Zusammenfassung
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1.
Bei 100 Hirnverletzten verschiedener Lokalisation und 20 Gesunden wurde im Leuchtlinienversuch die Abweichung der subjektiven Vertikale und Horizontale von den objektiven Werten untersucht und die Veränderung bei Kopfneigung (A-Phänomen und E-Phänomen) studiert.
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2.
Bei Gesunden fällt die subjektive Vertikale bei gerader Kopfhaltung fast genau mit dem Lot zusammen: 20 Gesunde hatten eine Durchschnittsabweichung von 0,04°, mittlere Streuung von 1°, maximale Streuungsbreite von 3°, bei je 10 Bestimmungen. Bei Hirnverletzten findet sich eine erheblich größere Streuung (Mittelwerte 6,4°, Maximalwerte 31°). Die Neigung der subjektiven Vertikalen beträgt im Durchschnitt bei rechtsseitigen Großhirnverletzungen − 2,0°, bei linksseitigen + 0,9°. Die Streuung wächst meist mit der Ausdehnung des Herdes, die Neigungsrichtung ist für die Lokalisation des Herdes charakteristisch. Die Ausgangsstellung der Leuchtlinie hat bei Hirnverletzten einen größeren Einfluß auf den Endwert als bei Gesunden.
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3.
Groβhirnverletzungen der Parietal und Frontalregion zeigen fast regelmäßig bei gerader Kopfhaltung eine Abweichung der subjektiven Vertikalen und Horizontalen nach der herdgekreuzten Seite. Auch bei tiefliegenden Markund Thalamusverletzungen finden sich herdgekreuzte Abweichungen. Erhebliche Veränderungen zeigen ferner Kleinhirn und Hirnstammläsionen, bei denen sowohl eine Abweichung nach der herdgleichen Seite wie nach der kontralateralen vorkommt. Reine temporale und occipitale Herdläsionen haben keine oder nur geringe Abweichungen. Die Streuung ist bei parietalen und frontalen Läsionen stark vermehrt, bei occipitalen Läsionen gering.
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4.
Nach Kopfneigung 45° ergeben sich verschiedene Befunde: Ein Mitgehen der subjektiven Vertikalen mit der Kopfneigung (A-Phänomen) ist sowohl bei Gesunden wie bei Hirnverletzten häufiger als die gegensinnige Neigung (E-Phänomen). Das E-Phänomen überwiegt nur bei rechtsseitigen Frontal und Parietozentralläsionen. Bei subjektiver Schiefe der Vertikalen kann die Veränderung nach Kopfneigung im Sinne der scheinbaren Vertikalen verschoben sein. Doch ist auch vermehrtes entgegengesetztes Umkippen zur Herd und Kopfneigungsseite häufig.
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5.
Eine Abweichung der subjektiven Vertikalen von der objektiven um durchschnittlich mehr als 2° ist ein Herdsymptom der kontralateralen Großhirnhemisphäre (Parietal und Frontalregion, Thalamus), wenn Hirnstammschädigungen auszuschließen sind. Es kann bei nachgewiesenen Hirnverletzungen dieser Gegend das einzige Symptom sein. Nur bei einem Teil der Fälle ist es mit kontralateraler Sensibilitätsstörung und Astereognosie verbunden. Beziehungen zu Gesichtsfelddefekten und Halbseitenlähmungen sind nicht nachweisbar.
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Bender, M., Jung, R. Abweichungen der subjektiven optischen Vertikalen und Horizontalen bei Gesunden und Hirnverletzten. Archiv f. Psychiatrie 181, 193–212 (1948). https://doi.org/10.1007/BF00353815
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