisungen, was diese ausmache und wie diese umzusetzen sei. So charakterisierte Reinhart Koselleck Interdisziplinarität in den 1970er Jahren als ein „leeres Schlagwort“ beziehungsweise – ins Freundliche abstrahiert – als „ein Programm von hoher Formalität“.Footnote 45 Konzeptuell blieb der Aggregatzustand interdisziplinärer Wissenschaft insofern eher flüssig.Footnote 46 Gemeinsam war den in diesem Beitrag betrachteten Auseinandersetzungen um disziplinenübergreifende Kooperation allerdings, dass sie bestimmte Modi des Erkennens anderen vorzogen. Wissenschaft erschien in ihnen als ein gemeinschaftliches Unternehmen, dessen Protagonisten sich austauschen und über ihre Disziplinen hinweg das Gespräch suchen sollten. Auch als Folge informellen Zusammentreffens gedacht oder zumindest als mögliches Ergebnis nicht völlig planbarer Kontakte zwischen Wissenschaftlern imaginiert, richteten sich solche Gespräche nach dem Willen ihrer Verfechter nicht lediglich darauf, einzelnen wissenschaftlichen Desideraten nachzugehen. Dem Austausch zwischen den Disziplinen wurde vielmehr teils auch das Potenzial zugeschrieben, ein Auseinanderrücken wissenschaftlicher Teilbereiche zumindest situativ aufzufangen und der Annahme Nachdruck zu verleihen, dass Wissenschaft mehr bedeuten müsse als ein bloßes Nebeneinander von Einzeldisziplinen.

Das Zusammenspiel von normativer Erwartung und relativer Bedeutungsoffenheit, das eingangs für die Gegenwartsdebatten um Interdisziplinarität bemerkt worden ist, charakterisierte die Auseinandersetzung um interdisziplinäre Forschung und Lehre in der Bundesrepublik also bereits in den 1960er und 1970er Jahren. Um dies besser zu verstehen, mag es hilfreich sein, interdisziplinärer Wissenschaft nicht als einem Ansatz zu begegnen, der überzeitlich definierbar wäre. Gewinnbringender erscheint es, Interdisziplinarität als eine historische Denkform des Erkennens zu beschreiben, welche die Zirkulation politischer, sozialer und epistemologischer Reflexionen durch unterschiedliche Wissensfelder ermöglichte und mittels derer Modi des Erkennens auf zeitspezifische Anforderungen von Wissenschaft bezogen werden konnten. Auseinandersetzungen um Interdisziplinarität erlaubten es auf diese Weise Wissenschaftlern wie Wissenschaftsorganisatoren gleichermaßen, jeweils als drängend wahrgenommene Probleme im Nachdenken über den Zusammenhang der Wissenschaft aufzugreifen und diesen in Reflexionen etwa über das Verhältnis von Teil und Ganzem der Wissenschaft zu begegnen.

Gerade wegen ihres eher unspezifischen Charakters konnten die konkreten Themen und Fragen, die in Debatten um interdisziplinäre Wissenschaft aufgegriffen wurden, variiert werden und dadurch die Attraktivität der Denkform über veränderte Kontexte hinweg erhalten. In den 1960er Jahren waren die Öffnung der bundesdeutschen Wissenschaft gegenüber internationalen Wissenschaftsentwicklungen sowie Herausforderungen durch den quantitativen Ausbau der Universitäten die zentralen Themen, die Auseinandersetzungen um Interdisziplinarität untergründig konturierten. Nicht zuletzt im Zuge der Politisierungswelle im Gefolge der Studentenbewegung und der entstehenden neuen sozialen Bewegungen gewann seit den 1970er Jahren zudem das Argumentationsmuster an Gewicht, durch interdisziplinäre Wissenschaft die Relevanz der Forschung zu steigern und die Probleme der Gesellschaft – und nicht die der Disziplinen – angehen zu wollen.Footnote 47 Insbesondere mit der Betonung von Umwelt- und Friedensfragen in den 1970er und 1980er Jahren versprach interdisziplinäre Forschung geeignet zu sein, „politisch und gesellschaftlich aktuelle Kernprobleme [aufzunehmen, S. Sch.], die von außen an das ‚System Wissenschaft’ herangetragen werden“ (Voßkamp 1984: 460). „Interdisziplinäre“ Forschung erschien nun „mit der Lebenswelt häufig unmittelbarer verknüpft als disziplinäre Forschung“ (ebd.) und forderte dadurch dazu auf, sich den „Forschungs- und Planungsaufgaben“ zuzuwenden, „von denen unser Überleben abhängt“ (von Hentig 1971: 860 f.).

Insofern der Rekurs auf Interdisziplinarität aber nun auch dazu diente, angestrebte Eigenarten von Wissenschaft zu formulieren und sich über ihre Ziele zu verständigen, war die Enttäuschung dieser Visionen durch die Praxis bereits angelegt. Neben der Gefahr eines „gehobenen Dilettantismus“ oder einem „Zwang zur Pseudo-Universalität“ (Nail 1975: 32, Zitat aus der rezensierten Schrift) beklagten Wissenschaftler bald die „Schwierigkeiten interdisziplinärer Kommunikation, die bei unterschiedlichem Niveau der methodologischen und theoretischen Grundlagen kaum überbrückbar sind“ (Blankenburg et al. 1972: 600); sie resümierten, „daß die oft geforderte Interdisziplinarität vielfach schwer durchsetzbar ist“ (Kaiser 1975: 205), oder gaben zu Protokoll, „daß nicht nur die Hoffnungen auf Inter-Disziplinarität, sondern selbst die auf unkonventionelle Kooperationen […] rasch enttäuscht wurden“ (Die Jahrbücher 1978). Ein wissenschaftlicher Text vermerkte zum Ende der 1970er Jahre gar, es seien die „Verständigungsschwierigkeiten dermaßen groß, daß von Interdisziplinarität kaum mehr ohne Resignation oder Ironie die Rede ist“; das Substantiv sei „offenbar ein Wort, das nur noch bei Anträgen auf Forschungsfinanzierung sich auszuzahlen scheint“ (Heyen 1978: 509).

Der fortwährenden Präsenz von Forderungen nach interdisziplinärer Wissenschaft haben Gegenreden dieser Art dennoch kaum geschadet. In der Wissenschaftssprache der Bundesrepublik, in der ForschungsförderungFootnote 48 oder in Versuchen der Studienreform (Schlager 2014; Holtorf 2014) hat die Propagierung disziplinenübergreifender Wissenschaft ihren festen Platz behalten. Gegenwartsvariationen der in diesem Beitrag verfolgten Debatten manifestieren sich zudem in Forschungsverbünden und im Umfeld der – älteren wie im Zuge der Exzellenzinitiative neugegründeten – Institutes for Advanced Studies.Footnote 49 Und auch in der Gegenwart dient der Bezug auf Interdisziplinarität der Reflexion auf übergeordnete Ziele und Verpflichtungen der Wissenschaft. Nur so zumindest ist es zu verstehen, wenn die Zeitschrift Nature ihr aktuelles Special Issue zum Thema unter der Überschrift „How to solve the world’s biggest problems“ präsentiert. Dieses begleitet eine Comiczeichnung von Wissenschaftler/innen, die in einem Outfit irgendwo zwischen Astronaut, Superman und Mangaheld mit geballten Fäusten in den Himmel (natur)wissenschaftlicher Erkenntnis entfliegen (Trippe 2015).

Damit scheint es, als ob wir in der Geschichte der Interdisziplinarität jenen Punkt noch nicht erreicht haben, den Hans-Jörg Rheinberger als „Wasserscheide“ zwischen der Geschichte und der Zeitgeschichte der Wissenschaft beschrieben hat und der nicht in Jahren zu messen sei, sondern im „kognitiven Horizont des Historikers selbst“ seine Entstehung finde. Dieser entstehe dort, „wo die verspürte Notwendigkeit, sich zu distanzieren, übergeht in die Notwendigkeit, sich einzufühlen in eine Welt, die nicht mehr die unsere ist“ (Rheinberger 2006: 188). Das bloße Faktum ihrer Geschichtlichkeit wird uns dabei zwar noch keinen Maßstab an die Hand geben, mit dem gegenwärtige Debatten um interdisziplinäre Wissenschaft bewertet werden könnten. Es legt aber zumindest nahe, dass es uns hin und wieder guttun könnte, unsere Aufmerksamkeit auf die Sprache und die Bilder zu richten, in denen wir uns heute über das Überschreiten von Fächergrenzen verständigen. Ihren eigenen Regeln folgend, werden diese uns kaum einen Spiegel vorhalten, aus dem wir in direkter Weise Aufschlüsse über unsere eigene wissenschaftliche Praxis erhalten. Vielleicht jedoch erlauben sie uns einen kurzen Moment der Distanzierung, in dem wir die Historizität unserer Vorstellungen (inter)disziplinärer Kommunikation und Kooperation sei es als Last, sei es als Befreiung erleben. Eine weitere Historisierung interdisziplinärer Wissenschaft kann dadurch möglich werden.

Danksagungen

Das Thema interdisziplinärer Wissenschaft hat auch meine eigenen wissenschaftlichen Wege begleitet. Für Diskussionen danke ich daher meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Graduiertenkolleg „Topologie der Technik“ (TU Darmstadt), der Forschergruppe „Werkzeuge des Entwerfens“ (IKKM Weimar), dem a.r.t.e.s. Research Lab an der Universität zu Köln sowie der Klasse 5 der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Viele Anregungen habe ich zudem von der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft 2013 („Medien der Wissenschaften“) erhalten, auf der ich eine erste Version dieses Beitrags vorstellen durfte. Für wichtige Hinweise und Verbesserungsvorschläge danke ich zudem David Sittler, Till van Rahden, Heike Weber sowie den beiden anonymen Gutachtern. Der Beitrag wurde fertiggestellt während eines Forschungsaufenthaltes am Institute for Advanced Studies in the Humanities (IASH) Edinburgh, ermöglicht durch das EURIAS-Programm sowie die European Commission Marie-Sklodowska-Curie Actions – COFUND Programme – FP7.