Zusammenfassung
„Wissenssoziologische Diskursanalyse“ (WDA) bezeichnet ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm zur Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken (Keller 1998; 2001; 2003a; 2005a). In und vermittels von Diskursen wird von gesellschaftlichen Akteuren im Sprach- bzw. Symbolgebrauch die soziokulturelle Bedeutung und Faktizität physikalischer und sozialer Realitäten konstituiert. Der Wissenssoziologischen Diskursanalyse geht es um die Erforschung dieser Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungsund Handlungsstrukturen (Wissens-Regimen, Wissenspolitiken) auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven Akteuren und um die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse. Diskurse lassen sich als strukturierte und strukturierende Anstrengungen verstehen, Bedeutungen bzw. allgemeiner: mehr oder weniger weit ausgreifende symbolische Ordnungen zu erzeugen, zu stabilisieren und dadurch einen verbindlichen Sinnzusammenhang, eine Wissensordnung für spezifische Praxisfelder in sozialen Kollektiven zu institutionalisieren. Diese diskursive Konstruktion von Wirklichkeit bildet einen (eminent wichtigen) Ausschnitt aus dem, was Peter Berger und Thomas Luckmann (1980 [1966]) die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ genannt haben.1 Die von der WDA vorgenommene Verankerung der Diskursanalyse in der Wissenssoziologie von Berger/Luckmann, in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus und der Foucaultschen Fokussierung von Macht/Wissen-Regimen zielt darauf, Diskurse nicht als abgehoben semiotisch prozessierendes System zu analysieren, sondern als soziale Praxis.
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Notes
- 1.
Von der diskursiven Konstruktion können andere Konstruktionsdimensionen unterschieden werden: „kommunikative Konstruktion“ (Keller/Knoblauch/Reichertz 2012) bezeichnet eine allgemeinere Kategorie (die diskursive Konstruktion ist eine Form der kommunikativen Konstruktion).
- 2.
- 3.
Darin liegt ein Hauptproblem aller streng ethnomethodologisch bzw. konversationsanalytisch ausgerichteten Analysen von Diskursen und Subjektivierungen.
- 4.
Auf die Wiedergabe der zusammen mit dieser Äußerung abgebildeten Person wurde hier verzichtet.
- 5.
Vgl. die Diskussion bei Viehöver (2001).
- 6.
Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich sowohl auf textförmige wie auch auf audiovisuelle Daten.
- 7.
Vgl. die Stichwörter „Leitlinien“, die Satzfür-Satz betriebene „Detailanalyse“ und „(offenes) Kodieren“ bei Strauss (1998).
- 8.
Bspw. wurde bei der von Keller (1998) durchgeführten Untersuchung der Hausmülldebatten in Deutschland und Frankreich erst sukzessive aus der Materialanalyse heraus sichtbar, dass in der französischen öffentlichen Abfalldebatte ein einziger Diskurs, ein weiterer nur außerhalb der Massenmedien existierte, während in der deutschen Diskussion zwei Diskurse in der Medienöffentlichkeit konkurrierten.
- 9.
Abbildung nach Keller (1998: 265). Vgl. im Unterschied dazu die Struktur der französischen Abfalldiskussion und die weiteren Darstellungen (ebd.: 261ff).
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Keller, R. (2013). Zur Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. In: Keller, R., Truschkat, I. (eds) Methodologie und Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Theorie und Praxis der Diskursforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93340-5_2
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