Zusammenfassung
Der Aufsatz formuliert Interpretationen zu Lessings Fabeldichtung und Fabeltheorie, um deren inneren Zusammenhang mit seiner kritischen Methode der rationalen Induktion exemplarisch kenntlich zu machen. Insofern der Vergleich hauptsächlich rhetorische Moti¬ve wie Situation, Ironie, Polemik betrifft, dient er der Analyse des Einflusses der traditionel¬len Rhetorik auf Lessings ästhetische Konzeption.
Abstract
This article offers interpretations of Lessing’s fables and the corresponding theory in order to demonstrate in an exemplary way their connection with his critical method of rational induction. Insofar this correlation mainly concerns rhetorical motifs (e.g. situation, irony, polemics), it serves the analysis of the influence of rhetorical tradition on Lessing’s aesthetics.
Literature
Vgl. u. a. H. Steinmetz, „Der Kritiker Lessing: Zu Form und Methode der Hamburgi¬schen Dramaturgie,“ Neophilologus, 52 (1968), 30ff.; I. Strohschneider-Kohrs, Vom Prinzip des Maßes in Lessings Kritik (1969)
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Von dieser übergreifenden Konzeption her fällt Licht auf den Kategorienfehler, den m. E. Reinhard Dithmar in seinem Buch Die Fabel (1974) begeht. Wenn er das Kritisch-Verändernde, dem Bestehenden Widerstrebende als Leitidee ansetzt, die die Geschichte der Form durchsichtig machen soll, fehlt nicht der Hinweis auf den phrygischen Sklaven Äsop. Als ob kein Menenius Agrippa existiert hätte! Dithmar übersieht konzeptionell, daß es eine kritische und eine konservative Anwendung der Fabel gibt. Die Möglichkeit hiervon aber erklärt sich nur dann befriedigend, wenn man annimmt, daß die Form als solche sich zur Alternative kritisch-konservativ indifferent verhält. Die Form impliziert eine alle bestimm¬te Daseinsverfassung transzendierende Ordnungsidee sowie in eins damit eine Negation dessen, was ihr entgegenläuft; und das kann ebensogut das alte Bestehende sein, wenn es seine Grenzen überschreitet, wie das neu Aufkommende. Der Ordnungsbegriff, der in die Form der Fabel eingeht, empfängt ursprünglich seinen Sinn durch die Kategorie des Maßes. (Vgl. auch W. Gebhard, „Zum Mißverhältnis zwischen der Fabel und ihrer Theorie,“ DVjs, 48 [1974], 122ff.
Ch. Siegrist, „Fabel und Satire,“ in H.-F. Wessels [Hrsg.], Aufklärung [1984], S. 245ff).
Den Gegensatz zu der an Deduktionen orientierten rationalistischen Kritik akzentuiert besonders scharf M. H. Abrams, wenn er schreibt: „Lessings Absicht besteht also darin, ästhetische Prinzipien mit Hilfe einer induktiven Logik aufzustellen — ein Verfahren, das in bewußter Opposition zu demjenigen von Batteux steht“ (Spiegel und Lampe: Romantische Theorie und die Tradition der Kritik [1978], S. 26). Diese Einschätzung klingt plausibel und wird auch von manchen Lessing-Interpreten geteilt (vgl. z. B. W. Wundt, „Lessing und die kritische Methode,“ in W. Wundt, Essays, 2. Aufl. [1906], S. 417ff.), doch darf uns die vermeintliche Evidenz nicht hindern, ihre Mißverständlichkeit anzumerken. Lessings Kri¬ tik schließt den Empirismus als Moment ein, indem sie, was jener unvermittelt, diesseits aller wissenschaftlichen Form beansprucht, auf eine allgemein verbindliche, die Vernunft selbst befriedigende Weise einzulösen sucht. Sie will den Sinngehalt der jeweiligen Uterari¬ schen Erscheinung als einen wirklichen, allem Räsonnement vorgängigen, durch Schlußfol¬ gerung nicht antizipierbaren begreifen, anstatt es bei einer instinktiven oder gefühlsmäßigen Vergewisserung bewenden zu lassen.
Vgl. LM, VII, S. 438. Diese einschränkende, auf das Spezifische zielende Reflexion leistet eine kritische Überwindung von Gottscheds Versuch, den Fabelbegriff zur zentralen poetologischen Normkategorie zu erheben. Die Fabel war dem Leipziger Literaturkritiker „das Hauptwerk der ganzen Poesie; indem die allerwichtigsten Stücke derselben einzig und allein darauf ankommen“ (Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4. Aufl. [1751], photomecha¬ nischer Nachdruck [1962], S. 167). An Lessings Ansatz, die Fabel von der Idee sinnerfüllter Kontingenz her zu interpretieren, knüpft später Hegel an, wenn er schreibt: „Denn das Sinnreiche einer Fabel besteht nur darin, dem sonst schon Daseienden und Gestalteten nun auch noch einen allgemeineren Sinn außer dem, welchen es unmittelbar hat, zuzuteilen“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, I [1970], S. 498).
Aristoteles, Rhetorik, II, 20; 1393 a-b. Zum Verhältnis von Fabel und Parabel vgl. auch J. Villwock, „Gustav Gerbers Beitrag zur Sprachästhetik,“ GRM, 31 (1981), 69f.
W. Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie in ihren Zusammenhängen mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, Bd. I (1911), S. 378.
Vgl. H. Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rheto¬ rik,“ in Wirklichkeiten in denen wir leben (1981), S. 108f.
Vgl. hierzu J. Villwock, „Rhetorik und Poetik: theoretische Grundlagen der Litera¬ tur,“ in Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. III, Renaissance und Barock (1984), S. 101 f.
Fabulae Aesopicae, hrsg. C. Halm, S. 72. Vgl. hierzu auch H. Blumenberg, „Der Sturz des Protophilosophen: Zur Komik der reinen Theorie, anhand einer Rezeptionsgeschichte der Thaies-Anekdote“, in Poetik und Hermeneutik, VII, Das Komische, hrsg. W. Preisendanz und R. Warning (1976), S. 17f.
“Fabeln aus Lessings Nachlaß,“ in G. E. Lessing, Fabeln. Abhandlungen über die Fabel, hrsg. H. Rölleke (1967), S. 63.
Auch hier liegt eine implizite Reflexion auf das Wesen der Fabel vor. Im Menschen sind alle Eigenschaften zu harmonischem Zusammenklang be¬ stimmt. Das Hervortreten einzelner Züge (z.B. Gier, Stolz oder Neid), wie es die Fabel zeigt, ist daher als solches schon etwas Tierhaftes. Vgl. hierzu auch: F. W. J. Schelling, Philosophie der Mythologie, II. Band: Die Mythologie (1976), S. 423.
LM, I, 200. Vgl. zum ganzen Komplex auch W. Barner u. a., Lessing: Epoche- Werk-Wirkung, 4. Aufl. (1981), S. 214ff., wo ein kommentierter Überblick über die Forschungsli¬teratur gegeben wird.
Vgl. hierzu C. Lugowski, Die Form der Individualität im Roman (1932), S. 13f.
Eingehende Analysen über die Weiterentwicklung dieser Erkenntniskonzeption in Goethes Farbenlehre und ihren Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Weltanschau¬ung der Neuzeit bieten die Arbeiten von J. Blasius. Siehe: „Rationale Empirie: Zur Wissen¬schaftstheorie Goethes,“ Magisterarbeit Frankfurt/M. 1976; „Zur Wissenschaftstheorie Goethes,“ Zeitschrififiirphilosophische Forschung, 33 (1979), 371–388. Blasius ‘Darlegungen ordnen sich um die Zentralthese, daß die empirisch-rationale Theorie der Begründung, welche Goethe in Hinsicht auf das Problem der chromatischen Phänomene vertritt, sinnvoll als eröffnender Vorstoß in den Bereich der modernen Wissenschaftsidee gedeutet werden könne.
LM, V, 76fF. S. auch Das Neueste aus dem Reiche des Witzes (1904). Als Einl.: F. Muncker, Das Neueste aus dem Reiche des Witzes, S. IX–XII. Vgl. auch J. Wilke, Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789), Teil II: Repertorium (1978), S. 67ff.
Vgl. Aristoteles, Poetik, hrsg. M. Fuhrmann (1976), Kap. 9, S. 58ff.
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Villwock, J. Lessings Fabelwerk und die Methode seiner literarischen Kritik. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 60, 60–87 (1986). https://doi.org/10.1007/BF03375901
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