Zusammenfassung
„Weltanschauliche Differenz” meint in doppeltem Wortsinn auch Subjekt-Objekt-Beziehung. Bis zur „Kehre” war selbst der Naturer for scher Goethe für Heidegger ein von allen Griechen verlassenes „Verhängnis”. Dann wurde auch seine Dichtung gegen das „Rasen der Technik” zitiert. Doch Heidegger konnte darin bloß Belegstellen für seine vergleichsweise sehr viel irrationaleren Gedanken über den „Gegenstand als Objekt für ein Subjekt” finden.
Abstract
„Weltanschauliche Differenz” means, in the twofold sense of the word, also subject-object-relations. Disowning the Greeks the „Naturerforscher” Goethe was a „Verhängnis” for Heidegger. After the „Kehre”, he was worth to be cited against technicological hubris. Yet even in Goethe’s poetical works Heidegger could find nothing but proofs for his comparatively much more irrational thoughts about the „Gegenstand as an object for a subject”.
Literature
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Es sei „dem Vorstellen des Gegenständigen“ verwehrt, die „Wesensfülle der Natur“ zu „umkreisen“. Diese „Einsicht, darauf hat Pöggeler bereits 1969 aufmerksam gemacht, habe Goethe ‚bei seinem verunglückten Streit ‘mit Newton ‚im Grunde ‘vorgeschwebt“ (Otto Pöggeler, „Hermeneutische und mantische Phänomenologie“, in: Otto Pöggeler [Hrsg.], Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks“, Köln, Berlin 1969, 321–357, hier: 329).
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Für Robert Minder, Dichter in der Gesellschaft. Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur, Frankfurt 1966, 264 „gehört der Badener Hebel — … nicht zu Heidegger“, gegen den er „vom Literarischen her“ (262) ebenso geistreich wie temperamentvoll polemisiert, ohne ihn als Philosoph in Frage zu stellen, sondern „als Humanist und Kosmopolit in den Umkreis eines Mannes, … den Heidegger zeitlebens bekämpft hat: Goethe“.
Peter Janich, „Ist Goethes Farbenlehre eine ‚alternative ‘Wissenschaft?“, in: H. Möbius, J.J. Berns, Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, Marburg 1990, 121. — „Ist Goethes Farbenlehre Wissenschaft?“ hatte bereits 1977 Gernot Böhme in Studia Leibnitiana 9/1 (1977), 28–54 mit auch unsere Fragestellung berührenden Schlußfolgerungen gefragt.
Beispiele bei: Gerhard Schulz, „Goethes Kunst- und Geschichtsverständnis“, Goethe-Jahrbuch 110 (1993), 173–183, hier: 182.
So: J. Gleick, Chaos — die Ordnung des Universums, München 1988, 236f. und 279.
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in: ders., Wegmarken, GA IX, hrsg. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a.M. 1976, 385–426, hier: 425.
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Otto Pöggeler, „Martin Heidegger. Die Philosophie und die Problematik der Interpretation“, in: Margot Fleischer (Hrsg.), Philosophen des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1991, 117–136, hier: 135.
Wesensverwandt Ernst Jünger, Subtile Jagden, Stuttgart 1961, 316: „Überhaupt ist das tiefste Behagen unvergleichlich; es kennt kein Warum. Schon das Wie zeigt den Mangel — wo wir sagen ‚Wie bei der Mutter ‘oder ‚Wie in Abrahams Schoß‘, da ist schon nicht Sicherheit mehr.“
Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum (1969)
in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens, GA XIII, hrsg. Hermann Heidegger, Frankfurt a.M. 1983, 210.
Johann Wolfgang v. Goethe (Anm. 122), 312. „Ins Religiöse gewendet“ interpretiert von: Julia Gauss, „Goethe und die Prinzipien der Naturforschung bei Kant“, Studia Philosophica 29 (1969), 54–75, hier: 54.
D. R. Hofstadter, D. C. Dennett, Einsicht in das Ich, München 1992, 322.
So etwa, ausgehend vom „Gesichtspunkt einer platonisierenden Geschichtsphilosophie“, Gerhart von Graevenitz, „Erinnerungsbild und Geschichte. Geschichtsphilosophie in Vicos ‚Neuer Wissenschaft ‘und in Goethes ‚Pandora‘“, Goethe-Jahrbuch 110 (1993), 77–88, hier 77 und 87. Vgl. auch: Günther Martin (Anm. 49) und Elizabeth M. Wilkinson, „Theologischer Stoff und dichterischer Gehalt in Fausts sogenanntem Credo“, in: Hans Reiss (Anm. 96), 242–258, hier: 253f.
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Martin, G. Von der weltanschaulichen Differenz Heidegger und Goethe. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 70, 475–500 (1996). https://doi.org/10.1007/BF03375586
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