Zusammenfassung
Schulische Autonomie ist seit den 1990er Jahren ein Schlagwort der Debatte über eine „neue Steuerung“: Durch Dezentralisierung, so lautet bis heute die weitverbreitete These, könne die Qualität der Schulen verbessert werden. Dieser Beitrag blickt zurück auf die transnationalisierte Debatte und fragt danach, wie die Anliegen der Autonomiepolitik Eingang in die Governance in einem Schweizer Kanton gefunden haben. Die Analyse der inzwischen implementierten Reformen im Kanton Bern zeigt die Ambivalenzen einer Umsetzung, welche die Steuerungskultur ökonomisiert und gleichzeitig in tradierte Aufsichtsverhältnisse einbettet, ohne die lokalen Gestaltungsfreiräume bisher substanziell zu erweitern. Die Ambivalenzen gegenüber einer Erweiterung lokaler Gestaltungsautonomie werden am Beispiel der Aushandlungen um Unterrichtsressourcen im Kontext einer Reform des Finanzierungssystems diskutiert. Der Beitrag basiert auf einer ethnographischen Erforschung schulischer Governance und orientiert sich an Praxistheorien.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Das ethnographische Forschungsprojekt 10 s 01 02 (2011–2014) wird von der PHBern finanziert. Wir danken den teilnehmenden Schulleitungen, Lehrpersonen, kommunalen Schulbehörden und Schulinspektoren für das Vertrauen, uns an ihren Interaktionen teilhaben zu lassen. Kathrin Oester, Markus Heinzer, Susanne Müller sowie den teilnehmenden Governance-AkteurInnen danken wir für ihre kritischen Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Artikels.
- 2.
Die Idee einer Dezentralisierung von Entscheidbefugnissen und eine Stärkung der „Einheit Schulhaus“ ist auch im Kanton Bern keine Erfindung des NPM, sondern wurde bereits im Rahmen der Gesamtrevision der Bildungsgesetzgebung anfangs der 1980er Jahre formuliert (Erziehungsdirektion des Kantons Bern 1982). Damals wurde davon gesprochen, die Schulen besser in die Dorf- und Quartiergemeinschaften zu integrieren, um „Staatsschulen“ in „Dorfschulen“ umzuwandeln.
- 3.
Die zwei grösseren Gemeinden gehören gemäss einer Kategorisierung der Erziehungsdirektion (Röthlisberger und Hänni 2007) zur Kategorie der 33 grösseren Gemeinden im Kanton mit einer Grösse zwischen 5‘500 und 20'000 EinwohnerInnen, die zusammen rund 30 % der SchülerInnen beheimaten. Die zwei kleineren Gemeinden zählen zur Mehrheit von ca. 360 Gemeinden mit weniger als 5‘500 EinwohnerInnen, in denen insgesamt rund die Hälfte der SchülerInnen im Kanton unterrichtet werden. Rund die Hälfte dieser Gemeinden sind eigentliche Kleinstgemeinden mit weniger als 1‘000 EinwohnerInnen. In den vier grossen Städten mit über 40‘000 EinwohnerInnen werden rund 20 % der SchülerInnen unterrichtet. Aus forschungspraktischen Gründen wurden weder diese vier grossen noch die Kleinstgemeinden in die Studie einbezogen.
- 4.
Den unterschiedlichen Voraussetzungen der Gemeinden trägt der Kanton mit indexierten Sozial- und Infrastrukturbeiträgen Rechnung. Vor der Einführung des neuen Finanzierungsmodells wurde von kommunalen Akteuren die Zahl von 100‘000 Franken herumgereicht, welche nun eine Klasse mehr oder weniger für das Gemeindebudget ausmachen könnte. Inzwischen vergleichen die Gemeinden nicht mehr mit der Situation vor Einführung der NFV, sondern sie kritisieren die höheren Kosten im ersten Rechnungsjahr gegenüber der Budgetierung innerhalb der neuen Berechnung.
- 5.
Die Kompetenz zur Eröffnung und Schliessung von Klassen lag auch bereits im Volksschulgesetz von 1992 bei den Gemeinden; auch heute unterliegt diese nach wie vor der Genehmigung durch die Erziehungsdirektion (Volksschulgesetz Artikel 47).
- 6.
Die Gemeindenamen sind Pseudonyme. Als Anonymisierungsstrategie werden in der empirischen Diskussion unabhängig vom Geschlecht einer Person folgende Gender-Formen verwendet: die Schulleitung, der Schulinspektor, die Gemeinderätin Bildung, die Schulkommissionspräsidentin, der Schulsekretär und der Finanzverwalter.
Literatur
Altrichter, H., & Rürup, M. (2010). Schulautonomie und die Folgen. In H. Altrichter & K. Maag Merki (Hrsg.), Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem (S. 111–144). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Avenarius, H., Baumert, J., Döbel, H., & Füssel, H.-P. (Hrsg.). (1998). Schule in erweiterter Verantwortung: Positionsbestimmungen aus erziehungswissenschaftlicher, bildungspolitischer und verfassungsrechtlicher Sicht. Neuwied: Luchterhand.
Ball, S. J. (1994). Education reform: A critical and post-structural approach. Buckingham: Open University Press.
Berka, W. (2003). „Autonomie“ von Bildungsinstitutionen als Prinzip in rechtlicher Perspektive. In H.-P. Füssel & P. M. Roeder (Hrsg.), Recht – Erziehung – Staat. Zur Genese einer Problemkonstellation und zur Programmatik ihrer zukünftigen Entwickung (S. 120–136). Weinheim: Beltz.
Brägger, G., Kramis, J., & Teuteberg, H. (2007). Reform der Schulaufsicht und Aufbau der Externen Schulevaluation in der Schweiz. Am Beispiel der Kantone Luzern und Thurgau. In W. Böttcher & H.-G. Kotthoff (Hrsg.), Schulinspektion: Evaluation, Rechenschaftslegung und Qualitätsentwicklung – vor dem Hintergrund internationaler Erfahrungen (S. 65–92). Münster: Waxmann.
Brunner, J. (2002a). Pilotprojekt Globalsteuerung: Ergebnisse der kantonalen Schlussevaluation 2002. Bern: Amt für Bildungsforschung, Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Brunner, J. (2002b). Pilotprojekt Neugestaltung des 9. Schuljahres: Ergebnisse der kantonalen Schlussevaluation 2002. Bern: Amt für Bildungsforschung, Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Brunner, J., Keller, K., & Ninck, T. (2004). Pilotprojekt „Qualitätsentwicklung in Schulen“ (QES): Schlussbericht des Steuerungsausschusses an die Erziehungsdirektion. Bern: Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Büeler, X., Buholzer, A., & Roos, M. (Hrsg.). (2005). Schulen mit Profil: Forschungsergebnisse, Brennpunkte, Zukunftsperspektiven. Innsbruck: Studienverlag.
Buschor, E. (1997). New Public Management und Schule. In R. Dubs & R. Luzi (Hrsg.), 25 Jahre IWP. Tagungsbeiträge. Schule in Wissenschaft, Politik und Praxis (S. 147–176). St. Gallen: Institut für Wirtschaftspädagogik, Universität St. Gallen.
Deutscher Bildungsrat. (1973). Zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen. Teil 1: Verstärkte Selbständigkeit der Schule und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern (Empfehlungen der Bildungskommission). Stuttgart: Ernst Klett.
Diem, A., & Wolter, S. C. (2011). Wer hat Angst vor Schulwahl? Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung SKBF/CSRE.
Dubs, R. (1999). Teilautonomie der Schule: Annahmen, Begriffe, Probleme, Perspektiven. Paderborn: Paderborner Universitätsreden.
Dubs, R. (2009). Erweiterte Selbständigkeit der Einzelschule und Entwicklung von Schulqualität in der Schweiz. In J. van Buer & C. Wagner (Hrsg.), Qualität von Schule. Ein kritisches Handbuch (S. 515–525). Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Erziehungsdirektion des Kantons Bern. (1982). Gesamtrevision Bildungsgesetzgebung: Grundsätze zur Entwicklung des bernischen Bildungswesens. Bern: Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Erziehungsdirektion des Kantons Bern. (2008). Revos 08 – Organisation und Schulführung: Umsetzungshilfen für Gemeinden. Bern: Amt für Kindergarten, Volksschule und Beratung, Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Erziehungsdirektion des Kantons Bern. (2010). Berichterstattung der Gemeinden und Controlling durch die regionalen Schulinspektorate: Umsetzungshilfen für die Gemeinden und Schulleitungen. Bern: Erziehungsdirektion des Kantons Bern, Amt für Kindergarten, Volksschule und Beratung.
Erziehungsdirektion des Kantons Bern. (2012). Das neue Finanzierungssystem für die Volksschule (NFV). Bern: Erziehungsdirektion des Kantons Bern, Generalsekretariat.
Erziehungsdirektion des Kantons Bern. (2013). Das 9. Schuljahr: Vier Bausteine zur Unterrichtsgestaltung. Bern: Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Foucault, M. (1979). Governmentality. Ideology and Consciousness, 6, 1–21.
Hangartner, J., & Svaton, C. J. (2013). From autonomy to quality management: NPM impacts on school governance in Switzerland. Journal of Educational Administration and History, 45(4), 354–369.
Heinrich, M. (2007). Governance in der Schulentwicklung: Von der Autonomie zur evaluationsbasierten Steuerung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Kussau, J. (2002). Schulpolitik auf neuen Wegen? Autonomiepolitik: Eine Annäherung am Beispiel zweier Kantone. Aarau: Bildung Sauerländer.
Lange, H. (1999). Schulautonomie und Neues Steuerungsmodell. Recht der Jugend und des Bildungswesens, 47(4), 423–438.
Lassnig, L. (2000). Zentrale Steuerung in autonomisierten Bildungssystemen. In Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (Schweiz), Bundesministerium für Bildung Wissenschaft und Kultur (Österreich) & Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BRD) (Hrsg.), Die Vielfalt orchestrieren: Steuerungsaufgaben der zentralen Instanzen bei grösserer Selbständigkeit der Einzelschulen (S. 107–141). Innsbruck: Studienverlag.
Lisop, I. (1998). Autonomie – Programmplanung – Qualitätssicherung: Ein Leitfaden zur Organisationsentwicklung von Schulen und Bildungseinrichtungen. Frankfurt a. M.: Verlag. der Gesellschaft zur Förderung arbeitsorientierter Forschung und Bildung.
Maag Merki, K. (2011). Die Leitung einer Schule. In L. Criblez, B. Müller, & J. Oelkers (Hrsg.), Die Volksschule zwischen Innovationsdruck und Reformkritik (S. 58–67). Zürich: Neue Zürcher Zeitung.
Maag Merki, K., & Büeler, X. (2002). Schulautonomie in der Schweiz. In H.-G. Rolff, H. G. Holtappels, K. Klemm, H. Pfeiffer, & R. Schultz-Zander (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung. (Bd. 12, S. 131–161). Weinheim: Juventa.
Maritzen, N. (1998). Autonomie der Schule: Schulentwicklung zwischen Selbst- und Systemsteuerung. In H. Altrichter, W. Schley, & M. Schratz (Hrsg.), Handbuch zur Schulentwicklung (S. 609–637). Innsbruck: Studienverlag.
Martini, R. (1997). „Schulautonomie“: Auswahlbiographie 1989–1996. Frankfurt a. M.: Deutsches Institut für internationale pädagogische Forschung.
Münch, R. (2009). Globale Eliten, lokale Autoritäten: Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Oelkers, J. (1998). Schulen in erweiterter Verantwortung – Eine Positionsbestimmung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. In H. Avenarius, J. Baumert, H. Döbel, & H.-P. Füssel (Hrsg.), Schule in erweiterter Verantwortung: Positionsbestimmungen aus erziehungswissenschaftlicher, bildungspolitischer und verfassungsrechtlicher Sicht. Neuwied: Luchterhand.
Oggenfuss, F. (2000). Schweiz: Zentrale Steuerung im förderalistischen System. In Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (Schweiz), Bundesministerium für Bildung Wissenschaft und Kultur (Österreich) & Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BRD) (Hrsg.), Die Vielfalt orchestrieren: Steuerungsaufgaben der zentralen Instanzen bei grösserer Selbständigkeit der Einzelschulen (S. 80–92). Innsbruck: Studienverlag.
Pollitt, C., & Bouckaert, G. (2004). Public management reform: A comparative analysis. Oxford: University Press.
Radtke, F.-O. (2000). Einleitung: Schulautonomie, Sozialstaat & Chancengleichheit. In F.-O. Radtke & M. Weiss (Hrsg.), Schulautonomie, Wohlfahrtsstaat und Chancengleichheit. Ein Studienbuch (S. 13–32). Opladen: Leske + Budrich.
Reckwitz, A. (2003). Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive. Zeitschrift für Soziologie, 32(4), 281–301.
Rhyn, H. (1997). Schulaufsicht und Schulleitung in der deutschsprachigen Schweiz. Länderbericht für das OECD/CERI-Seminar vom 7.–13. Oktober 1997 in Innsbruck. Bern: Universität Bern.
Richter, I. (1995). Theorien der Schulautonomie. In P. Daschner, H.-G. Rolff, & T. Stryck (Hrsg.), Schulautonomie – Chancen und Grenzen (S. 9–29). Weinheim: Beltz.
Rizvi, F., & Lingard, B. (2010). Globalizing Education Policy. London: Routledge.
Robinson, S. (2012). Constructing teacher agency in response to the constraints of education policy: Adoption and adaptation. Curriculum Journal, 23(2), 231–245.
Rolff, H.-G. (1993). Wandel durch Selbstorganisation. Weinheim: Beltz.
Rolff, H.-G. (1995). Autonomie als Gestaltungs-Aufgabe. In P. Daschner, H.-G. Rolff, & T. Stryck (Hrsg.), Schulautonomie – Chancen und Grenzen (S. 31–54). Weinheim.
Röthlisberger, H., & Hänni, P. (2007). Projekt Neue Finanzierung Volksschule: Bericht über die Voranalyse. Bern: Generalsekretariat Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Rürup, M. (2007). Innovationswege im deutschen Bildungssystem: Die Verbreitung der Idee „Schulautonomie“ im Ländervergleich. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Rürup, M., & Heinrich, M. (2007). Schulen unter Zugzwang – Die Schulautonomiegesetzgebung der deutschen Länder als Rahmen der Schulentwicklung. In H. Altrichter, T. Brüsemeister, & J. Wissinger (Hrsg.), Educational Governance: Handlungskoordination und Steuerung im Bildungssystem (S. 157–183). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Schmid, P. (1999). Schulentwicklung im Kanton Bern. In M. Beucke-Galm, G. Fatzer, & R. Rutrecht (Hrsg.), Schulentwicklung als Organisationsentwicklung (S. 367–381). Köln: Edition Humanistische Psychologie.
Sigrist, M., Wehner, T., & Legler, A. (2006). Schule als Arbeitsplatz. Mitarbeiterbeurteilung zwischen Absicht, Leistungsfähigkeit und Akzeptanz. Zürich: Pestalozzianum.
Steiner-Khamsi, G., & Waldow, F. (2012). Policy Borrowing and Lending in Education. London: Routledge.
Trachsler, E. (2004). Konsequenter Umbau der Schulaufsicht in der Schweiz. Schulautonomie und Qualitätssteuerung am Beispiel der Kantone Thurgau, Zürich und Aargau. Berichte und Materialien zur Bildungsforschung: Pädagogische Hochschule Thurgau.
Weiss, M. (2001). Quasi-Märkte im Schulbereich. In J. Oelkers (Hrsg.), Zukunftsfragen der Bildung (S. 69–85). Weinheim: Beltz.
Zimmermann, B., Hofstettler, S., & Hostettler, U. (2013). Neue Finanzierung der Volksschule: Pilotstudie zur Umsetzung in den Gemeinden im Kanton Bern. Bern: Institut für Weiterbildung, Pädagogische Hochschule Bern.
Zlatkin-Troitschanskaia, O. (2009). Steuerungsfähigkeit des öffentlichen Schulwesens versus Steuerbarkeit der Schule – Paradigmenwechsel? In J. van Buer & C. Wagner (Hrsg.), Qualität von Schule. Ein kritisches Handbuch (S. 67–81). Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2016 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Hangartner, J., Svaton, C. (2016). Ambivalenzen der Umsetzung schulischer Autonomiepolitik. In: Heinrich, M., Kohlstock, B. (eds) Ambivalenzen des Ökonomischen. Educational Governance, vol 29. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10084-1_12
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-10084-1_12
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-10083-4
Online ISBN: 978-3-658-10084-1
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)