Zusammenfassung
Der Schlüssel zur Erzählung Tonka liegt in deren sprachlicher Gestaltung. Nicht soziale oder psychologische Gründe lassen die Beziehung zwischen Tonka und ihrem Freund scheitern, sondern das reduzierte Sprachverständnis der Figuren. Dagegen stellt die Erzählung die Totalität von Bedeutung her und bestimmt so die Funktion poetischer Sprache fur alle Erkenntnis.
Abstract
The key to the story Tonka lies in the form of its language. The break-down of the relationship between Tonka and her friend is not due to social or psychological reasons, but to the reduced linguistic competence of the characters. In contrast, the narrative establishes the totality of meaning, thus determining the function of poetic language for all levels of knowledge.
Literature
Zu Fragen und Aspekten des Zusammenhangs zwischen den drei Erzählungen vgl. Maximilian Aue, “Die Ablehnung romantischer Vorstellungen von Liebe, Natur und Tod in Robert Musils Drei Frauen” Modern Austrian Literature, 9, H. 3/4 (1976), 240–256
Karl Eibl, Robert Musil. ‘Drei Frauen’: Text, Materialien, Kommentar (1978), bes. S. 155–158
E. Allen McCormick, “Ambivalence in Musil’s Drei Frauen: Notes on Meaning and Method,” Monatshefteßr deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, 54 (1962), 183–196. Zu Musils Begriff “Novelle”
vgl. Nanda Fischer, “‘Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung …’: Zum Novellenbegriff Robert Musils,” Monatshefte ßr deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, 65 (1973), 224–240. — Als Text liegt hier zugrunde: Robert Musil, Tonka, in Robert Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. Adolf Frisé (1978), Bd. VI: Prosa und Stücke, S. 270–306. Im folgenden wird bei Stellennachweisen aus der Tonka zusätzlich in Klammern das entsprechende Kapitel in römischen Ziffern angegeben. — Der Aufsatz ist eine erweiterte Fassung des Vortrags, den ich am 27. Oktober 1982 in Konstanz im Habilitationskolloquium gehalten habe.
Als repräsentativ fur die moralische und theologische Deutung vgl. Erich Heintel, “Glaube in Zweideutigkeit: R. Musils Tonka,’” Vom “Törless” zum “Mann ohne Eigenschaften”: Grazer Musil-Symposion 1972, hrsg. Uwe Bauer und Dietmar Goltschnigg, Musil-Studien, 4, hrsg. Karl Dinklage und Karl Corino in Verbindung mit der Vereinigung Robert-Musil-Archiv Klagenfurt (1973), S. 47–88; als repräsentativ fur die sozial- und sprachkritische Interpretation
vgl. Helmut Arntzen, Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriflen außerdem Roman “DerMann ohne Eigenschaften” (1980), S. 134–138.
Zur Selbstreflexion der Literatur vgl. Renate Homann, Selbstreßexion der Literatur: Studien zu ausgewählten Dramen von G. E. Lessing und H. von Kleist (1985). Dort findet sich auch eine ausfuhrliche Erläuterung der Unterscheidung der drei semantischen Ebenen; vgl. ebd. Einleitung. — Hier werden um der Praktikabilität willen zur Bestimmung der drei Ebenen dieselben Bezeichnungen: Figur, Werk, Selbstreflexion der Literatur, verwendet. Dazu wäre anzumerken, daß die Figur des Er und der Erzähler, der sich ja an sich selbst als an den Er erinnert, zwar dieselbe Person, in der sprachlichen Realisation aber dennoch nicht identisch sind. Da der Erzähler, wie sich zeigen wird, gleichwohl mit der Perspektive der Erzählung, der dritten semantischen Ebene, nicht übereinstimmt, spricht nichts dagegen, auch ihn mit dem aus der Dramenanalyse stammenden Begriff “Figur” zu benennen.
Mit der aus der Selbstreflexion der Literatur hergeleiteten, hier erst nur angedeuteten Differenzierung im Begriff Erkenntnis unterscheidet sich der vorliegende Beitrag auch von der Forschung, die von den Musilschen Begriffspaaren: ratioid — nichtratioid, Verstand — Empfindung, Mathematik — Mystik, ausgeht und zu Recht in Musils literarischen Werken eine Überwindung der mit den Begriffspaaren ausgesagten Antithese angelegt sieht, die die Überwindung aber nicht literaturtheoretisch — vom literarischen Selbstverständnis der Werke — begründet, sondern nichtliteraturtheoretisch (anthropologisch, psychologisch, erkenntnistheoretisch oder sprachtheoretisch); vgl. Elisabeth Albertsen, Ratio und ‘Mystik’ im Werk Robert Musils (1968)
Heribert Brosthaus, “Robert Musils ‘wahre Antithese’,” Wirkendes Wort, 14 (1964), 120–140
Johannes Loebenstein, “Das Problem der Erkenntnis in Musils künstlerischem Werk,” Robert Musil: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. im Auftrag des Landes Kärnten und der Stadt Klagenfurt von Karl Dinklage (1960), S. 77–131
Jürgen Schröder, “Zu Robert Musils Vereinigungen,” Euphorion, 60 (1966), 311–334, wiederabge druckt Robert Musil, Wege der Forschung, 588, hrsg. Renate von Heydebrand (1982), S. 380–411.
Zum Einfluß des Positivismus auf Musil und zu Musils Distanzierung von demselben vgl. Jan Aler, “Als Zögling zwischen Maeterlinck und Mach: Robert Musils literarischphilosophische Anfänge,” Festschrifißr Kate Hamburger zum 15. Geburtstag am 21. September 1971, hrsg. Fritz Martini (1971), S. 234–290
vgl. auch Henri Arvon, “Robert Musil und der Positivismus,” Robert Musil: Studien zu seinem Werk, im Auftrage der Vereinigung Robert-Musil-Archiv Klagenfurt hrsg. Karl Dinklage zusammen mit Elisabeth Albertsen und Karl Corino (1970), S. 200–213.
Eine solche Vermutung könnte P. Szondis geschichtsphilosophisch angelegter Aufsatz nahelegen; vgl. Peter Szondi, “Poetik und Geschichtsphilosophie: Zu Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung,” Geschichte — Ereignis und Erzählung, hrsg. Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, Poetik und Hermeneutik, 5 (1973), S. 377–410.
Musil, VI, 296 (IX). Man könnte meinen, daß die “Binde der Blindheit” der Figur des Er von den Augen gefallen sei. Dagegen ist festzuhalten, daß allein die Erzählung von der “Binde der Blindheit” befreit ist. Denn er erkennt nicht, was er in actu erfährt, daß nämlich Tonkas “ganzes Leben” nur einer poetischen, einer in ihrer sprachlichen Verfaßtheit ur sprünglich poetischen Erinnerung und Erkenntnis gegenwärtig sein kann. Für ihn wird Tonka schon im nächsten Augenblick zu einer der vielen “Stimmen” des von ihm nicht literarisch, sondern anthropologisch begriffenen “menschlichen Lebens”; ebd. — Interpretiert man seine Erkenntnis der Tonka dagegen aus der Perspektive der zweiten semantischen Ebene, dann kann man allenfalls zu dem Ergebnis kommen, er habe anläßlich seiner Begegnung mit Tonka eine gegenüber der empirischen Welt “andere,” “zweite,” “gehei me” Welt entdeckt, jene also, von der vor allem Novalis gesprochen habe; eine literatur theoretische Spezifizierung derselben ist dann nicht möglich; vgl. die der zweiten Ebene entsprechende Interpretation von Wolfgang Düsing, “Utopische Vergangenheit: Zur Erin nerungstechnik in Musils früher Prosa,” Zeitschrifi fir deutsche Philologie, 89 (1970), 551 u.
Der Erfindung gehen Fragen voraus, bei denen man “… fühlt, daß da die Begriffe an eine Grenze kommen, wo sie keinen Halt mehr finden.” Ebd. S. 280 (III). — Inzwischen ist auch der neueren Wissenschafts théorie bewußt geworden, welche Rolle die Heuristik in ihr spielt; vgl. hierzu Karl Homann, Rationalität und Demokratie, erscheint 1986.
Novalis läßt im fünften der “Dialoge” den Gesprächspartner “B” die Metapher des Netzes in bezug auf die Hypothesen gebrauchen, die für “B” die Voraussetzung für Entdeckungen und Erfindungen sind: “B. Hypothesen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft./ Ist nicht America selbst durch Hypothesen gefunden? Hoch und vor allem lebe die Hypothese — nur sie bleibt/ Ewig neu, so oft sie sich auch selbst nur besiegt.” Novalis, Schrifien, Bd. 2, Das philosophische Werk, I, hrsg. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mahl und Gerhard Schulz (1960), S. 668. — In Musils Erzählung wird die Problematik der wissenschaftlichen Erfindung in bezug auf die sprachliche Verfaßtheit der “Erfindungsgabe” selbst reflektiert. Die wissenschaftstheoretische Problematik wird hier literaturtheoretisch und literarisch ausgetragen.
Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke: Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler, Bd. II: Schriften über Philosophie/Philologie/Kritik 1758–1763 (1950), S. 199.
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Homann, R. Literatur und Erkenntnis: Robert Musils Erzählung Tonka. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 59, 497–520 (1985). https://doi.org/10.1007/BF03375950
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