Zusammenfassung
-
1.
An konkreten Beispielen werden physiologische Konzeption von Kausalzusammenhängen unter Bezugnahme auf eine frühere Behandlung dieses Themas und auf die Bedingtheit ihrer psychologischen Erfassung dargelegt. Dabei handelt es sich um eine Konfrontation cerebraler Funktionsabläufe mit konform organisierten Bewußtseinsinhalten.
-
2.
Es werden psychophysiologische Befunde besprochen, welche die Voraussetzung kausalen Begreifens darstellen: Eine Folge ähnlicher sinnlicher Wahrnehmungen wird kombiniert und mit bestimmten Ausschnitten aus früheren Erfahrungen in Zusammenhang gebracht. Dies geschieht durch gleichgeordnete exzentrische Projektion cerebraler Prozesse.
-
3.
Die Funktion heterotroper und hetermodaler Konvergenz afferenter Erregungen im ZNS ist eine neuronale Vorbereitung der Fusion simultan oder mit kurzen Zeitintervallen einlaufender Impulse. Die Konsequenz ist eine automatisch sich vollziehende Integration zu Mustern.
-
4.
Solche gestaltenden Integrationen können nach kybernetischen Prinzipien als neuronale Modellbildungen und Funktionsschemen aufgefaßt werden.
-
5.
Im gleichen Sinne wird der Bedeutungscharakter vielfacher Wiederholungen ähnlicher Informationen durch eine Invarianzbildung in der Wahrnehmung erreicht. Die funktionelle Organisation des lebendigen Gehirnes ermöglicht eine Ordnung der Wahrnehmungen mit einer Verknüpfung des Folgezusammenhangs.
-
6.
Nach einer sehr großen Zahl widerspruchsfreier Wiederholungen entsteht in dem mit Bewußtsein begabten Subjekt das „Gefühl“ eines gesicherten Kausalzusammenhanges.
-
7.
Neben der morphologischen Organisation cerebraler Systeme spielen physiologische und chemische Eigenschaften der Bauelemente eine maßgebende Rolle für die Entstehung kausaler Verknüpfungen.
-
8.
Zu weitgehende Abweichungen von optimalen Mittelwerten der Information manifestieren sich als Funktionsstörungen. Da eine gesetzmäßige Korrelation zwischen Erregungsmustern und Inhalt psychischer Manifestationen besteht, muß eine abnorm breite Streuung der physiologischen Eigenschaften zu Störungen geistiger Tätigkeit führen, unter Umständen begleitet von motorischen Fehlleistungen.
-
9.
Durch ähnliche Veränderungen kann auch die Wirkung psychotroper Substanzen erklärt werden, indem durch Verbindung mit molekularen Konstituenten der Neurone aberrierende Eigenschaften resultieren bzw. Symptome spontaner Fehlfunktion relativ normalisiert werden.
-
10.
Diese Überlegungen verweisen auf eine vielversprechende Aufgabe der Hirnforschung, die skizzierten Störungsmöglichkeiten experimentell zu überprüfen. Dies geschieht praktisch sowohl durch Einsatz psychisch wirksamer Pharmaka als Forschungsinstrumente wie auch im Rahmen therapeutischer Maßnahmen.
-
11.
Als Schlußfolgerung ergibt sich eine biologisch konzipierte Psychologie und zugleich eine Eingliederung der Psychiatrie in die auf naturwissenschaftlicher Basis entwickelte Gesamtmedizin. Wie in den ändern naturwissenschaftlichen Disziplinen ist unsere Erkenntnis immer nur relativ, nämlich auf Beziehungen beschränkt. Die durch unsere Sinnessysteme vermittelten Informationen lassen keinen Einblick in Absolutes zu. Dies bleibt uns verschlossen wie auch das Verständnis für das Wesen des Bewußtseins. Zudem stehen uns keine Kriterien zur Verfügung, welche die Übersetzung eines nervösen Musters in gleichgeordnete Bewußtseinsinhalte kausal verstehen lassen. Maßgeblich ist die Erfahrung.
Literatur
Anand, B. K., and J. R. Brobeck: Hypothalamic control of food intake in rats and cats. Yale J. Biol. Med. 24, 123 (1961).
Andersson, B.: On fever, hunger and thirst. Commentarii, Pont. Acad. Scient. 1, N. 20, 1 (1962).
—B. Andersson, and S. M. McCann: A further study of polydipsia evoked by hypothalamic stimulation in the goat. Acta physiol, scand. 33, 333 (1955).
Baumgartner, G.: Die Reaktionen der Neurone des zentralen visuellen Systems der Katze im simultanen Helligkeitskontrast. In (R. Jung u. H. KornHuber, Hrsg.): Neurophysiologie und Psychophysik des visuellen Systems, (Symposion Freiburg/Br. 1960) S. 296–313. Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer 1961.
—G. Baumgartner, A. Schulz u. J. L. Brown: Unterschiedliche Reaktionen auf bewegte Reizmuster bei corticalen und Geniculatumneuronen. Pflügers Arch. ges. Physiol. 278, 69 (1963) (Ber. über die 28. Tagg. d. deutschen physiologischen Gesellschaft, Köln).
Benjamin, R. M., and K. Akert: Cortical and thalamic areas involved in taste discrimination in the albino rat. J. comp. Neurol. 111, 231 (1959).
Beritashvili (Beritov), I.: Les bases structurales et physiologiques de l'activité psychique. Neuropsychologia (Berl.) 1, 109 (1963).
Brügger, M.: Freßtrieb als bypothalamisches Symptom. Helv. physiol. pharmacol. Acta 1, 183 (1943).
Cohen, M. J., S. Landgren, L. Ström, and Y. Zotterman: Cortical reception of touch and taste in the cat. A study of single cortical cells. Acta physiol. scand. 40, Suppl. 135 (1957).
Eccles, J. C.: Researches on the central nervous system. Pontificia, Acad. Scient.; Commentarii, 1, N. 18, 1 (1963).
Fernandez de Molina, A., and R. W. Hunsperger: Central representation of affective reactions in forebrain and brain stem: Electrical stimulation of amygdala, stria terminalis, and adjacent structures. J. Physiol. (Lond.) 145, 251 (1959).
—A. Fernandez de Molina and R. W. Hunsperger: Organization of the subcortical system governing defence and flight reactions in the cat. J. Physiol. (Lond.) 160, 200 (1962).
Gemelli, A., e G. Pastori: I metodi dell' elettroacustica nello studio del linguaggio. Contributi del laboratorio de Psicologia. Università Cattolica del Sacro Cuore. Serie Sesta 8, 105 (1935).
—A. Gemelli, G. G. Sacerdote e G. Bellussi: Analisi elettroacustica della voce cantata. Contributi del Laboratorio di Psicologia. Università Cattolica del S. Cuore. Nuova Serie 48, 20 (1955).
Hensel, H.: Sinneswahrnehmung und Naturwissenschaft. Studium Gen. 1962,747.
- Abbildung der Sinnesqualitäten in den Signalen somatosensibler Nervenfasern. Acta Leopoldina (im Druck) (1964).
Hess, W. R.: Über die Wechselbeziehungen zwischen psychischen und vegetatativen Funktionen. Schweiz. Arch. Neurol. Psychiat. 15, 260 (1924); 16, 36, 285 (1925).
—W. R. Hess: Die funktionelle Organisation des vegetativen Nervensystems. Basel: Schwabe 1948.
—W. R. Hess: Das Zwischenhirn, Syndrome, Lokalisationen, Funktionen. II. erweiterte Aufl. Basel: Schwabe 1954.
—W. R. Hess: Psychologie in biologischer Sicht. Stuttgart: G. Thieme 1962.
Etude des corrélations entre l'activité psychique et le cerveau. J. Psychol. norm. path. No 4, 369 (1962).
—W. R. Hess: Prinzipien cerebraler Organisation. Experientia (Basel) 19, 511 (1963).
—W. R. Hess: „Kausalität“ als psychologischer Begriff. Schweiz. Arch. Neurol. Psychiat. 91, 59 (1962).
- Gehirn und psychische Begabung. Bull. Schweiz. Akad. med. Wiss. (im Druck) (1964).
—W. R. Hess>u., M. Brügger: Das subcorticale Zentrum der affectiven Abwehrreaktion. Helv. physiol. pharmacol. Acta 1, 33 (1943).
Hubel, D. H., and T. N. Wiesel: Receptive fields, binocular interaction and functional architecture in the cat's visual cortex. J. Physiol. (Lond.) 160, 106–154 (1962).
Hunsperger, R. W.: Neurophysiologische Grundlagen des affektiven Verhaltens. Bull. Schweiz. Akad. med. Wiss. (im Druck) (1964).
Jung, R.: Korrelationen von Neuronentätigkeit und Sehen. Neurophysiologie und Psychophysik des visuellen Systems. Sympos. Freiburg/Br. 1960, S. 411. Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer 1961.
—R. Jung: Neurophysiologie und Psychiatrie. In (H. W. Gruhle, R. Jung, W. MayerGeoss u. M. Müller, Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart. Forschung und Praxis, Bd. I, Grundlagenforschung zur Psychiatrie, Teil 1A. Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer 1964.
Kornhuber, H. H.: Optisch-vestibuläre und somatisch-vestibuläre Integration an Neuronen der Großhirnrinde: Ein Beitrag zur multimodalen Koordination der Sinnesafferenzen. Freiburg, Habilitationsschrift 1962.
-, and J. S. da Fonseca: Convergence of vestibular, visual and auditory afferents at single neurons of the cat's cortex. 5. Intern. Congr. of Electroenceph. and Clin. Neurophysiol. Excerpta Medica No. 37, Rome 1961.
Penfield, W.: Studies of the cerebral cortex of Man. A review and an interpretation. Brain Mechanisms and Consciousness, p. 284. Oxford: Blackwell 1954.
Author information
Authors and Affiliations
Additional information
Die vorliegende Arbeit ist durch den Schweizerischen Nationalfonds unterstützt worden, wofür der Autor an dieser Stelle seinen Dank ausspricht.
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Hess, W.R. Psychische Manifestationen cerebraler Organisation. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift f. d. ges Neurologie 205, 333–348 (1964). https://doi.org/10.1007/BF00357712
Received:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/BF00357712