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Zur Prognose der Anorexia nervosa (13 fünfzehn- bis achtzehnjährige Katamnesen psychotherapeutisch unbehandelter Fälle)

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Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Es wird über eine Gruppe von 13 magersüchtigen Patienten berichtet, deren Krankheits- und Lebensgeschichte seit der Erstuntersuchung über 15–18 Jahre beobachtet werden konnte. 11 dieser Kranken — einer war nicht mehr auffindbar, eine verstorben — waren am Ende der Beobachtungszeit einer Nachuntersuchung zugänglich. Bei 2 Fällen, einem, der zwischenzeitlich an einer Psychose erkrankt ist, und einem, welcher die Nachuntersuchung verweigerte, stützt sich meine Katamnese auf Berichte der behandelnden Ärzte wie der Eltern. Alle übrigen wurden persönlich befragt.

Die Gruppe weist folgende Merkmale auf: In klinischer Hinsicht ist sie durch das Überwiegen des weiblichen Geschlechts (12 Frauen, 1 Mann), durch den Zeitpunkt des Krankheitsbeginns (in der Pubertät) wie durch die Schwere der Erkrankung (extreme Grade der Abmagerung und tiefgreifende charakterneurotische Störungen) gekennzeichnet; in soziologischer Hinsicht ist sie durch eine weitgehende Homogenität markiert: Alle Patienten entstammen wohlhabenden und/oder gebildeten Familien und haben selber eine volle oder teilweise Erziehung an einer höheren Schule genossen.

Daß es gelang, eine Gruppe von magersüchtigen Patienten über einen derart langen Zeitraum fast ohne „Verluste“ zu beobachten, hat seinen Grund einmal in der Art der Planung (die spätere Katamnese wurde bereits bei der Erstuntersuchung angestrebt), zum anderen in der Methode der Verlaufsbeobachtung (Aufrechterhaltung eines Kontaktes mit den behandelnden Ärzten und den Eltern der Kranken). Da bei den bisher veröffentlichten Katamnesen mit gleich langer Beobachtungszeit viele Patienten des Ausgangsmaterials nicht mehr erfaßt werden konnten, ist die weitgehende Geschlossenheit dieser Gruppe zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung insofern von Bedeutung, als sie nicht mit der Unsicherheit über das Schicksal der „Verluste“ und „Verweigerer“ belastet ist.

Die Spätzustände sehen bei den 12 nachuntersuchten Patienten wie folgt aus:

5 Patienten zeigen eine chronische Verlaufsform: Am Ende der Beobachtungszeit bieten sie ein psychosomatisches Zustandsbild, das dem zur Zeit der Erstuntersuchung grundsätzlich gleicht — der Schweregrad der Erkrankung ist jedoch bei einigen wesentlich gemildert;

5 Patienten haben die Symptome der Eßstörung, der Gewichtsreduktion und einige auch das der Amenorrhoe verloren. Bei zweien besteht seitdem ein Symptomwandel in der Art, daß sie jetzt an einer anderen psychosomatischen Störung (Fettsucht, Migräne) leiden — in einem Falle unter Ausbildung einer auch anders gearteten psychoneurotischen Symptomatik, im anderen bei weitgehendem Verschwinden der zur Zeit der Magersucht bestehenden psychopathologischen Krankheitsmerkmale. Bei dreien sind nur die körperliche Symptomatik und die Eßstörung verschwunden, während das ursprüngliche psychoneurotische Bild sich entweder verstärkt oder anders formiert hat; eine Patientin ist zwischenzeitlich an einer Schizophrenie erkrankt, deren Dauer und Verlaufsform für ein chronisches Prozeßgeschehen sprechen;

eine ist an einer interkurrenten Erkrankung (Pneumonie) verstorben. (Der Verlaufsform nach würde sie in die Gruppe der chronischen Verläufe einzuordnen sein.)

Auf Grund dieser Ergebnisse läßt sich feststellen, daß in dieser Gruppe von 12 Patienten keine Spontanheilungen aufgetreten sind. Die als solche — benutzt man die Beurteilungskriterien des Eßverhaltens und des Körpergewichtes — imponierenden 5 Fällen zeigen, daß es nur zu einem Wandel der Symptomatologie bei fortbestehender neurotischer Grundstörung gekommen ist. Es bestätigt sich also auch bei der Magersucht, was Bleuler für die Schizophrenie gesagt hat: „Je genauer die Nachuntersuchung, je seltener die Heilung“. Wenn Meyer 6 gefunden hat, daß bei dieser Gruppe von Anorexiekranken (Pubertätsmagersucht) ein Drittel ungeheilt bleibt und ein Drittel spontan ausheilt, so würden die vorgelegten Werte zwar die Zahlenrelation annähernd bestätigen können, nicht aber das Inhaltliche seiner Feststellung. Die hier untersuchten Fälle — und nur für diese können meine Aussagen gelten, da das Krankheitsbild der Anorexia nervosa keine Krankheitseinheit darstellt — schränken seine Entweder-Oder-Prognose dahingehend ein, daß sie nur für die Eßstörung, das reduzierte Körpergewicht und zum Teil für die Amenorrhoe gilt, nicht aber für die neurotische Grundstörung.

Der Versuch. Kriterien (prämorbide Persönlichkeit, der A. n. vorausgehende Manifestationen der Neurose, Verlaufsform, Art der Behandlung) zu finden, die eine Voraussage in bezug auf die Verlaufsform (chronisch, Krankheitswandel in Richtung auf eine andere psychosomatische Erkrankung oder eine Charakterneurose), die Schwere des Spätzustandes wie die soziale Anpassung gestatten, blieb ergebnislos. Eine Korrelation zwischen der Art des angewandten Therapieverfahrens und der Spätprognose ließ sich nicht feststellen.

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Cremerius, J. Zur Prognose der Anorexia nervosa (13 fünfzehn- bis achtzehnjährige Katamnesen psychotherapeutisch unbehandelter Fälle). Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift f. d. ges. Neurologie 207, 378–393 (1965). https://doi.org/10.1007/BF00361230

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