Zusammenfassung
Biographie als Ausdruck von Wissen zu thematisieren, mag aus der Perspektive eines Alltagsverständnisses erst einmal erstaunen. Biographie wird in diesem Sinne mit der Evidenz des eigenen Lebens, dem Erstpersönlichen gleichgesetzt, ist Erfahrung wie Erlebnis, die im interaktiven Akt des Erzählens mitteilbar werden. Doch schon bei einer systematischeren Betrachtung wird manifest, dass Biographie ohne unterschiedliche Formen des Wissens als narrative Leistung der Erzählenden nicht herzustellen ist. Pointiert formuliert könnte gesagt werden, dass Biographie nur als biographisches Wissen der Subjekte über sich und deren Wissen über gesellschaftlich geforderte Biographieformate zu beschreiben ist. Schon 1988 fand an der Universität Bremen ein Colloquium Zur Organisation biographischen Wissens: Empirische Befunde und theoretische Konzepte statt (vgl. Alheit/Hoerning 1989). Auch wenn manche Beiträge dieser Tagung ihre Überlegungen sehr stark an der Gebundenheit biographischen Wissens an der Aufschichtung von Erfahrungen konzeptualisieren, so wird doch schnell deutlich, dass biographisches Wissen keineswegs einseitig als persönliche, subjektive Kategorie gedacht werden kann, sondern Teil eines sozialen Gedächtnisses ist. Biographisches Wissen wird somit immer auch in zentralen Teilen durch die gesellschaftlichen Rahmungen bedingt und hervorgebracht. Peter Alheit (1989) differenziert die Wissensformationen in biographischen Erzählungen in „Erinnerungsschemata“, Wissensformen, deren Konstitutionskern stark auf der Ereignisund Erlebnisebene anzusiedeln ist, und „Deutungsschemata“, die sich aus ereignisunabhängigen Verarbeitungsformen sozialer Wirklichkeit konstituieren. Beide Wissensbereiche stehen sich nicht als abgrenzbare Sphären gegenüber, sondern durchdringen und beeinflussen sich gegenseitig in unterschiedlicher Wirksamkeit. Damit wird aber auch die Frage aufgeworfen, wie machtvoll normative Orientierungen als dominante Wissensordnungen biographische Selbstthematisierungen bestimmen und inwieweit biographisches Wissen durch einen Rückbezug auf einen Erfahrungskontext ein mögliches „Kontrastwissen“ eröffnen kann.
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Literatur
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Hanses, A. (2010). Biographisches Wissen: heuristische Optionen im Spannungsfeld diskursiver und lokaler Wissensarten. In: Griese, B. (eds) Subjekt – Identität – Person?. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92488-5_12
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