Zusammenfassung
Einsamkeit erfährt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine raumzeitliche Flexibilisierung und emotionale Dynamisierung; sie wird nun als poeto- und pathogène ‚Lage der Seele’ verstanden. Diesen Semantisierungsprozess stellt der Aufsatz vor und zeigt auf dieser Grundlage neue Perspektiven u. a. für Goethes Leiden des jungen Werthers auf.
Abstract
In the late 18th century, the notion of ‘solitude ’ takes on a broader meaning both in terms of time and space and in terms of its emotional dimension: it becomes a poetogenic and pathogenic ‘state of the sou’. The essay retraces this process of semantization and offers on this basis new perspectives on, among others, Goethe’s Sorrows of Young Werther.
Literature
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Vgl. exemplarisch Wilhelm Bittner, „Zum Thema. Übersicht und Ergänzung“, in: ders. (Hrsg.), Einsamkeit in medizinisch-psychologischer, theologischer und soziolo gischer Sicht, Stuttgart 1967, 9–29.
Eine Definition moderner Einsamkeit gibt Robert Sayre, Solitude in Society. A Sociological Study in French Literature, London u.a. 1978, 39: „a permanent, anguished awareness of the opacity of human consciousness, an inescapable, unwanted psychic isolation.” Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch sind die soziale Bedeutung „für sich allein, verlassen, ohne Kontakte zur Umwelt“ und die räumliche Bedeutung „abgelegen, abgeschieden“ lexikalisiert (Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, 3. Aufl., Mannheim u.a. 1999, III, 972). Aufwertungsversuche gegen diesen alltagssprachlichen Gebrauch sind meist philosophischer Provenienz.
Zur Unterscheidung von Einsamkeit und Vereinsamung vgl. etwa Johannes B. Lotz, „Das Phänomen der Einsamkeit im Lichte der personalen Anthropologie“, in: Wilhelm Bittner (Hrsg.), Einsamkeit in medizinisch-psychologisch er, theologischer und soziologischer Sicht, Stuttgart 1967, 30–48, hier: 33f.
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Für einen Versuch, Einsamkeit (wieder) als positiv konnotierten, produktiven Zustand zu etablieren, vgl. Odo Marquard, „Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit“, in: ders., Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994, 110–122.
Für eine positive Wertung von Einsamkeit im Zeichen philosophischer Kommunikation vgl. Karl Jaspers, Philosophie, 3 Bde., Berlin u.a. 3 1965, II: Existenzerhellung,61–97; Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, hrsg. Jerome Kohn, München 2006, 81–83.
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Zitiert nach August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 21968, 156f.
Vgl. Hildegard Emmel und Ulrich Dierse, „Einsamkeit“, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philoso phie, 13 Bde., Basel, Stuttgart 1971–2007, II [1972], 407–413, hier: 408; Lepenies (Anm.2), 87.
Alexander Rüstow, „Vereinzelung. Tendenzen und Reflexe“, in: Gottfried Eisermann (Hrsg.), Gegenwartsprobleme der Soziologie. Alfred Vierkant zum 80. Geburtstag, Potsdam 1949, 45–78, hier: 50.
Vgl. Carsten Behle, „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens”. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert, Tübingen 2002, 207–209; Zenker (Anm. 6), 201–233; René von Niederhäusern, „Die ‚heiligen Halunken’. Einsamkeit und Eremitentum bei Johann Georg Zimmermann (1728–1795)”, in: Rudolf Velhagen (Hrsg.), Eremiten und Ermitagen in der Kunst vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, Ausstellungskatalog, Basel 1993, 38–46, hier: 43.
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Vgl. dazu u.a. Zenker (Anm. 6), 18–54; sowie die Einleitung in Johann Georg Zimmermann, Mit Skalpell und Federkiel. Ein Lesebuch, hrsg. Andreas Langenbacher, Bern u.a. 1995, 9–19.
Vgl. Wolfram Mauser, „Andreas Gryphius’ Einsamkeit. Meditation, Melancholie und Vanitas“, in: Volker Meid (Hrsg.), Gedichte und Interpretationen, I: Renais sance und Barock, Stuttgart 1982, 231–244.
Vgl. Reinhard Zimmermann, Künstliche Ruinen. Studien zu ihrer Bedeutung und Form, Wiesbaden 1989,74–83.
Vgl. Ulrich Stadler, Der einsame Ort. Studien zur Weltabkehr im heroischen Roman, Bern 1971, 5.
Noch in Johann Georg Walchs Philosophischem Lexicon (Leipzig 1726, 696) lässt sich eine Variation dieser barocken Definition antreffen.
Vgl. auch die gekürzte Fassung in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigem Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste […], 64 Bde., Halle, Leipzig 1732–1750, VIII [1734], 574.
Francesco Petrarca, Das einsame Leben. Über das Leben in Abgeschiedenheit. Mein Geheimnis, übersetzt von Friederike Hausmann, hrsg. Franz Josef Wetz, Stuttgart 2004, 85.
Vgl. Pierre Naudin, L’expérience et le sentiment de la solitude de l’aube des Lumières à la Révolution. Un modèle de vie à l’épreuve de l’histoire, Paris 1995, 97–100
Gonthier-Louis Fink, „L’ermite dans la littérature allemande“, Etudes Germaniques 18 (1963), 167–199, hier: 191.
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Vgl. zur Geselligkeit zwischen absolutistischer Staatsrepräsentation und bürgerlicher Gemeinschaft Wolfram Mauser, „Geselligkeit. Eine sozialethische Utopie des 18. Jahrhunderts“, in: ders., Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland, Würzburg 2000, 17–49.
Vgl. Manfred Riedel, „Gesellschaft, Gemeinschaft“, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997, II [31992], 801–862, hier: 817 und 832f.; Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, 19f.
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Zur desolaten Forschungslage der Rousseaurezeption vgl. nach wie vor Ralph-Rainer Wuthenow, „Rousseau im ‚Sturm und Drang’”, in: Walter Hinck (Hrsg.), Sturm und Drang, Frankfurt a.M. 1989, 14–54.
Herbert Jaumann, „Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven“, in: ders. (Hrsg.), Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin, New York 1995, 1–22, hier: 9 (Fußnote 13).
Vgl. Sayre (Anm. 9), 52; Bronislaw Baczko, Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft, Wien 1970, 207.
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Georg Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhun dert, Tübingen 1989, 169–186. Die Unbeholfenheit des Einsamen in geselligen Gesprächskontexten zieht sich als Motiv durch den gesamten deutschen Einsamkeits diskurs.
Zitiert nach Susanne Knoche, Der Publizist Karl Philipp Moritz. Eine intertextuelle Studie über die „Vossische Zeitung“ und die „Denkwürdigkeiten“, Frankfurt a.M. 1999, 368.
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Für die lange Tradition einer Problematisierung der gefährlichen Unkontrollier barkeit des einsamen Selbstumgangs vgl. Daniel Defoe, The Novels of Daniel Defoe, hrsg. William R. Owens, London 2008ff., Ill: Serious Reflections during the Life and Surprising Adventures of Robinson Crusoe (1720), 62; Montaigne (Anm. 69), 70; Montesquieu, Lettres Persanes, hrsg. Jean Starobinski, Paris 2003, 214.
Vgl. dazu Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte — am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, 40f.
Thomas Klinkert, „Einsamkeit und ästhetische Autonomie bei Jean-Jacques Rousseau“, in: Susanne Schmid (Hrsg.), Einsamkeit und Geselligkeit um 1800, Heidelberg 2008, 123.
Vgl. allgemein Hans-Wolf Jäger, „Mönchskritik und Klostersatire in der deutschen Spätaufklärung“, in: Harm Klueting (Hrsg.), Katholische Aufklärung — Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, 192–207, hier: 192. Vgl. für eine ähnliche Polemik wie bei Zimmermann Weiße (Anm. 26), 142f.
Johann Heinrich Weißmann, Idyllen, Leipzig 1772, 10.
Johann Wolfgang Goethe, Der junge Goethe. Neubearbeitete Ausgabe in fünf Bänden, hrsg. Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1963–1974, IV, 105–187, hier: 114.
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Wittler, K. Einsamkeit Ein literarisches Gefühl im 18. Jahrhundert. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 87, 186–216 (2013). https://doi.org/10.1007/BF03374675
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