Zusammenfassung
“Es laufen zu viele Mörder frei und frech in diesem Lande umher, viele, denen man nie einen Mord wird nachweisen können. Schuld, Reue, Buße, Einsicht sind nicht zu gesellschaftlichen Kategorien geworden, erst recht nicht zu politischen. Vor diesem Hintergrund bildete sich etwas, das man inzwischen... mit einem gewissen Abstand deutsche Nachkriegsliteratur nennen kann.” So begann vor einem Vierteljahrhundert Heinrich Böll einige Vorträge, die Bilanz und Programm seiner Arbeit, Selbstdefinition seiner Autorengeneration und zeithistorische Analyse in einem waren. In komprimiertester Form benennen diese Sätze aus den Frankfurter Vorlesungen von 1963 eine geschichtliche, sozialpsychologische und literarische Konstellation, die bis heute nicht völlig ausdiskutiert oder aufgelöst ist.1 Was bei Böll anklingt, können wir nach fünfundzwanzig Jahren allerdings bestimmter fassen: die Tatsache, daß die “Nachkriegsliteratur” (und in einem gewissen Sinn sind Bücher von 1970 oder 1987 immer noch Nachkriegsliteratur) eben dies Ausbleiben von “Reue, Buße, Einsicht” zu ihrem Leitthema über mehr als vier Jahrzehnte hinweg gemacht hat. Wie sie das tut: wo ihre Möglichkeiten, besonders im Blick auf die Klärung und Aufarbeitung individueller oder kollektiver Schuld liegen, und in welche Schwierigkeiten sie sich dabei — notwendigerweise — verstrickt, soll an einigen typischen Beispielen untersucht werden. Das setzt zunächst einige Bemerkungen “vorliterarischer” Art voraus.
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Anmerkungen
Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen, in: Heinrich Böll Werke. Essayistische Schriften und Reden 2, Köln 1978, S.34.
Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands (1946), München 1987, S.17f. — Vgl. zur Debatte um die Schuldfrage Jost Hermand: Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, Frankfurt/M. 1989, S.42ff.
Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens (1967), München 1977, S.36.
Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg u. Zürich 1987, S.11, 21.
Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen, S.55f.
Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S.56f.
Peter Weiss: Die Ermittlung, in P.W.: Stücke I, Frankfurt/M. 1980, S.335.
Peter Weiss: Die Literatur des Dunkels, in P.W.: Die Besiegten, Frankfurt/M. 1985, S.149.
Jürgen Habermas: Vom öffentlichen Gebrauch der Historie, in: “Historikerstreit”. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S.246ff.
Tilman Moser: Ödipale Leichenschändung. Der Vater im Dritten Reich. Zu Christoph Meckels Roman “Suchbild”, in: T.M.: Romane als Krankengeschichten, Frankfurt/M. 1985, S.76.
Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, in: “Historikerstreit”, S.72.
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Vogt, J. (1991). Von der ersten zur zweiten Schuld. In: ’Erinnerung ist unsere Aufgabe‘. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14434-2_2
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-14434-2_2
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