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Die Grenze der psychopathologischen Wahninterpretationen

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Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie

Zusammenfassung

Die herrschenden Wahndefinitionen beschränken sich wesentlich auf den sprachlich-logischen Gehalt des als “Wahn” geäußerten Urteils und sind normativ-gegenständlich am alltäglich-gemeinsamen In-der-Weltsein orientiert; daher müssen die Kriterien zwangsläufig logisch-gegenstandstheoretischer oder auch “praktischer”, jedenfalls unpsychologischer Art sein. Wird stattdessen auf das im Wahnurteil inexplizit gemeinte oder darin partiell investierte seelisch-geistige Geschehen abgestellt, d. h. werden die als “Wahn” imponierenden Phänomene mit psychologischen und psychopathologischen Kriterien zu fassen versucht, dann zeigt sich eine radikale Sonderstellung des schizophrenen Primärwahnes. Während alle übrigen Wahnideen entweder rationale, sprachlich ausformulierte Explikationen von Erlebnissen (Stimmungen, Halluzinationen, Gefühlsveränderungen usw.) oder urteilsmäßige Verweisungen auf triebhaft-affektive Veränderungen der zwischenmenschlichen Beziehungen sind —derart, daß sich diese grundsätzlich innerhalb des gemeinsamen In-der-Welt-seins haltenden Vorgänge gleichsam im Wahnurteil als ihrem gedanklichen Resultat niederschlagen —so bildet der schizophrene Primärwahn die prinzipiell inadäquate Selbstexplikation einer fundamental anderen, eigenen Weise des Daseins: der schizophrenen Existenz.

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  1. Vgl. die übersichtliche Darstellung vonW. Jahrreiß inBumkes Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. 1, 584 f. Berlin: Julius Springer 1928. Allein schon die Tatsache, daß die Wahnideen, wie üblich, so auch vonJahrreiß anscheinend zwanglos unter den “Störungen des Denkens” abgehandelt werden, charakterisiert die Begrenztheit ihres Verständnisses. Daraus seien beispielsweise folgende Definitionen zitiert: “FürBleuler sind die Wahnideen unrichtige Vorstellungen, die nicht einer vorübergehenden ungenügenden Logik entspringen, sondern einem affektiven Bedürfnis; sie sind unkorrigierbar, solange der Affekt anhält”.Bumke: “Eine Wahnidee ist ein krankhaft entstandener und zugleich unkorrigierbarer Irrtum”; und entsprechend bezeichnetLange die “Wahnideen als auf krankhaftem Wege zustande gekommene Irrtümer, die der Berichtigung durch Beweisgründe nicht zugänglich sind”.Jahrreiß faßt das Ergebnis folgendermaßen zusammen: “Die Wahnidee ist subjektive Wirklichkeit. Sie ist dies, weil sie mit dem Erlebnis vollkommenerGewißheit erlebt wird. Diese Gewißheit ist eben die Form, in der das urteilende Ich die gegenständliche Seite des Urteilsseiner Bedeutung nach erlebt. Der Wahnkranke hält den Wahninhalt für subjektiv wirklich und objektiv real, weil er ihnals gewiß erlebt, und er erlebtinhaltlich Verkehrtes als gewiß, weil sein qualitatives Bedeutungsgefühl irgendwie beeinträchtigt ist.Die Wahnidee ist ein Irrtum aus krankhaft verändertem Bedeutungsgefühl;er ist unkorrigierbar, weil er als unerschütterlich gewiß erlebt wird”. Es braucht nicht eigens bewiesen zu werden, daß diese Nivellierung gegenüber der —vonJahrreiß übrigens auch zitierten —Jaspersschen Trennung der “echten Wahnideen” von den “wahnhaften Ideen” (im wesentlichen meintGruhles undHedenbergs Scheidung in “primäre Wahnvorgänge” und “sekundäre Wahnideen” bzw. schizophrenen Wahn und “synthetisch-affektive Wahnidee”) dasselbe einen Rückschritt bedeutet.

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References

  1. Stertz, G.: Z. Neur.127, 790 (1930). AuchKolk (Kolle, K.: Die primäre Verrücktheit; Sammlung psychiatrischer und neurologischer Einzeldarstellungen, Bd. 1, S. 23 f. Leipzig: Georg Thieme 1931) hat sich soeben in einer grundsätzlichen Besinnung “über die Wertigkeit pathopsychischer Einzelsymptome” Rechenschaft gegeben, die in die gleiche Richtung zielt.

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  2. Schneider, Carl: Z. Neur.131, 719 f. (1931).

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  3. Kronfeld, A.: Perspektiven der Seelenheilkunde, S. 270 f. Leipzig: Georg Thieme 1930.

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  1. Kahn, E.: Arch. f. Psychiatr.88, 435 f. (1929).

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  2. a. a. O. 446.

  3. a. a. O. 445.

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  1. Damit übereinstimmend erklärt auchO. Kant im 3. Stück seiner “Beiträge zur Paranoiaforschung”, Z. Neur.127, 615 f. (1930): “Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Paranoia und irgendwelchen anderen Wahnarten” (a. a. O. 637). Und desgleichenF. Kant: Arch. f. Psychiatr.87, 181 (1929): “Daß schizophrener Wahn wohl meist als solcher erkannt wird, ist unseres Erachtens nicht in einer prinzipiell verschiedenen Dynamik psychopathischer und schizophrener Wahnbildung begründet”. Auf das “dynamische” Moment legtO. Kant auch das entscheidende Gewicht, aber es reicht eben in dem Sinne, in welchem es in den psychopathischen u. ä. Wahnbildungen eine Rolle spielt, gar nicht in die Dimensionen des schizophrenen Primärwahnes. Und selbst wenn die DefinitionF. Kants: “Wahn bedeutet grundsätzlich den Versuch, eine unerträgliche Wirklichkeit umzubilden”, auch auf ihn zutreffen würde, dann wäre “Umbildung” und “Wirklichkeit” tatsächlich jeweils etwas anderes. Für alle diese Anschauungen war die folgende FormulierungKretschmers Vorbild (Kretschmer, E.: Der sensitive Beziehungswahn, 2. Aufl., S. 4. Berlin: Julius Springer 1927): “Zwischen paranoischen und paraphrenen (bzw. schizophrenen), zwischen psychisch-reaktiven und endogen-prozeßbedingten Wahnkrankheiten gibt es alle Übergangsstufen, alle möglichen Grade des Ineinandergreifens von psychologischen und prozeßhaften Kausalkomponenten”.

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  1. Ich werde in den zitierten “Beiträgen” die unumgängliche Notwendigkeit einer Umwelts- und Weltlichkeitsanalyse (wie sieHeidegger durchgeführt hat) für das Verständnis insbesondere des schizophrenen Weltuntergangserlebnisses und des schizophrenen Daseins überhaupt eingehend zeigen und sie selbst so weit entwerfen, als es für die Interpretation der psychotischen Phänomene nötig erscheint. Solange dies nicht geschieht, verschließt sich einem nicht nur der eigentliche Sinn des populären Ausdrucks “Verrücktheit”, es wird auch sein wesenhafter Zusammenhang mit der Charakterisierung der schizophrenen Existenzumwandlung als eines “Weltunterganges” und mit den klinisch-psychopathologischen Symptomfassungen nicht greifbar. Infolgedessen empfinde ich den sonst so verdienstlichen VersuchA. Storchs Z. Neur.127, 799 f. (1930) unzulänglicher als es unbedingt sein müßte; die Heideggersche Daseinsanalytik ermöglicht schon jetzt eine weit bestimmtere Auslegung des schizophrenen Daseins als es nach der ArbeitStorchs vermutet werden muß. Diese Behauptung wird freilich mit dervorliegenden Bemühungnicht bewiesen — und soll es auch nicht.

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  1. Vgl. dazu übrigens die ExperimenteK. Zuckers (Arch. f. Psychiatr.83, 706 f. [1928]), welche die obige gedankliche Konstruktion in die Wirklichkeit umzusetzen scheinen.

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  1. Wir berücksichtigen hier am sprachlichen Ausdruck nur den idealen Urteilsoder Sinninhalt und dessen intentionalen Verweisungsbezug, nicht dagegen den stimmungshaft-lautlichen, echt symbolischen Ausdrucksgehalt, auf den vor allemMette, (Mette, A.: Über Beziehungen zwischen Spracheigentümlichkeiten Schizophrener und dichterischer Produktion. Dessau: Dion-Verlag Liebmann & Mette 1928) hingewiesen hat. Ob in ihm das faktische Geschehen adäquater zum Ausdruck kommen kann, ist eine andere Frage, die wir mitMette, Prinzhorn, Kronfeld u. a. bejahen.

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  1. Kronfeld: a. a. O. 321.

  2. Gruhle Berze, J. u.H. W. Gruhle: Psychologie der Schizophrenie, S. 137. Berlin: Julius Springer 1929 —spricht treffend von den depressiven Wahnbildungen als “Verdeutlichungen der melancholischen Stimmungstendenzen”. Dürften derweise die Wahnideen als ausschließlich gedankliche Gebilde genügend geklärt sein, so gilt dies keineswegs von der melancholischen Stimmung als solcher: man muß sich zum mindesten für eine mögliche Erschließung ihres eigentlichen Geschehenscharakters offenhalten, die vielleicht auf dem Wege einer genaueren phänomenologisch-psychopathologischen Analyse zugänglich wird oder einer solchen ihrerseits die Bahn freilegt.

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  1. Jaspers, K.: Allgemeine Psychopathologie, 3. Aufl., S. 64 f. Berlin: Julius Springer 1923.

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  1. Berze-Gruhle: a. a. O. 121 f.

  2. a. a. O. 124.

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  1. a. a. O. 127.

  2. a. a. O. 129.

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  1. Schneider, Carl: Die Psychologie der Schizophrenen. Leipzig: Georg Thieme 1930.

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  1. a. a. O. 238 f.

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  1. Schon früher hatOtto Kant Z. Neur.108, 625 f. (1927) am Wahne zwei Momente herausgehoben, die sich freilich mit den vonSchneider gemeinten nicht ganz genau decken.Kant spricht von einem “Wirklichkeitserleben” des Wahnes und versteht darunter die “subjektive Gewißheit der Realität des Erlebten” (entspricht ungefähr dem, wasSchneider den “Gewißheitsgrad” des Wahnerlebens nennt). Er stellt es der “objektiven Realitätsbedeutung” des Wahnes als der Bedeutung desselben in der Realität, d. h. dem “Bedeutungsgrad, welcher dem Wahn als einem seelischen Geschehen für die Realität”, für das Verhalten in ihr zukommt, gegenüber (ungefähr das, wasSchneider die “Wirklichkeitsbedeutung” heißt). Wir werden später zu zeigen versuchen, daß und warum diese Momente für den Primärwahn etwas ganz anderes sind als für die übrigen Wahnarten.

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  1. a. a. O. 240.

  2. a. a. O. 241.

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  1. Kronfeld: a. a. O. 281.

  2. a. a. O. 271.

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  1. a. a. O. 272.

  2. a. a. O. 279.

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  1. a. a. O. 284.

  2. a. a. O. 284/5.

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  1. a. a. O. 285.Kronfeld hat die wahnhaften Gefühle noch weiter verfolgt (308f.), aber es ist für unsere Absicht nicht nötig, auch darauf einzutreten.

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  1. Es wäre freilich sehr zu wünschen, wenn man Beobachtungen mitteilen würde, die zeigen, daß es trotz sensitiver Veranlagung, Phantasiereichtum, Neigung zu affektiven Erinnerungsfälschungen und augenblicklichen Beziehungsmißdeutungen, ja trotz eines wiederholten Anrührens einer alten, nie vernarbten “seelischen Wunde” zu keinem psychogenen Wahne kommt. Derartige Fälle entziehen sich als praktisch gesunde naturgemäß dem psychiatrischen Bereiche und sind nur dem privaten Bekanntenkreise zu entnehmen. Wenn man Gelegenheit hat, das Schicksal einer derartigen Persönlichkeit jahrelang zu verfolgen, dann gerät man doch wieder in einen leisen Zweifel hinsichtlich der restlosen Verständlichkeit der psychopathischen Paranoia (oder wenn man will umgekehrt: es scheint einem das Gesundbleiben der fraglichen Typen nicht mehr recht verständlich zu sein, sofern man sich schon zu sehr in das vollkommene Verstehen-wollen der psychogenen Wahnentwicklungen eingegraben hat). Einen verwandten Eindruck hatJ. Lange: Z. Neur.94, 85 f. (1924) und: Die Paranoiafrage,Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie Berlin und Wien: Franz Deuticke 1927, schon formuliert, wenn er für die echteKraepelinsche Paranoia einen “biologischen”, außercharakterologischen Faktor als für die Wahnentstehung notwendig verlangt. Durch die umfangreichen ErhebungenKolhs ist ihm jetzt auch recht gegeben worden. (Freilich halten wirLanges Formulierung nicht für glücklich; darüber später.)

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  1. Jaspers, K.: Strindberg und van Gogh (Philosophische Forschung, H. 3, herausgeg. vonK. Jaspers), 2. Aufl., S. 145. Berlin: Julius Springer 1926.

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  1. Berze-Gruhle: a. a. O. 131.

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  1. Schneider, Kurt: Z. Neur.95, 500. (1925). Die abnormen seelischen Reaktionen, inAschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie, Berlin und Wien: Franz Deuticke 1927.

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  1. Kehrer, F. undE. Kretschmer: Die Veranlagung zu seelischen Störungen, S. 29. Berlin: Julius Springer 1924. “Vom Standpunkt einer naturwissenschaftlich fundierten Psychopathologie aus ist es selbstverständlich, daß Charakter und Temperament eben dadurch ihre Konstanz besitzen, daß sie auf der in letzter Linie eingeborenen Anlage eines somatischen Apparates beruhen”. Und dazu die Anmerkung 2: “Es ist ein charakteristisches Zeichen für die Rückständigkeit der allgemeinen Anschauungen über diese Dinge, wenn vor kurzemEwald (Z. Neur.84, 385) es noch für nötig gehalten hat, sich gewissermaßen dafür zu entschuldigen, daß er von biologischen, d. h. somatologischen Gesichtspunkten aus an das Thema Charakter und Temperament herantritt. Es sollte nämlich doch klar sein, daß Bios Leben schlechthin bedeutet, dessen Gesetzmäßigkeit wir zu erkennen suchen, also Seele so gut wie Körper. Die Seele suchen wir durch psychologische Zeichen einzufangen, an ihre körperlichen Verankerungen aber kommen wir auf dem Wege somatologischer (physikalischer, chemischer, serologischer usw.) Forschung vorläufig nur sehr schrittweise! heran. So selbstverständlich dies erscheint, so muß es doch immer wieder gegenüber Autoren betont werden, welche psychologische und somatologische Begriffe fortgesetzt aufeinander beziehen oder der naiven erkenntnistheoretischen Auffassung huldigen, daß psychologische Erkenntnisse und Begriffe von bio(für sie = somatolo-)logischen Überlegungen aus zu gewinnen seien. Es ist dringend zu wünschen, daß man in der Psychiatrie als der Lehre von den kranken Persönlichkeiten bald von der Engherzigkeit und Einseitigkeit loskommt, mit der man die wissenschaftlichen Psychiater in die zwei Lager der Somatiker und Psychiker scheidet oder viel darüber streitet, wie viel die Psychiatrie Naturwissenschaft, wie viel Psychologie (bzw. wie es neuerdings höchst unzweckmäßig genannt wird, Phänomenologie) zu sein habe”.

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  2. Straus, E.: Geschehnis und Erlebnis. Berlin: Julius Springer 1930.Straus sagt sehr treffend (6): “Der Vorwurf, an schwierigen aber entscheidenden Stellen der psychologischen Begriffsbildung Zuflucht zu biologischen Erklärungen genommen zu haben, trifft allerdingsFreud nicht allein, sondern reicht auch noch über die übrigen, biologisch fundierten, psychologischen Theorien hinaus. Auf Schritt und Tritt begegnet man in der Psychologie und Pathopsychologie einem Verhalten der Forscher, das man mit dem der Tauchente vergleichen könnte. Wie diese bei jedem Zeichen einer herannahenden Gefahr unter Wasser verschwindet, so suchen die Psychologen bei neuauftauchenden psychologischen Problemen gern eine Zuflucht unter der Oberfläche der Biologie. Die Gründe dafür sind nicht schwer zu entdecken. Niemand möchte heute mehr als Assoziationspsychologe gelten, aber das dem Menschen so allgemeine Bedürfnis, bildlich statt begrifflich zu reden, das in der Assoziationspsychologie seine volle Befriedigung gefunden hatte, braucht einen Ersatz; den liefert heute die Biologie”. WederKehrer nochStraus würde es sicher einfallen, die somatischen (“biologischen”) Fundamente des seelischen Geschehens zu leugnen oder gering zu achten, sie nicht der Erforschung für wert zu halten (vielfach ist ja die somatische Seite die einzige Zugangsmöglichkeit zumal für die therapeutische Beeinflussung der psychotischen Phänomene; das hängt von der größeren ontisch-ontologischen Mächtigkeit des körperlichen Fundamentes ab). Dagegen kommt bei beiden Autoren die klare Einsicht zum Ausdruck, daß es sich jeweils um zwei phänomenal radikal verschiedene Bereiche handelt, die trotz einer eindeutigen Abhängigkeit in durchhaltender Reinheit erhellt werden müssen.

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  1. F. Kehrer hat diese Probleme neuerdings in der Einleitung zu seiner Paranoia bearbeitung inBumkes Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. 6, Spez. Teil II, S. 235 f., diskutiert. Er meint dort, man müsse das Begriffspaar —weil es sich eben nur um “Typen” (Kurt Schneider), um “Grenz-”, nicht Gattungsbegriffe handle, deren Krieterien überdies weitgehend subjektiv seien-durch ein besseres zu ersetzen suchen; “bis dahin darf es jedenfalls, will man dies Begriffspaar in Form einer Fragestellung fassen, nicht ‘Entwicklung oder Prozeß ?’ heißen, sondern es muß heißen: Inwiefern Entwicklung, inwiefern Prozeß und u. U. inwieweit dieser, inwieweit jene ?”. Mit der neuen Wendung, die wir dem Begriff zu geben versuchen —dergemäß es sich beim Prozesse um eine vom alltäglichen In-der-Welt-sein verschiedene Daseinsweise handelt (die übrigens je verschieden geartet sein kann) —wird er doch wohl wieder etwas in sich verfestigt. Und obzwar das Moment der Unverständlichkeit nach wie vor eine zentrale Rolle spielt, so vermag es doch —will uns scheinen —bis zu einem gewissen Grade ein “objektives” Gewicht zu erlangen; denn tief genug gesehen eignet dem Verstehenoder Nichtverstehenkönnen keine geringere “objektive” Bedeutung, als etwa den Voraussetzungen der psychiatrischen Diagnostik. Verhält es sich so, daß der Prozeß den Ausbruch einer anderen Existenzweise anzeigt, dann komplizieren sich offenbar seine Beziehungen zur Entwicklung noch mehr als sieKehrer exponiert: es ist auch eine “Entwicklung”innerhalb des Prozesses, d. h. der neuen Daseinsweise denkbar, die im Kontakt zur abgelaufenen oder noch geschehenden normalen Entwicklung steht usw. Aber es wird sehr schwer halten, diese theoretischen Möglichkeiten am einzelnen konkreten Fall zu bewähren — und nur dann hätten sie einen Sinn.

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  1. Kant, O.: Z. Neur.127, 618 (1930).

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  1. Kant, O.: Z. Neur.108, 642/3 (1927). Ich halte übrigens die FrageKants “Bedeutet der Wahn für seinen Träger dieselbe Wirklichkeit wie der gewöhnliche Irrtum für den Gesunden ?” für unzureichend. Denn offenbar soll nicht nach dem logischen Urteilsgehalt des Irrtums bzw. des Wahnes, sondern nach dessen psychologischer (und existenzieller) Bedeutung gefragt werden. “Irrtum” ist aber psychologisch ein sehr vieldeutiges Phänomen; es kommt entscheidend darauf an, von was es getragen wird.Kant ist überhaupt durchwegs am “Leistungsprodukt” der Geschehen hängen geblieben —was durch die Betonung des dynamischen Momentes nicht ausgeglichen wird.

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  1. Außerordentlich eindrücklich kommt dies im ausgezeichnet dargestellten und schönen “Fall Kestner” zum Ausdruck, denA. Heidenhain in der Gaupp-Festschrift, Z. Neur.127, 534 f. (1930), publizierte. Es ist mir freilich nicht mehr restlos begreiflich, wie man an der schizophrenen Natur dieses Wahnes zweifeln oder sie gar negieren kann, wie esHeidenhain (a. a. O. 577 f.) tut. Gewiß prägt die präpsychotische, “paranoide” (im nicht-schizophrenen Sinne) charakterologische Eigenart Kestners zufolge eines offenbar milden schizophrenen Prozesses den Wahn sehr weitgehend; aber aus einer nur psychopathischen Persönlichkeit wächst nie so etwas wie die “große Vision” heraus. Und wennHeidenhain manche “schizophrenieverdächtige” Äußerungen auf dem Höhepunkt der Erkrankung mit dem Hinweis auf die Lomerschen Anschauungen meint erklären zu können, so ist umgekehrt zu fragen, ob das kritiklose Anheimfallen eines akademisch Gebildeten an derart niveaulose Dinge nicht erst auf dem Boden eines Prozesses möglich wird. Freilich muß man in dieser Hinsicht die “unmöglichsten” Handlungen als Wirklichkeit hinnehmen. Davon abgesehen spürt man aber durch die ganze Wahnbildung Kestners hindurch den schizophrenen Grund und die schizophrene Kritiklosigkeit, die ja nicht nur nach einer Richtung ausgedehnt ist und die sich in greifbaren Symptomen dokumentiert. Desgleichen würden wir den früher vonE. Krapf, Arch. f. Psychiatr.81, 561 f. (1927), veröffentlichten Fall eines Liebes- und Verfolgungswahnes unbedenklich der Schizophrenie zuweisen. Es ist doch nicht allzu selten, daß man bei pyknischen Frauen um die Zeit des Klimakteriums ein ganz fragloses (schizophrenes) Paranoid ausbrechen sieht, ohne daß im übrigen die Persönlichkeit von ihrer Gefühlswärme und Zugänglichkeit verliert. Und gerade in diesen Fällen finden sich häufig teils verständliche, teils unverständliche wahnhafte Erinnerungsfälschungen und phantastische Produktionen, deren Krankhaftigkeit zum Teil eingesehen wird. Man wird die DeutungKrapfs des aus dem gewohnten Rahmen fallenden Erlebnisses —hochgradige Angst, massenhafte akustische und optische, szenenhafte Sinnestäuschungen usw. mit nachfolgender partieller Korrektur —als einer auf dem Boden einer körperlichen Erkrankung (Grippe) entstandenen symptomatisch-deliranten Episode nicht widerlegen können, wird aber daran erinnern, daß Ähnliches auch in akuten Zuständen bei eindeutig Paranoiden vorkommt, ohne daß man einen Anhaltspunkt für eine körperliche Erkrankung hätte. Schließlich zeigen die sonstigen halluzinatorischen Phänomene zweifellos den Charakter des schizophrenen Stimmenhörens: die Worte “Hure”, “Dirne” u.dgl. können wohl inhaltlich komplexbedingt sein, daß es sich aber um Mißdeutungen handle und nicht um halluzinatorisch in die Umwelt verlegte Stimmen, halte ich für ausgeschlossen. Kein Psychopath entwickelt “in ungebrochener Linie aus der ursprünglichen Persönlichkeit heraus” solche “Mißdeutungen”.

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  1. Jaspers, K.: Allgemeine Psychopathologie, S; 64.

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  1. Wenn ich recht verstehe, so bildet dies auch den wesentlichen Grund der Begrenzungen, in dieK. Hildebrandt die psychiatrischen Pathographien mit Becht verweist —mit nur allzu großem Recht angesichts der kritiklosen Eiligkeit, mit derLange-Eichbaum die Probleme vielfach ahnungslos verwirrt (vgl. dazu neuerdings den AufsatzHildebrandts in Z. Neur.132, 792 f. (1931]). Man muß es einmal aussprechen, daß die Art und Weise, wieKretschmer, Lange-Eichbaum u. a. psychopathologisch an die schöpferischen Menschen herantreten, vielleicht vielerlei wissenswerte Dinge reichlich schematisiert ans Licht bringt, aber von den wesentlichen sachlichen Problemen keine Ahnung verrät —sonst könnten sie sich nicht mit der Diagnostizierung von “schizoiden” Zügen u. dgl. zufrieden geben. Ich gestehe im übrigen zu, daß die Bestimmung der “wesentlichen” Probleme sehr dem subjektiven Werturteil unterliegt; aber nicht allein ihm.

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  1. Birnbaum, K.: Z. Neur.77, 509 f. (1922). Wir werden in unseren “Beiträgen” zeigen, daß das Erfassen der “metaphysischen Wirklichkeit” des psychotischen Geschehens keineswegs an “subjektive”, “unprüfbare”, unwissenschaftliche Eindrücke (“intuitive Wesensschau” u. dgl.) gebunden ist, wieBirnbaum meinte, sondern eine Explikation dessen ist, was jede empirisch-psychiatrische Erkenntnis trägt und vorgängig leitet.

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  1. Damit wird keineswegs nur ein unverbindlicher Einfall formuliert. DennA. Wetzel hat bereits vor Jahren Z. Neur.78, 410/1 (1922), Anm.3 —sehr mit Recht im Zusammenhange eines Vergleiches der schizophrenen Weltuntergangserlebnisse mit religionspsychologischen Problemen erklärt: “‘Vergleich’ ist allerdings wohl nicht mehr die richtige Bezeichnung für die Tätigkeit, die bei der Berührung mit der Religionspsychologie einzusetzen hätte. Es handelt sich hier ja nicht mehr darum, daß durchweg zwar ähnlich aussehende, tatsächlich aber im Grunde, der Herkunft nach, ganzverschiedenartige Stimmungsqualitäten und Erlebnisformen sich gegenüberstehen. Was die Religionspsychologie an besonderen Stimmungen und Gefühlen euphorischen oder dysphorischen Grundcharakters, an Erlebnissen apokalyptischen Einschlags, an Begnadungs- und Verdammungserlebnissen verarbeitet, das gehört, abgesehen von anderen psychopathologischen Beziehungen, zu einem Teile sicher den Auswirkungen der Schizophrenie an”.Wetzel fährt unmittelbar daran anschließend fort: “Es wird sich in diesem Grenzgebiete etwa die Frage einstellen, warum ganz allgemein die Erlebnisse und Einstellungen des Schizophrenen in ihrer Inhaltsschaffung die ausgesprochene Tendenz zum Religiösen, zum Kosmischen, zum Metaphysischen, zu den großen Zusammenhängen haben”. Gerade dieses Faktum ist mit psychologischen Hinweisen —etwa auf die Pubertät und ihren erotisch-sexuellen Krisen ganz unzureichend zu verstehen. Vielmehr ist es die Existenzwandlung, das Hinausgeworfenwerden aus der alltäglichen Welt, welches die metaphysischen und religiösen Probleme —wenn auch in bizarrer Form —an die Oberfläche treibt.

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Kunz, H. Die Grenze der psychopathologischen Wahninterpretationen. Z. f. g. Neur. u. Psych. 135, 671–715 (1931). https://doi.org/10.1007/BF02864087

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