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Gesicht, Gestalt, Ornament Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

„Alle sichtbaren Dinge sind gleichsam nur Masken aus Pappe.“ Herman Melville, Moby Dick (1851)

Zusammenfassung

Zwischen 1910 und 1935 gibt es in Deutschland eine Konjunktur der Physiognomik als ‚Neues Sehen‛. Im Gegensatz zur Physiognomik Lavaters, die ein unveränderliches Innen und aufschlußreiche äußere Merkmale voraussetzt, erkennt die neue Physiognomik nur Oberflächenphänomene ohne einheitliche Ausrichtung. Der erste Teil des Aufsatzes zeigt, wie dieses ‚Neue Sehen’ als Antwort auf die technischen Bilder die hermeneutischen Unterscheidungen zwar umkehrt, aber nicht wirklich ändert. Die zweite Hälfte erörtert daran anschließende gegensätzliche Interpretationen der neuen Medien. Der Medienwechsel macht Physiognomik als den Versuch transparent, die Interpretationshoheit über eine Bilderwelt zurückzugewinnen und Probleme der Texthermeneutik erneut zu diskutieren.

Abstract

Between 1910 and 1935 German cultural theorists conducted a vigorous campaign in favor of ‚Physiognomik’ as a new way of reading. As opposed to the physiognomies of Lavater, which assumed the presence of a stable inner center and a harmonious set of external appearances, the new physiognomy perceived a world of fragmented surfaces with no underlying unity. The first part of the essay shows how this new way of seeing reversed the hermeneutic commonplaces but still remained hermeneutic. The second half of the essay discusses conflicting interpretations of new media and new forms of interpretation. In the transition between dominant media, physiognomies emerged as a way of regaining interpretive sovereignty over a world of images.

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Literature

  1. Ob sie im Zeichen einer (alten) Empfindsamkeit, einer Neuen Sachlichkeit oder gar einer (neuen) Leiblichkeit stehen, spielt eine schwierige Rolle. Vgl. Norbert Bornemann, Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland, Köln 1994

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  2. Georg Braungart, Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1994

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  3. Andreas Käuser, Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1989

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  4. Claudia Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 1995 usw.

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  5. Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a.M. 1975, 717.

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  6. Vgl. eine Auswahl der Beiträge: Hans Freyer, „Zur Philosophie der Technik”, Blätter für deutsche Philosophie 3 (1929), 192–201; Carl Schmitt, „Die europäische Kultur im Zwischenstadium der Neutralisierung”, Europäische Revue 5 (1929), 517–530

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  7. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, München 1931 usw.

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  8. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932.

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  9. Dazu auch Uwe-K. Ketelsen, „Ernst Jüngers ‚Der Arbeiter’ — Ein faschistisches Modernitätskonzept“, in: Helmut Brackert, Fritz Werfelmeyer (Hrsg.), Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1990, 219–254, hier: 238.

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  10. Jose Ortega y Gasset, Meditationen über Don ‘Quijote’ (1914), Stuttgart 1959, 51.

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  11. Vgl. auch Verf., „Jose Ortega y Gasset”, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 1998, 409f.

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  12. Vgl. Hermann Schweppenhäuser, „Physiognomie eines Physiognomikers”, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1972, 139–171.

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  13. „Neue Zeiten pflegen sich unter der Kapuze einzuschleichen” (Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, Berlin 1929, 141).

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  14. „Die hier gemeinten Strukturwandlungen haben, nebenbei bemerkt, die Heraufkunft von Tendenzen zur Folge, die vorerst noch unter einer Hülle leben, da sie den überkommenen Begriffen widersprechen” (Siegfried Kracauer, Über Erfolgsbücher und ihr Publikum [1931], in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1977, 64–74, hier: 68 f.).

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  15. Vgl. dazu David Frisby, Fragmente der Moderne. Georg Simmel — Siegfried Kracauer — Walter Benjamin, Rheda-Wiedenbrück 1988, 191–262.

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  16. Max Weber prophezeit die Technisierung der (Verwaltungs-) Politik: „Ein Betrieb ist der moderne Staat, gesellschaftswissenschaftlich angesehen, ebenso wie eine Fabrik: das ist gerade das ihm historisch Spezifische” (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [1918], Tübingen 1976, 825).

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  17. Werner Sombart, Der Kapitalismus (1916), 4 Bde., 4. Aufl., München, Leipzig 1921, IV, 1076.

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  18. Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit, Berlin 1912, I, 170.

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  19. Vgl. auch Siegfried Kracauer, Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie [= Rez. Kurt Breysig, Vom geschichtlichen Werden. Umrisse einer zukünftigen Geschichtslehre, Bd. 2: Die Macht des Gedankens in der Geschichte in Auseinandersetzung mit Marx und Hegel, 1926], Schriften, hrsg. Inka Mülder-Bach, V/1: Aufsätze 1915–1926, Frankfurt a.M. 1990, 404–408.

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  20. Aus anderer Perspektive Wolfgang K. Schulz, „Wissenssoziologische Aspekte der Kulturtheorie Georg Simmeis”, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), 277–287. Die Filiationen zwischen Benjamin, Weber und Simmel zeichnet Uwe Steiner glänzend nach.

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  21. Vgl. Wolfgang K. Schulz, „Kapitalismus als Religion. Anmerkungen zu einem Fragment Walter Benjamins”, DVjs 72 (1998), 147–171.

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  22. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984, 192–204, hier: 203.

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  23. Ernst Jünger, Der letzte Akt, in: ders. (Hrsg.), Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten. Mit etwa 200 photographischen Aufnahmen auf Tafeln, Kartenanhang sowie einer chronologischen Kriegsgeschichte in Tabellen, Berlin 1930, 105–111, hier: 107.

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  24. Ernst Jünger, Das große Bild des Krieges, in: ders. (Hrsg.), Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten. Mit etwa 200 photographischen Aufnahmen auf Tafeln, Kartenanhang sowie einer chronologischen Kriegsgeschichte in Tabellen, Berlin 1930, 238–259, hier: 240.

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  25. Georg Simmel, Die ästhetische Bedeutung des Gesichts (1901), in: ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984, 140–145, hier: 144 f.

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  26. Dazu vor allem Gert Mattenklott, „Der mythische Leib: Physiognomisches Denken bei Nietzsche, Simmel und Kassner”, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 1983, 138–156.

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  27. Simmel (Anm. 22), 192. Vgl. dagegen Nikolaus von Cues, Über die Vermutungen (1440), in: ders., Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften, besorgt u. eingeleitet v. Hans Blumenberg, Bremen 1957, 186–230, hier: 204: „Das Wahrnehmbare wird von den Sinnen der Seele aufgenommen und es gäbe gar nichts Wahrnehmbares, wenn die Einheit der Sinne nicht wäre. Die Wahrnehmung ist freilich verworren und ungenau und ohne alle Unterscheidung, denn die Sinne nehmen nur wahr, unterscheiden aber nicht. Die Unterscheidung geht von der Vernunft aus, denn die Vernunft ist die Einheit der Zahl des Wahrnehmbaren.”

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  28. Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1900), Gesamtausgabe, hrsg. Otthein Rammstedt, 24 Bde., Frankfurt a.M. 1989, VI, 9.

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  29. Simmel (Anm. 28), 11. Schon für Nietzsche haben „ganze Zeiten, ganze Völker in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes“ (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, XII, 520).

  30. Ernst Jünger „erscheint der Weltkrieg als ein riesenhaftes Fragment, zu dem jeder der großen Industriestaaten seinen Beitrag lieferte. Sein fragmentarischer Charakter beruht darin, daß die Technik wohl die überlieferten Formen des Krieges zerstören konnte, daß sie jedoch aus sich selbst heraus ein neues Bild des Krieges nur andeuten, nicht aber verwirklichen konnte. In diesem Vorgang spiegelt der Weltkrieg unser Leben überhaupt — auch hier vermochte der Geist, der hinter der Technik steht, die alten Bindungen zu zerstören, während er im Aufbau einer neuen, aus eigenen Mitteln lebenden Ordnung das Stadium des Experiments noch nicht verlassen hat” (Ernst Jünger, Krieg und Technik, in: ders. [Hrsg.], Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten. Mit etwa 200 p h oto graphisch en Aufnahmen auf Tafeln, Kartenanhang sowie einer chronologischen Kriegsgeschichte in Tabellen, Berlin 1930, 222–237, hier: 237).

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  31. Jürgen Habermas, „Simmel als Zeitdiagnostiker”, in: Georg Simmel, Philosophische Kultur (1911), Berlin 1986, 7–17, hier: 8.

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  32. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. von 1923, Berlin 1958, 483–493. Hier findet sich auch folgende Auslassung zum Arbeiter: „Diese Konstellation hat, nach dem oben Angedeuteten, die Entstehung des modernen Begriffs des Arbeiters sehr gefördert. Dieser unerhört wirkungsvolle Begriff, der das Allgemeine aller Lohnarbeiter, gleichviel, was sie arbeiten, zusammenschließt, war den früheren Jahrhunderten unzugängig, deren Gesellenvereinigungen oft viel enger und intimer waren, weil sie wesentlich auf dem persönlichen und mündlichen Verkehr ruhten, denen aber der Fabriksaal und die Massenversammlung fehlte. Hier erst, wo man Unzählige sah, ohne sie zu hören, vollzog sich jene hohe Abstraktion dessen, was all diesen gemeinsam ist und was von all dem Individuellen, Konkreten, Variablen, wie das Ohr es uns vermittelt, in seiner Entwicklung oft gehemmt wird” (ebd., 489).

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  33. Vgl. dazu Lothar Müller, „Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel“, in: Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek b. Hamburg 1988, 14–36.

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  34. Vgl. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt (1888), in: Nietzsche (Anm. 29), VI, 140–142.

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  35. Nietzsches Verhältnis zur zeitgenössischen Soziologie untersucht Horst Baier, „Die Gesellschaft — ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Decadence”, Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 6–22. Nietzsches Konzept einer „intelligenten Sinnlichkeit” (Nietzsche [Anm. 29], XIII, 249) basiert auf dem „Lustzustand, den man Rausch nennt” (ebd.), und zeitigt vergleichbare Effekte: „ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar … die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten … die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hülfe hin” (ebd.).

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  36. Gert Mattenklott, Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek b. Hamburg 1982, 21.

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  37. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775), Stuttgart 1984, 25f.

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  38. Vgl. den ausgezeichneten Aufsatz von Liliane Weissberg, „Literatur als Repräsentationsform. Zur Lektüre von Lektüre“, in: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, Stuttgart 1992, 293–313, hier: 302.

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  39. Johann W Goethe, „Zugabe“, in: Lavater (Anm. 41), 24f. Vgl. auch die entsprechende Festlegung in den pseudo-aristotelischen Traktaten Physiognomica aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.: „Physiognomik nämlich betreibt man an Körperbewegungen, Körperhaltungen, Hautfarben, an sichtbaren Charakterzügen in den Mienen, an Haaren, an der Glätte der Haut, an der Stimme, am Fleisch, an Teilen (des Körpers) und an der gesamten Körpergestalt“ (Traktat A §7, 806 a 26–34), Der vollständige Text ist abgedruckt in: Rüdiger Campe, Manfred Schneider (Hrsg.), Geschichten der Physiognomik. Text — Bild — Wissen, Freiburg i.B. 1996, 13–21 (übs. v. A. Degkwitz).

  40. Zur Physiognomik-Debatte des 18. Jahrhunderts siehe vor allem: Weissberg (Anm. 42); Ursula Geitner, „Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters”, in: Rüdiger Campe, Manfred Schneider (Hrsg.), Geschichten der Physiognomik. Text — BildWissen, Freiburg i.B. 1996, 357–385

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  41. Richard Gray, „Die Geburt des Genies aus dem Geiste der Aufklärung. Semiotik und Aufklärungsideologie in der Physiognomik Johann Kaspar Lavaters”, Poetica 23 (1991), 95–138

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  42. Gerhard Neumann, „‚ Rede, damit ich dich sehe‛. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick”, in: Ulrich Fülleborn, Manfred Engel (Hrsg.), Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne, München 1988, 71–108

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  43. Claudia Schmölders, „Das Profil im Schatten. Zu einem physiognomischen Ganzen im 18. Jahrhundert”, in: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposium 1992, Stuttgart 1994, 242–259.

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  44. Benjamin bezeichnet Edgar Allen Poe „als den ersten Physiognomen des Interieurs“. Vgl. Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1961, 185–200, hier: 194.

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  45. F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, Berlin 1922, 390.

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  46. Dostojewski (Anm. 48), 223. Vgl. auch Honoré de Balzac, Vater Goriot (1834), Zürich 1977, 14.

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  47. Auch die Literaturwissenschaft liest die Romane des 19. Jahrhunderts — zum Beispiel Stifters Nachsommer — physiognomisch: „Der Asperhof ist mithin zu verstehen als Physiognomie Risachs, dessen Besichtigung als eine Art Selbstoffenbarung” (Klaus Detlef Müller, „Utopie und Bildungsroman”, ZfdPh 90 [1970], 199–228, hier: 216).

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  48. Zum verbreiteten Gebrauch dieses Terminus (vor allem in Ernst Blochs Werk) im Anschluß an Adolf Loos’ Vortrag Ornament und Verbrechen von 1910 vgl. Gerard Raulet, Natur und Ornament. Zur Erzeugung von Heimat, Darmstadt 1987.

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  49. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse (1927), in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1977, 50–63

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  50. hier: 60. Die Photographie besitzt (wie der Autor) eine zwiespältige Affinität zum Zerstreuten, zum Abfall, zu den Teilen. Das Lob des konzentrierten Gedächtnisbildes fällt seltsam halbherzig aus: „Die Photographie erfaßt das Gegebene als ein räumliches (oder zeitliches) Kontinuum, die Gedächtnisbilder bewahren es, insofern es etwas meint. Da das Gemeinte in dem nur-räumlichen Zusammenhang so wenig aufgeht wie in dem nur-zeitlichen, stehen sie windschief zur photographischen Wiedergabe. Erscheinen sie von dieser aus als Fragment — als Fragment aber, weil die Photographie den Sinn nicht einbegreift, auf den sie bezogen sind und auf den hingerichtet sie aufhören, Fragment zu sein -, so erscheint die Photographie von ihnen aus als ein Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt” (Siegfried Kracauer, Die Photographie [1927], in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1977, 21–39, hier: 25).

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  51. Zu Kracauer vgl. vor allem (aus verschiedenen Perspektiven): Miriam Hansen, „Massenkultur als Hieroglyphenschrift: Adorno, Derrida, Kracauer”, in: Christoph Menke, Martin Seel (Hrsg.), Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt a.M. 1993, 333–367

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  52. und Henri Band, „Massenkultur versus Angestelltenkultur. Siegfried Kracauers Auseinandersetzung mit Phänomenen der modernen Kultur in der Weimarer Republik”, in: Norbert Krenzlin (Hrsg.), Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, Berlin 1992, 73–101.

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  53. Walter Benjamin, Einbahnstraße (1928), Berlin 1983, 81.

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  54. Der Aufsatz erschien in der Zeitschrift Widerstand, hg. Ernst Niekisch, Jan. (1934), 6–11. Hier zit. nach Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 — 1932. Ein Handbuch, 2 Bde., 3., erw. Aufl., Darmstadt 1989, 1, 36 f.

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  55. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1923), München 1980, 142. „In hundert Jahren”, prophezeit Spengler, „werden alle Wissenschaften, die auf diesem Boden noch möglich sind, Bruchstücke einer einzigen ungeheuren Physiognomik alles Menschlichen sein” (ebd., 135). Für Jünger ist Spenglers „vergleichende Morphologie” eine „museale Angelegenheit”, weil sie von Ganzheiten ausgeht. „Wir“, konstatiert er, „leben in einem Zustande, in dem man zunächst sehen lernen muß“ (Jünger [Anm. 6], 80f.).

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  56. Walter Benjamin, Zentralpark (1939/40), in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1961, 246–267, hier: 258.

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  57. Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 1987, 50.

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  58. Vgl. dazu Martin Meyer, Ernst Jünger, München 1990, 154–162.

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  59. Walter Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln (1931), in: ders., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M. 1966, 169–178, hier: 170.

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  60. Simmel (Anm. 22), 195. Benjamin kleidet diese Umdrehung der Topik nur in ein dialektisches Gewand: „Vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt” (Walter Benjamin, Der Surrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz [1929], in: ders., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a. M. 1966, 200–215, hier: 213).

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  61. Zum Photographie- und Filmdiskurs der dreißiger Jahre siehe unter anderem: Helmut Arntzen, Ursprung der Gegenwart. Zur Bewußtseinsgeschichte der Dreißiger ]ahre in Deutschland, Weinheim 1995, 1–68.

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  62. Eine Art physiognomische Euphorie kennzeichnet die Selbsteinschätzung des Films: „Es gibt keine Kunst, die so berufen wäre, dieses Gesicht der Dinge darzustellen, wie der Film. Weil er nicht nur eine einmalige, starre Physiognomie, sondern ihr geheimnisvoll — geheimes Mienenspiel zeigen kann” (Béla Balázs, Der sichtbare Mensch. Eine Film-Dramaturgie [1924], Halle 1926, 88).

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  63. Siegfried Kracauer, Biographie als neubürgerliche Kunstform (1930), Schriften, hrsg. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M. 1990, IV/2, 195–199, hier: 197.

  64. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: ders., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M. 1966, 229–247, hier: 242.

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  65. Walter Benjamin, Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerells Der Dichter als Führer in der Deutschen Klassik (1930), in: ders., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M. 1966, 429–436, hier: 429.

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  66. Siegfried Kracauer, Kult der Zerstreuung (1926), in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1977, 311–315, hier: 315.

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  67. Brigitte Werneburg, „Ernst Jünger, Walter Benjamin und Photographie. Zur Entwicklung einer Medienästhetik in der Weimarer Republik”, in: Hans-Harald Müller, Harro Segeberg (Hrsg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München (1995), 39–57

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  68. Brigitte Werneburg, „Die veränderte Welt: Der gefährliche anstelle des entscheidenden Augenblicks. Ernst Jüngers Überlegungen zur Fotografie”, Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 14 (1994).

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  69. Ernst Jünger, Über die Gefahr, in: Ferdinand Bucholtz (Hrsg.), Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung von Bildern und Berichten, Berlin 1931, 11–16, hier: 16.

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  70. Edmund Schultz (Hrsg.), Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit, Breslau 1933.

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  71. K. J., „Politik im Bild. Fünf Photobücher“, Eckart 9 (1933), 347f.

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  72. Zu solchen Alben siehe auch: Michael Rutschky, „Foto mit Unterschrift. Über ein unsichtbares Genre“, in: Barbara Naumann (Hrsg.), Vom Doppelleben der Bilder: Bildmedien und ihre Texte, München 1993, 51–66.

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  73. Karl Schlögel, „Landschaft nach der Schlacht. Besichtigung der sowjetischen und amerikanischen Industriewalstatt”, Kursbuch 131 (1998), 41–53, hier: 44.

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  74. Max Picard, Das Menschengesicht, München 1929, 84.

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  75. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1961, 148–184, hier: 174.

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  76. Max Picard, „Menschliches Auge und photographische Linse”, Eckart 8 (1932), 174–177, hier: 174.

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  77. Vgl. Helmut Lethen, „Neusachliche Physiognomik. Gegen den Schrecken der ungewissen Zeichen”, DU 49/2 (1997), 6–19, hier: 13ff.

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  78. Der Wille, die Maske zu zerschlagen oder sie für seine Zwecke zu nutzen — wie Machiavellis Politik -, liegt allein daran, ob man an Situationen bzw. Teile oder Ideen bzw. Ganzheiten glaubt. Zur Entstehung der Masken-, Kapuzen-, heißt: Verhüllungsrhetorik und ihrem Wachsen auf einem „hermeneutischen Feld zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert” vgl. Hans U. Gumbrecht, „Das Nicht-Hermeneutische: Skizze einer Genealogie“, in: Jörg Huber, Alois Martin Müller (Hrsg.), Die Wiederkehr des Anderen, Interventionen 5, Zürich 1996, 17–35, hier: 22

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  79. und Torsten Hahn, „Die Simulation und die Politiken der Krise”, Nummer 4/6 (1997), 4–14.

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  80. Walter Benjamin, Myslowitz — Braunschweig — Marseille. Die Geschichte eines Haschisch-Rausches (1930), in: ders., Über Haschisch. Novellistisches. Berichte. Materialien, Frankfurt a.M. 1981, 33–44, hier: 40.

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  81. Vgl. Carol Jacobs, „Benjamin’s Tessera: ‚Myslowitz — Braunschweig — Marseille‛“, Diacritics 22/3–4 (1992), 36–47.

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  82. Walter Benjamin, Schicksal und Charakter (1919), in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1961, 47–55, hier: 48. Auch im Kommereil-Aufsatz wird die Unterscheidung als solche problematisiert. Benjamin propagiert in der Absetzung von Gundolf „eine Glut der Erfahrung, die auf die hieratische Trennung von Werk und Leben verzichten konnte, weil sie an beiden die physiognomische, im strengsten Sinne unpsychologische Sehart bewährt hat” (Benjamin [Anm. 80], 429).

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  83. Kracauer muß zuerst einen Gegensatz zwischen Picard und Lavater konstruieren, um ihn dann für seine Zwecke auslegen zu können. Der Schluß der (unveröffentlichen) Rezension läßt erkennen, daß dies nicht überzeugend gelingt: „Die Sprache der Theologie ist fürs Heute durch Picard gerettet. Mag er sich auch vielleicht nicht so weit, wie es ihm möglich gewesen wäre, mit unserer gegenwärtigen Situation eingelassen und auseinander gesetzt haben” (Siegfried Kracauer, Zwei Arten der Mitteilung [1929], Schriften, hrsg. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M. 1990, V/2, 165–171, hier: 171). Im Gegensatz zu Picard wendet sich der Zeitgenosse Ernst Jünger im Sinne Kracauers gegen die alte Physiognomik: „Nur so, als Kultus des Individuums, ist auch die ungeheure Wirkung, die die Physiognomik gegen Ende des 18. Jahrhunderts entfesselte, zu verstehen” (Jünger [Anm. 6], 135).

  84. So die Pointe von Sabine Hakes Aufsatz Zur Wiederkehr des Physiognomischen in der modernen Photographie, der sich mit den Photobüchern Sanders und Heartfields auseinandersetzt. Abgedruckt in: Rüdiger Campe, Manfred Schneider (Hrsg.), Geschichten der Physiognomik. Text — Bild — Wissen, Freiburg i.B. 1996, 475–513.

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  85. Diese These vertritt Claudia Schmölders: „Das physiognomische Orientierungsbegehren stammt mit andern Worten aus psychisch archaischen Einstellungen” (Schmölders [Anm. 45], 244). Schmölders beruft sich dabei auf gleichlautende Thesen Gombrichs, von Matts und Ginzburgs. Diese Thesen aber entwachsen alle einem alten Topos: „Physiognomik ist keine Kunst, sie ist Natur.” Vgl. dazu Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1983, 329.

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  86. Novalis, Blüthenstaub (23.), Werke in einem Band, hrsg. Hans-Joachim Mahl u. Richard Samuel, Gütersloh 1982, 432.

  87. Novalis, Dialogen, Werke in einem Band, hrsg. Hans-Joachim Mahl u. Richard Samuel, Gütersloh 1982, 510–521, hier: 512.

  88. Walter Benjamin, Crocknotizen (1932), in: ders., Über Haschisch. Novellistisches. Berichte. Materialien, Frankfurt a.M. 1981, 55–61, hier: 57.

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  89. Das jedenfalls versichert uns eine entsprechende Bildunterschrift des Herausgebers zu einem Photo Jüngers in seiner Bibliothek aus dem Jahr 1931. Vgl. Heimo Seh wilk (Hrsg.), Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten, Stuttgart 1988, 124.

  90. Siegfried Kracauer, Georg Simmel (1920), in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1977, 209–248, hier: 247.

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  91. Hartmut Winkler, Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, o.O. 1997, 78.

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Christians, H. Gesicht, Gestalt, Ornament Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 74, 84–110 (2000). https://doi.org/10.1007/BF03375534

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