Skip to main content

Textkörper und Textbedeutung. Über die Aggregatszustände von Literatur, mit einigen Beispielen aus der Geschichte des Faust-Stoffes

  • Chapter
Kanon Macht Kultur

Part of the book series: Germanistische Symposien Berichtsbände ((GERMSYMP))

Zusammenfassung

»Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?« Auf diese Frage des badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel haben jüngst auf 333 Seiten circa 30 meist bekannte öffentliche Denker und Stellungnehmer bei Suhrkamp ihre meist bekannten Antworten gegeben.1 Die Heterogenität der Antworten allerdings provoziert zur Gegenfrage, ob die moderne Gesellschaft überhaupt etwas ist, das von etwas zusammengehalten wird (wie ein Bauch vom Korsett? oder wie ein Fisch von den Gräten?), und ob gerade die moderne Gesellschaft nicht vielleicht auch unzusammengehalten ganz gut funktionieren kann. Die Möglichkeit jedenfalls, daß eine Gesellschaft durch Kultur zusammengehalten wird und speziell durch kanonische literarische Werke, kommt in dem Sammelband nicht vor.2 Auf einer anderen Ebene aber erscheint der Band geradezu als Monument der Stabilität: Er bezeugt unübersehbar, daß wenigstens die Rituale (›Verfahren‹) funktionieren, d.h. daß Daniel Cohn-Bendit, Wolfgang Schäuble, Heiner Geißler, Hartmut von Hentig, Hans Küng, Hubert Markl und all die anderen noch immer das sagen, was man von ihnen erwartet. Versuchsweise ließe sich sagen: Die moderne Gesellschaft wird zusammengehalten durch ritualisierte Geräusche. — Es ist nicht pure Boshaftigkeit, die mich solche Überlegungen anstellen läßt. Ich glaube tatsächlich, daß sich in diesem Miteinander von Verläßlichkeit und Beliebigkeit, leicht karikiert, ein Grundverhältnis abbildet, das auch für die Wirkungsweise eines literarischen Kanons gelten könnte.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 99.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Hardcover Book
USD 119.99
Price excludes VAT (USA)
  • Durable hardcover edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Similar content being viewed by others

Notizen

  1. Erwin Teufel (Hrsg.), Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?, edition suhrkamp NF 977, Frankfurt a.M. 1996.

    Google Scholar 

  2. Hierzu u.a. Niklas Luhmann, »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, I, Frankfurt a.M. 1980, 9–71.

    Google Scholar 

  3. Erörtert u. a. von Alois Hahn, »Kanonisierungsstile«, und Hans Ulrich Gumbrecht, »›Phönix aus der Asche‹ oder: Vom Kanon zur Klassik«, in: Aleida und Jan Assmann (Hrsg.), Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, 28–37 und 284–299.

    Google Scholar 

  4. Hierzu u.a. Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, III, Frankfurt a.M. 1989, 149–258. Für die ausführlichere gesellschaftsgeschichtliche Problemreferenz, die hier nicht weiter referiert wird, vgl. Marianne Willems, Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes ›Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***‹, ›Götz von Berlichingen‹ und ›Clavigo‹, Tübingen 1995, sowie meine Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M., Leipzig 1995. Bei Willems auch wichtige Hinweise zu den Umdeutungen, die an überliefertem Ideengut vorgenommen werden, so daß bei gleichbleibendem ›Ideenkörper‹ durchaus andere Inhalte und Funktionen gemeint sein können. Das läßt sich mit relativ wenigen Veränderungen auch auf den Kanon übertragen.

    Google Scholar 

  5. Hans-Georg Herrlitz, Der Lektürekanon des Deutschunterrichts im Gymnasium. Ein Beitrag zur Geschichte der muttersprachlichen Schulliteratur, Heidelberg 1964; Georg Jäger, Schule und literarische Kultur, I: Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz, Stuttgart 1981; Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989; Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, hrsg. Werner Conze, Jürgen Kocka, Reinhart Koselleck, M. Rainer Lepsius, 4 Bde., Stuttgart 1985–1990, speziell II: Bildungsgüter und Bildungswissen, hrsg. Reinhart Koselleck.

    Google Scholar 

  6. So wenigstens Niklas Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M. 1985, 11–33 (der deshalb gleich selbst drei Paradigmen seiner eigenen Theorie konstatiert).

    Google Scholar 

  7. Vgl. hierzu noch immer Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960 u. ö. Für weitere Anschlüsse müßte allerdings erst Gadamers Konfundierung von deskriptiven und normativen Kategorien aufgelöst werden, und da ist es möglicherweise rationeller, vom Verstehensbegriff der Psychologie her neu aufzubauen. Vgl. Simone Winko, »Verstehen literarischer Texte versus literarisches Verstehen von Texten? Zur Relevanz kognitionspsychologischer Verstehensforschung für das hermeneutische Paradigma der Literaturwissenschaft«, DVjs 69 (1995), 1–27.

    Article  Google Scholar 

  8. Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. Klaus Briegleb, III, hrsg. Günter Häntzschel, München 1976, 220. Das Beispiel verdanke ich einem Hinweis von Fotis Jannidis.

    Google Scholar 

  9. Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hrsg. Herbert G. Göpfert, II, München 1971, 144. Was dann im weiteren Verlauf des Dramas geschieht, führt in andere Kontexte und speist sich als Tragik gerade daraus, daß diese allgemeine Gesinnung nicht mehr tragfähig ist. Aber darin steht Emilia Galotti gerade auf einer Grenzscheide. Kanongeschichtlich interessant ist, daß Emilia schließlich ihren Tod durch Berufung auf die Virginia-Geschichte und den Tod von Tausenden von Märtyrerinnen herbeizwingt. Da sind also beide Autoritäten präsent, die christliche und, doch wohl eher für die Zuschauer als für die Figur, die antike.

    Google Scholar 

  10. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, IX, hrsg. Waltraud Wiethölter, Frankfurt a.M. 1994, 52.

    Google Scholar 

  11. Friedrich H. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, 2. Aufl., Opladen 1990.

    Book  Google Scholar 

  12. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, 2. Aufl., 5 Bde., München 1958, V, 970–985, hier: 971.

    Google Scholar 

  13. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918,I, 3. Aufl., München 1993, 367. Vgl. bes. 374–395.

    Google Scholar 

  14. Arno Holz, Johannes Schlaf, Die Familie Selicke, Stuttgart 1983, 5.

    Google Scholar 

  15. Für eine ähnliche Konstellation, strikter an die begriffsgeschichtliche Problematik angebunden, vgl. jetzt Fotis Jannidis, Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Funktionsund Komponentenanalyse des Begriffs »Bildung« am Beispiel von Goethes »Dichtung und Wahrheit«, Tübingen 1996.

    Book  Google Scholar 

  16. Hans Schwerte, Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962, 94 ff.

    Google Scholar 

  17. Wilhelm Böhm, Faust der Nichtfaustische, Halle 1933, 2. Böhm gibt eine ausführliche Darstellung damals aktueller Deutungen.

    Google Scholar 

  18. Lessing, Werke (Anm. 12), V, München 1973, 73.

    Google Scholar 

  19. Hierzu z.B. Karl-Heinz Hucke, Figuren der Unruhe. Faustdichtungen, Tübingen 1992.

    Google Scholar 

  20. Einen Einblick gibt Jan-Dirk Müller, »Neue Altgermanistik«, JbDSG 39 (1995), 445–453. Vgl. ferner die Stellungnahme von Karl Stackmann, »Neue Philologie?« in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer Populären Epoche, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, 398–427. — Auch für die Neugermanistik sind vergleichbare Probleme unter dem Titel des ›Prozeßcharakters‹ literarischer Werke erörtert worden, vgl. etwa Gerhard Seidel, Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition, untersucht an poetischen Werken Brechts, Berlin 1970.

    Google Scholar 

  21. Einen Einblick von naiver Frische gewährt Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens, Frankfurt a.M. 1988: Er polemisiert etwas spät, doch heftig gegen Emil Staiger und die Interpretation, mißachtet souverän die ganze vorliegende interpretationskritische Forschungsdiskussion und empfiehlt als Novität — die Interpretation, nur eben nicht mehr für das breite Bildungsbürgertum, sondern für so etwas wie Jochen and his friends.

    Google Scholar 

  22. Harald Weinrich, »Drei Thesen von der Heiterkeit der Kunst«, Arcadia 3 (1968), 121–132.

    Article  Google Scholar 

  23. Vgl. hierzu jetzt: Martin Jurga (Hrsg.), Lindenstraße. Produktion und Rezeption einer Erfolgsserie, Opladen 1995.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Editor information

Renate von Heydebrand

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 1998 Springer-Verlag GmbH Deutschland

About this chapter

Cite this chapter

Eibl, K. (1998). Textkörper und Textbedeutung. Über die Aggregatszustände von Literatur, mit einigen Beispielen aus der Geschichte des Faust-Stoffes. In: von Heydebrand, R. (eds) Kanon Macht Kultur. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05564-4_4

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05564-4_4

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-01595-2

  • Online ISBN: 978-3-476-05564-4

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics