Zusammenfassung
Glaubt man dem Elitentalk, so hat sich das Thema Prekarität zumindest in Deutschland von selbst erledigt. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nimmt zu und die Erwerbstätigkeit hat ein Rekordniveau erreicht (Als Beispiel für viele andere: Rudzio 2017). Beschwört die inzwischen durchaus beachtliche sozialwissenschaftliche Prekaritätsforschung also einen Popanz? Hinkt sie der Wirklichkeit hinterher? Wäre es deshalb nicht besser, über Bildung und Weiterbildung zu sprechen, ohne den Prekaritätsbegriff zu strapazieren? Nachfolgend plädiere ich für eine andere Sicht auf unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse. Die Bundesrepublik, so meine These, hat sich zu einer prekären Vollerwerbsgesellschaft gewandelt, die Erwerbslosigkeit durch die Ausdehnung unsicherer Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse zum Verschwinden bringt. Das Ausmaß und die sozialen Wirkungen von Prekarität lassen sich aber nicht anhand der Zahl sogenannter atypischer (Die Klassifizierung atypisch ist insofern irreführend, als sie die Abweichung von einer Norm behauptet, die in wichtigen Branchen, etwa dem gesamten Organisationsbereich der Gewerkschaft NGG, längst nicht mehr Normalität ist. Es wäre daher besser, von nicht-standardisierten Beschäftigungsverhältnissen zu sprechen) Beschäftigungsverhältnisse beurteilen. Prekarität ist, so die These, vor allem ein Macht-, Kontroll- und Disziplinarregime, das allerdings auch im Bildungs- und Weiterbildungssektor zunehmend umkämpft ist.
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Notes
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Ein Denken, das die gesamte Lebensführung an der Zukunft ausrichtet, ist erst oberhalb einer „Schwelle der Berechenbarkeit“ möglich, die „wesentlich von der Verfügung über Einkünfte“ abhängt, welche „von der Sorge um die Subsistenz dauerhaft“ entlasten (Bourdieu 2000, S. 92).
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Castel unterscheidet eine ‚Zone der Integration‘ mit sozial geschützten Beschäftigungsverhältnissen und halbwegs intakten sozialen Netzen, eine ‚Zone der Prekarität‘ mit unsicherer Beschäftigung und erodierenden sozialen Netzen sowie eine ‚Zone der Entkoppelung‘, in welcher sich der Ausschluss von regulärer Erwerbsarbeit mit relativer sozialer Isolation verbindet.
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In der Forschung wird Prekarität wahlweise als eine Spezialform atypischer Beschäftigung, als eine soziale Lage zwischen Armut und „normalen“ Einkommen, als Externalisierung am Arbeitsmarkt oder auch als eine Form sozialer Verwundbarkeit definiert, die im Zentrum der Arbeitsgesellschaft entsteht und gegenüber Phänomenen wie Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung abgegrenzt werden muss. Eine begriffliche Präzisierung und Operationalisierbarkeit ist zwingend nötig, sobald es um empirische Forschungen geht. Sie ist aber auch nützlich, um zu vermeiden, dass alle Spielarten von sozialer Unsicherheit oder sämtliche Belastungen in Arbeitswelt und Lebenszusammenhang mit Prekarität in Verbindung gebracht werden.
- 4.
Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen die präsentierten nachfolgenden Arbeitsmarktdaten aus: Destatis. Datenreport (2016). Kap. 5. Arbeitsmarkt und Verdienste. Berlin (o. O.), S. 125–149.
- 5.
Zum Folgenden vgl. Dörre et al. (2013).
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- 7.
Das Zitat stammt aus einer laufenden Erhebung, die sich mit rechtspopulistischen Orientierungen bei Gewerkschaftern erfasst. Zitiert wird nach Mitschrift.
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Dörre, K. (2018). Prekarität im „Jobwunder-Land“ – was ist neu?. In: Dobischat, R., Elias, A., Rosendahl, A. (eds) Das Personal in der Weiterbildung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17076-9_5
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