Zusammenfassung
Wenn je zwischen der deutschen Literaturwissenschaft und ihren westeuropäischen und amerikanischen Paralleldisziplinen eine unübersehbare Differenz zu konstatieren war, so ist es gegenwärtig. Zwischen den Fragen, welche die deutsche — und damit meine ich sowohl die westdeutsche als auch die ostdeutsche — Literaturwissenschaft beschäftigen, und den Problemen, mit denen sich zum Beispiel die amerikanische Kritik zur Zeit auseinandersetzt, bestehen nicht eben viele Gemeinsamkeiten. Während in der deutschen Germanistik Fragen der Geschichtlichkeit in den vergangenen Jahren eher an den Rand gedrängt worden sind, haben sie sowohl in England als auch in den USA an Dringlichkeit gewonnen und entsprechend das theoretische Feld neu markiert1. Nachdem die Rezeptionsästhetik als das letzte deutlich profilierte Paradigma in Deutschland unverkennbar an Einfluß verloren hat, zeichnen sich keine neuen Schulbildungen mehr ab, wenn man nicht den seit 1980 einsetzenden, aber sicher zunehmenden Einfluß des französischen Poststrukturalismus als eine auch generationsspezifische Form der Gruppenbildung bezeichnen will2. Doch gerade dieser, international gesehen, verspätete Einbruch der französischen Theorie hat die Reflektion über Literaturgeschichte, wie mir scheint, eher blockiert als gefördert. Da der Poststrukturalismus, und zwar nicht ohne Grund, als Kritik des Historismus, rezipiert wurde, bildeten sich problematische Fronten heraus: Die historisch orientierten Pragmatiker und die antihistorisch denkenden Theoretiker standen und stehen einander verständnislos gegenüber. Daß diese antihistorische Einstellung keinesfalls notwendig in der poststrukturalistischen Theorie angelegt ist, ist vor allem an der englischen und amerikanischen Diskussion abzulesen3.
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Literatur
Die Literatur zum Neo-Historismus ist inzwischen fast unübersehbar geworden. Einen kritischen Überblick bietet: Edward Pechter, The New Historicism and its Discontents, PMLA 102 (1987), S. 30ff. (mit Bibliographie); kritisch: Walter Cohen, Political Criticism of Shakespeare, in: Shakespeare Reproduced: the Text in History and Ideology, hg. Jean E. Howard und Marion F. O’Connor, New York/London, 1987, S. 33ff.
Vgl. Manfred Frank, Was ist Neo-Strukturalismus?, Frankfurt 1984; Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hg. Jürgen Fohrmann und Harro Müller, Frankfurt 1988.
Eine kritische Zusammenfassung der neueren Diskussion findet sich in: The New Historicism, hg. H. Aram Veeser, New York/London 1989.
Vgl. Peter Uwe Hohendahl, Bürgerlichkeit und Bürgertum als Problem der Literatursoziologie, German Quarterly 61 (1988), S. 264–283.
Vgl. Harro Müller, Einige Argumente für eine subjektdezentrierte Literaturgeschichtsschreibung, in: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Göttingen 1985, Bd. 11, S. 25–34, sowie die dort angegebene Literatur.
Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago/London 1980.
Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley/Los Angeles 1988.
Greenblatt, Negotiations, S. 7.
Ansätze zu einer solchen Theorie finden sich in: Greenblatt, Towards a Poetics of Culture, in: The New Historicism (Anm. 3), S. 14.
James Clifford, Introduction: Partial Truths, in: Writing Culture, hg. James Clifford und James E. Marcus, Berkeley/Los Angeles 1986, S. 7.
Das bekannteste Beispiel ist Clifford Geertz’ Aufsatz »Thick Description: Toward an Interpretative Theory of Culture« (in: Geertz, The Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 3–32) geworden, in dem Geertz sowohl kognitive als auch idealistische und behavioristische Kulturtheorien kritisiert.
Edward Said, Representing the Colonized, Critical Inquiry 15 (1989), S. 205–225.
Jonathan Dollimore, Radical Tragedy, Religion, Ideology and Power in the Drama of Shakespeare and his Contemporaries, Chicago 1984.
Louis Montrose, Renaissance Literary Studies and the Subject of History, English Literary Renaissance 16 (Winter 1986), S. 5–12.
Jean E. Howard, The New Historicism in Renaissance Studies. English Literary Renaissance 16 (Winter 1986), S. 13–43; Zitat S. 21.
Dollimore, Radical Tragedy, S. 14.
Dollimore, S. 161.
Edward Said, Orientalism, New York 1979.
Said, Orientalism, S. 2.
Said, Orientalism, S. 23.
Edward Said, Reflections on American »Left« Literary Criticism, in: Said, The World, the Text, and the Critic, Cambridge 1983, S. 158–177.
Siehe Anm. 20.
Said, Reflections (siehe Anm. 20), S. 169.
Geertz, The Interpretation of Cultures, S. 30.
Dazu vgl. Vincent P. Pecora, The Limits of Local Knowledge, in: The New Historicism (Anm. 3), S. 243–276.
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Hohendahl, P.U. (1990). Nach der Ideologiekritik: Überlegungen zu geschichtlicher Darstellung. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_8
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