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New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?

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Geschichte als Literatur

Zusammenfassung

Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft lautete der Titel eines einflußreichen Aufsatzes, den Eberhard Lämmert vor genau 20 Jahren, im Herbst 1969, in dem Bändchen Ansichten einer künftigen Germanistik veröffentlichte. Unter anderem plädierte er darin auch für eine interdisziplinäre Erweiterung der Germanistik auf eine Kulturwissenschaft hin, die neben der Philologie auch Geschichte, Soziologie und andere Disziplinen einzuschließen hätte.1 15 Jahre später, in seinem Eröffnungsvortrag beim Deutschen Germanistentag 1984, hat sich Lämmert noch emphatischer für eine neue kulturhistorische Funktionsbestimmung der Literaturwissenschaft ausgesprochen. Wenn man davon ausgeht, so schreibt er dort,

»daß die poetische Literatur mit Vorzug gerade diejenigen menschlichen Lebensbewandtnisse und -konflikte zu ihrem Thema macht, die weder von den staatlichen Instanzen noch auch von den institutionalisierten Wissenschaften schon versöhnt oder wenigstens geregelt sind, dann ist am Ende die Literaturwissenschaft vor anderen Disziplinen fähig, eine profunde Kulturgeschichte zu schreiben, in der für unsere Zeitgenossen die Herkunft ihrer heutigen Lebensverfassung samt ihren Nöten und unerfüllten Wünschen allgemeiner und besser sichtbar zu machen ist als mit der bloßen Beschreibung ihrer politischen oder wirtschaftlichen Geschichte.«2

Lämmerts jahrzehntelanges Interesse an dem politisch wie anthropologisch signifikanten Ineinanderwirken von Literatur, Kultur und Gesellschaft trifft sich in vieler Hinsicht mit den jüngsten Bestrebungen der amerikanischen Literaturwissenschaft, die in den letzten zehn Jahren unter Schlagworten wie »New Historicism«, »New Cultural History« oder »Cultural Poetics« zusammengefaßt wurden. Wenn im folgenden nun Theorie und Praxis dieser kulturgeschichtlich und interdisziplinär orientierten Richtung der Literaturgeschichtsschreibung vorgestellt werden sollen, dann nicht ohne ein leises Gefühl der Nachträglichkeit: Eberhard Lämmert (so scheint es) has already said it all.

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Literatur

  1. Eberhard Lämmert, Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft, in Jürgen Kolbe (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Germanistik, München: Hanser 1969, S. 79–104, hier: S. 92.

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  2. Eberhard Lämmert, Die Geisteswissenschaft in der Hochschulpolitik des letzten Jahrzehnts, in Georg Stötzel (Hrsg.), Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. 2. Teil, Berlin/New York: de Gruyter 1986, S. 1–23, hier: S. 20. (Meine Hervorhebung)

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  3. Remo Cesarani, Nuove Strategie rappresentative: La scuola di Berkeley, Belfagor 39/1984, S. 665–685.

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  13. Michel Foucault/Raymond Bellour, Über verschiedene Arten Geschichte zu schreiben (1967), in Adelbert Reif (Hrsg.), Antworten der Strukturalisten, Hamburg: Hoffmann und Campe 1973, S. 169. Obwohl die meisten Werke Foucaults seit langem in Übersetzung vorliegen, scheint die deutsche Rezeption Foucaults (verglichen etwa mit der amerikanischen) stark verspätet. Vgl. dazu Wolfgang Eßbach, Zum Eigensinn deutscher Foucault-Rezeption, Spuren 26/27, 1989, S. 40–44. Peter Sloterdijks früher Aufsatz Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte, Philosophisches Jahrbuch 79/1972, S. 161–184 und Claudia Honeggers Essay, Michel Foucault und die serielle Geschichte, Merkur 36/1982, S. 500–523, blieben ohne Einfluß. Vgl. auch Jürgen Fohrmann und Harro Müller (Hrsg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 und Friedrich Kittlers Studie Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1985, in der er Foucaults archäologisch-diskursanalytisches und Jacques Lacans psychoanalytisches Denken zu verbinden sucht. Siehe nun auch die scharfsinnige Kritik an Foucaults Diskurstheorie in Gerhart von Graevenitz, Mythos: Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart: Metzler 1987, bes. S. xxf.

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  14. Auch der Status des Autors verändert sich dadurch. Vgl. dazu schon Theodor W. Adorno, der 1941 in einer Diskussion zu einem Referat Leo Löwenthals über die Aufgaben der Literaturkritik bemerkte: »Der Künstler, der das Kunstwerk produziert, ist gar nicht das psychologische Subjekt, sondern ein gesellschaftliches Subjekt. Denn der Problemzusammenhang des Werkes tritt dem Künstler als ein objektiver gegenüber und darin setzen sich gesellschaftliche Forderungen durch. Analogie zum bürgerlichen Arbeitsprozeß, wo der Arbeitende auch nicht ein privates Subjekt ist. Das Werk muß als Ausdruck dieser Spannungsverhältnisse interpretiert werden.« Zit. in Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 12: Nachgelassene Schriften 1931–1949, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1985, S. 555.

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  15. Greenblatt, Shakespearean Negotiations, S. 5, — meine Übersetzung (wie auch in den folgenden englischsprachigen Zitaten). Eine deutsche Übersetzung von Greenblatts Shakespearean Negotiations ist beim Wagenbach Verlag Berlin in Vorbereitung.

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  17. Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, New York: Basic Books 1973, bes. Kapitel 1: »Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture«, S. 3–30. Dieses Kapitel findet sich auch in deutscher Übersetzung in einer Auswahl: Clifford Geertz, Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. Vgl. in dieser Tradition auch James Clifford und George E. Marcus (Hrsg.), Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley: University of California Press 1986.

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  19. Robert Venturi, der oft Vater der Postmoderne genannt wird, meint in seinem programmatischen Essay Nonstraightforward Architecture: A Gentle Manifesto, in R. V., Complexity and Contradiction in Architecture, New York: Museum of Modern Art 1985, S. 16: »Ich bevorzuge das »Sowohl-als-auch« gegenüber dem »Entweder-oder«, »schwarz und weiß und manchmal grau« gegenüber »schwarz oder weiß, […] ich bevorzuge ungeordnete (messy) Vitalität gegenüber offensichtlicher Einheitlichkeit.« Vgl. auch Wolfgang Welschs »Grundbild« einer radikalen »Pluralität« in der Postmoderne in W. W., Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1987.

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Kaes, A. (1990). New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_6

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